»
Russland »
»
»
Russland »
»

Rentenprotest am Gouverneurs-Wahltag in Russland: Hunderte von Festnahmen, die meisten in St. Petersburg

Rentenprotest Moskau 1.9.2018Am Wahltag kam es im gesamten Land zu Protesten gegen die Erhöhung des Rentenalters. Dabei nahm die Polizei nach Angaben der Organisation OWD-Info mehr als 1000 Demonstranten fest, knapp die Hälfte davon in St. Petersburg. Die »Reform« des Rentensystems ist ein lang gehegtes Vorhaben des liberalen Lagers unter Russlands Herrschenden. Bereits die erste Putin-Administration, von 2000 bis 2004 im Amt, verfolgte unter Wirtschaftsminister German Gref das Ziel, die Überreste des sowjetischen Sozialstaates (Gesundheitssystem, Rente, Bildung, soziale Leistungen und kommunale Infrastruktur) zu privatisieren. Als der sogenannte Gref-Plan jedoch auf massiven Widerstand in der Bevölkerung stieß, sah die Regierung – nicht zuletzt aufgrund des steigenden Ölpreises – davon ab. Seit dem Beginn der Wirtschaftskrise und den Sanktionen ist die Wirtschaftspolitik in Russland und vor allem deren liberale Ausrichtung deutlich umkämpfter. Dennoch scheint der Einfluss des wirtschaftsliberalen Lagers auf die Regierungspolitik seit den Präsidentschaftswahlen im März dieses Jahres wieder gestiegen zu sein. Der neue Finanzminister, Anton Siluanow, gilt als Zögling des bekannten Ökonom und langjährigen Finanzministers Aleksej Kudrin, einer der Wortführer des ökonomischen Liberalismus in Russland…“ – aus dem Beitrag „Keine Wahlgeschenke in Russland“ von Felix Jaitner am 11. September 2018 in neues deutschland externer Link, der im Weiteren die aktuellen Proteste mit jenen des Jahres 2004 vergleicht, die als wesentlich stärker bewertet werden. Zur Rentenreform in Russland zwei Hintergrundbeiträge und der Verweis auf den bisher letzten unserer Berichte zum Thema:

  • „»Teil einer neoliberalen Strategie«“ am 06. August 2018 in neues deutschland externer Link war ein Gespräch von Svenja Huck mit dem Ökonomen Aleksander Busgalin, in dem der Herausgeber des unabhängigen linken Magazins »Alternativy« unter anderem ausführte: „Nachdem Wladimir Putin als Präsident wiedergewählt wurde, entschied die Regierung, die Reformen während der WM durchzusetzen. Man dachte, dieses Event liefere eine gute Atmosphäre, um die Leute von anti-sozialen Maßnahmen abzulenken. Aber das war ein Fehler und hat viele Menschen wütend gemacht. Diese sozialen Angriffe sind Teil einer neoliberalen Strategie, die seit der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise 2007 nicht nur in Russland durchgeführt wird. Die Regierung ist nicht gewillt, das Vermögen der Oligarchen anzutasten. Viele Ökonomen in Russland, einschließlich mir, sind der Ansicht, dass wir genug Geld hätten, um die Renten zu zahlen. (…) Die Regierung hat die Reform nicht allein gemacht, sondern in Abstimmung mit der Regierungspartei »Vereinigtes Russland« und Putin. Ohne seine Zustimmung würde sich die Regierung nie radikal äußern. Putin, Medwejew und Kudrin arbeiten von Beginn an mit den Neoliberalen zusammen. Deshalb sollte man die Situation nicht politologisch, sondern marxistisch erklären: Die Herrscher über das wirtschaftliche, soziale und politische Leben in Russland – die Manager und Oligarchen – sind gut integriert in die staatliche Bürokratie. Die politischen Akteure sind Repräsentanten dieser sozialen Kraft…“
  • „Widerstand gegen die neoliberale Rentenreform in Russland“  von Anna Očkina in der Ausgabe Juli 2018 der Zeitschrift Luxemburg externer Link zum Charakter und Träger von Protesten gegen die Rentenreform: „Aber sogar die der Staatsmacht nahestehende Föderation unabhängiger Gewerkschaften Russlands (FNPR) kritisierte das Projekt scharf und führte im ganzen Lande eine Reihe von Protestveranstaltungen durch. Dabei handelt es sich um die Nachfolgeorganisation der sowjetischen Gewerkschaften mit 122 Mitgliedsorganisationen. Davon sind 40 landesweite und 82 regionale Gewerkschaften. Vier weitere auf föderaler Ebene tätige Gewerkschaften arbeiten mit der FNPR auf vertraglicher Grundlage zusammen. Die Organisation vereinigt mit 20 Millionen Mitgliedern etwa 95 Prozent aller Gewerkschafter*innen in Russland. Die Mehrzahl von ihnen ist allerdings passiv, sie geraten quasi automatisch in die Gewerkschaft, weil die Gewerkschaftszellen der FNPR in der überwiegenden Zahl der staatlichen Betriebe die einzigen derartigen Strukturen sind. Umso überraschender ist der sich jetzt regende Widerstand. Die hinsichtlich der Mitgliederzahl zweitgrößte Gewerkschaft, die „Konföderation der Arbeit Russlands“ (KTR) sammelte innerhalb weniger Tage mehr als zweieinhalb Millionen Unterschriften unter eine Petition gegen die Rentenreform, und die Zahl der Unterschriften wächst weiter. Am 5. Juli übergaben die Führer und Mitarbeiter*innen der KTR mithilfe von Abgeordneten der Partei „Gerechtes Russland“ die Unterschriften in der Staatsduma. Die Petition wandte sich an den Präsidenten der Russischen Föderation Wladimir Putin, an den Ministerpräsidenten Dimitri Medwedew, die Vorsitzende des Föderationsrates Valentina Matvienko und den Sprecher der Duma Vjačeslav Volodin. Aber schon am 6. Juli sagte Sergej Vostrecov, Führer einer anderen Gewerkschaftsvereinigung, der „SOCPROF“, Mitglied der Duma und des Dumaausschusses für Arbeit, Sozialpolitik und Angelegenheiten älterer Menschen der Presse, dass einige Gewerkschaften, die sich bisher gegen die Reform ausgesprochen hatten, jetzt beginnen ihre Position zu verändern, weil sie sich mit der Sache befasst hätten und verstehen, dass man zu einer Konsolidierung übergehen müsse. Die unversöhnliche Position der KTR und ihres Führers Boris Kravčenko erklärte Kostrecov damit, das sie auch aus dem Ausland finanziert werde…“
Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=137319
nach oben