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Viele RussInnen verlieren wegen internationaler Sanktionen ihre Arbeit oder Einkommen – und wehren sich bereits

Dossier

Hungerstreik in Moskauer Pizzeriakette für Lohnauszahlung und Mindestlohn im Februar 2017Der Krieg in der Ukraine trifft nicht nur die Ukrainer. Die internationalen Sanktionen wegen des Ukraine-Krieges treffen auch Russen hart. Vor allem die junge Generation leidet unter der Perspektivlosigkeit. (…) Die Sanktionen betreffen viele Bereiche: vom Finanzsektor bis zum Export von Metallprodukten, vom Lieferverbot für Drohnen bis zur Sperrung des deutschen Luftraums für russische Flugzeuge. Der Westen verbot auch den Verkauf, die Lieferung oder den Transfer von Flugzeugen und Ersatzteilen nach Russland. (…) Viele Russen haben ihre Arbeit verloren und finden kurzfristig keine neue, weil die Nachfrage nach allen Fachkräften sinkt. „Bald wird es Branchen treffen, die für die Produktion Teile aus dem Ausland brauchen: zum Beispiel die Automobilbranche, die Pharmaindustrie und die Landwirtschaft, weil Saatgut auch im Ausland gekauft wird.“ Unternehmen werden schließen und Mitarbeiter entlassen müssen. „Die Gesamtbevölkerung wird ärmer werden.“…“ Beitrag von Irina Chevtaeva vom 23.05.2022 beim Migazin externer Link und dazu:

  • Wirtschaft und Krieg: Wie Arbeiter:innen in Automobil- und Schiffsbau, Einzelhandel und Gesundheitssystem in Russland mit der Krise umgehenNew
    • Großindustrien wie Automobil- und Schiffsbau sind wirtschaftlich stark getroffen
      „Vor dem Krieg wurden in der russischen Großindustrie zwar nicht üppige, aber »weiße« (legale) und verlässliche Löhne gezahlt, was den Arbeiter*innen ein im Großen und Ganzen erträgliches Leben ermöglichte. Sanktionen, unterbrochene Lieferketten und andere wirtschaftliche Folgen des Krieges haben die Industrie jedoch hart getroffen. Zu den am stärksten betroffenen Sektoren gehört die Autoindustrie. Ihre Abhängigkeit von ausländischem (vor allem westlichem) Kapital, Technologie und Komponenten hat bereits in den ersten Monaten der »Spezialoperation« zu einer tiefen Krise geführt. Nach Rosstat-Daten vom August ist die PKW-Jahresproduktion um 70 Prozent geschrumpft. Autofabriken, die sich im Besitz transnationaler Konzerne befinden, wurden geschlossen oder die Produktion auf unbestimmte Zeit ausgesetzt, die Folge für die Arbeiter*innen sind endlose, nur teilweise bezahlte Ausfallzeiten. Tausende Autoarbeiter*innen, die bis vor kurzem noch als relativ wohlhabender Teil der Arbeiter*innenklasse galten, müssen nun den Gürtel enger schnallen. »Sankt Petersburg hat nach dem 24. Februar sehr gelitten. Die lokale Autoindustrie, die hauptsächlich aus ausländischen Unternehmen besteht, ist fast zerstört. Toyota hat geschlossen, Nissan und Hyundai stehen still. Die Arbeiter bekommen seit Februar nur noch zwei Drittel ihrer Löhne (von etwa 50–60.000 Rubel pro Monat). Alle, mit denen wir gesprochen haben, beklagen sich über die Preise; alle stehen unter dem Druck von Krediten«, sagt Mikhail (Name auf Wunsch geändert), ein Koordinator eines überregionalen gewerkschaftlichen Aktivist*innennetzwerks. Die bislang versteckte Arbeitslosigkeit könnte bald sichtbar werden. Angesichts des zunehmend blutigen und langwierigen Krieges werden ausländische Konzerne die Autoproduktion nicht wieder aufnehmen. Wie ist die Lage in anderen Großunternehmen, die auf importierte Komponenten angewiesen sind, zum Beispiel im Schiffbau? »In den ersten drei Monaten nach Februar hat die Geschäftsführung der Petersburger Werften Arbeitsplätze abgebaut, wenn auch in geringem Umfang. Einige internationale Projekte, wie die Produktion von Fischereischiffen für die Norweger auf der Admiralitätswerft, wurden eingestellt. Es stellte sich heraus, dass viele Komponenten und ein Großteil der Ausrüstung importiert werden mussten: Schweißmaschinen, Kabelkanäle, Kabelbündel. Sie sind nicht leicht zu ersetzen«, erklärt Mikhail. Die hastige Substitution zuvor importierter Teile wirkt sich auf die oft leistungsabhängigen Gehälter der Schiffsbauer aus und macht ihre Arbeit gefährlicher. »Früher hatten wir eine importierte Schweißmaschine, die mit absoluter Präzision arbeitete. Jetzt verwenden wir eine Maschine aus dem Ural, die eine Menge Fehler produziert. (…) Aufträge werden nicht rechtzeitig fertig. Auf der Admiralitätswerft hat kürzlich ein Schiff Feuer gefangen. Unseren Quellen zufolge war brennbarer Klebstoff die Ursache. Zuvor wurde importierter Leim verwendet, der nicht brennbar war«, so ein Gewerkschafter…“ Artikel von Azamat Ismailov vom 15. November 2022 auf Analyse & Kritik externer Link in der Übersetzung von Jan Ole Arps (»Die Bürokraten sind die neuen Könige«). Azamat Ismailov ist Journalist, unter anderem für das russische Exilmedium Posle. Er schreibt unter Pseudonym. Der Artikel erschien am 19. Oktober engl. auf Posle externer Link, er ist der erste einer mehrteiligen Reihe über Arbeitsrechte im Krieg. Für den Nachdruck in ak wurde er gekürzt.
    • Arbeit im Einzelhandel: Wenn IKEA, H&M und Co. abwandern
      „Der Handel nimmt in der russischen Wirtschaft einen sehr wichtigen Platz ein: 15 Prozent des Bruttoinlandsprodukts und 10 Prozent der Steuereinnahmen fließen in die Staatskasse, und rund 13 Millionen Menschen sind im Handelssektor beschäftigt. Von großen Einkaufszentren bis hin zu kleinen Outlets, von spezialisierten Geschäften bis hin zu gewöhnlichen Läden – Arbeitsende im Handel sind in Russland allgegenwärtig. In den russischen Regionen sind bis zu 25 Prozent der Arbeitsplätze im Handel angesiedelt. Allerdings ist diese Art von Arbeit nicht sehr prestigeträchtig, es sei denn, es handelt sich um leitende Positionen. Nach Angaben von Artyom Kumpel, dem Geschäftsführer von Avito Jobs, liegt das Durchschnittsgehalt eines Verkäufers in Russland bei nur 30.000 Rubel (weniger als 500 €). Während ein Verkäufer in Moskau 45.000 oder mehr verdienen kann, gelten in manchen Regionen magere 15.000 als normales Einkommen. Als der russisch-ukrainische Krieg am 24. Februar in vollem Umfang ausbrach, verhängten die westlichen Länder schnell Sanktionen, die unter anderem darauf abzielten, den Handel mit dem Aggressorstaat einzuschränken. Große Marken und Unternehmen kündigten an, Russland zu verlassen und ihre Läden zu schließen, und es wurde erwartet, dass der Außen- und Innenhandel aufgrund von logistischen Problemen zurückgehen würde. Zahlreiche westliche Unternehmen, von denen viele im Handel tätig sind, haben Russland verlassen, ihre Geschäfte in dem Land eingeschränkt oder zumindest angekündigt, dass sie das Land verlassen werden. Dazu gehören, um nur einige zu nennen, H&M (mit über 150 Filialen in Russland), IKEA, Inditex (zu dem Zara, Bershka, Massimo Dutti und andere Marken gehören), Adidas, Decathlon, Puma, Rolex, Swarovski; auch Autohersteller haben ihre Geschäfte geschlossen. Viele Tech-Markenläden schlossen, nachdem sich die Hersteller aus dem Markt zurückgezogen hatten (obwohl sich die Verkäufe dank des so genannten Parallelimports teilweise erholt haben). Zahlreiche Experten haben einen Anstieg der Arbeitslosigkeit in verschiedenen Sektoren, einschließlich des Handels, vorausgesagt. All diese Maßnahmen sollten dem russischen Regime Einnahmen entziehen, die für die Fortsetzung des Krieges verwendet werden sollten, und gleichzeitig der Bevölkerung die schädlichen Folgen solch leichtsinniger militärischer Spielchen vor Augen führen. (…)
      Nach Kriegsbeginn, als die ersten Sanktionen eingeführt wurden und westliche Unternehmen begannen, das Land zu verlassen, erwarteten viele – in der Hoffnung oder in Panik – einen dramatischen Einbruch der russischen Wirtschaft, ein schnelles Ansteigen der Inflation, Rohstoffknappheit und einen Rückgang der Kaufkraft. Im neunten Monat des Krieges ist nichts von alledem in dem Maße eingetreten, wie es vorhergesagt wurde. Die kaufmännischen Arbeitenden, die bereits an Entbehrungen und Ungewissheit gewöhnt sind, bestehen darauf, dass der Krieg und die Einberufung keine großen Auswirkungen auf ihre Situation haben. Es ist jedoch klar, dass sich Veränderungen vollziehen, wenn auch langsam. Jeder muss sich neuen Herausforderungen stellen, denn die Arbeit wird schwieriger, die Gewinne schrumpfen und die Unternehmer sparen am Personal, wo es nur geht. Der offensichtliche Anstieg von Ängsten und Depressionen trägt ebenso wenig zu einer Steigerung der Produktivität bei wie die gespaltene Meinung der Gesellschaft über den Krieg. Auch wenn die Arbeitslosigkeit bisher durch die Massenauswanderung und die „partielle Einberufung“ eingedämmt wurde, können diese Effekte nur vorübergehend sein.“ engl. Artikel von Konstantin Kharitonov vom 27. November 2022 auf Posle externer Link („“We Have Already Had Hard Times.” How War and Mobilization Have Affected the Lives of Retail Sales Workers“)
    • Das System blutet aus: Arbeiten im russischen Gesundheitssektor unter den Vorzeichen des Krieges
      „… In den Augen vieler Arbeitenden im Gesundheitswesen ist der Krieg eine weitere Etappe der katastrophalen Reform, die als „Optimierungspolitik“ bekannt ist. Die Mobilisierung und eine neue Welle von Sparmaßnahmen könnten den Massenexodus von medizinischen Fachkräften aus der Medizin und aus Russland insgesamt auslösen. (…) Anfang der zwanziger Jahre sah sich die russische Medizin aufgrund der neoliberalen Reform, die als „Optimierungspolitik“ bekannt ist, mit einem akuten Mangel an Personal, Kliniken und Ausrüstung konfrontiert. Ein Jahrzehnt lang haben die Behörden konsequent „ineffiziente“ (d.h. zu teure) Gesundheitseinrichtungen geschlossen, die meist mit der medizinischen Grundversorgung zu tun hatten: Ambulanzen und Tageskliniken, örtliche Krankenstationen und so weiter. Besonders hart traf es den ländlichen Raum, denn anders als in den Städten waren die Proteste der Anwohner:innen nicht weit verbreitet und wurden von den Bundesmedien kaum beachtet. Infolgedessen wurden in den 2010er Jahren etwa tausend Krankenhäuser in Russland geschlossen, ihre Gesamtzahl entsprach der von 1932. Im Jahr 2017 gab es im Land nur noch halb so viele Krankenhausbetten wie im Jahr 1990. Im Gegenzug versprachen die Behörden, die Mittel für große modernisierte Kliniken aufzustocken und die beklagenswerte finanzielle Situation der medizinischen Arbeitenden zu beenden. Im Jahr 2012 garantierten Wladimir Putins berüchtigte Mai-Dekrete, den regionalen Durchschnitt der Arztgehälter um das Dreifache zu erhöhen und die Gehälter von Krankenpfleger:innen, Sanitäter:innen und anderen zu verdoppeln. Doch der Sozialpopulismus verwandelte sich in die übliche bürokratische Augenwischerei. Da die medizinischen Einrichtungen kein Geld für die Umsetzung der Dekrete erhielten, führte das Streben nach einer Gehaltserhöhung „auf Pump“ zu schleichenden Entlassungen und zur Überausbeutung der medizinischen Arbeitenden. Um das „Putin-Gehalt“ zu erhalten, war die Mehrheit der Ärzte gezwungen, anderthalb oder zwei Schichten zu übernehmen, was zu anstrengenden Überstunden führte. Die Situation des mittleren und jüngeren medizinischen Personals – Krankenpfleger:innen, Sanitäter:innen, Krankenhauspfleger:innen und andere – war noch schlimmer. An manchen Orten wurden sie einfach „als Klasse eliminiert“. „Die Mai-Dekrete inszenierten einen ‚Völkermord‘ an mittlerem und jungem medizinischem Personal [Anm.]. Zwischen 2013 und 2019 sank die Zahl des mittleren Personals um 128.000 Personen, von 1,44 auf 1,31 Millionen, und die der Nachwuchskräfte um 421.000, von 687 auf 266 Tausend]. In einigen Krankenhäusern gibt es überhaupt keine Krankenpfleger:innen, und die Krankenpfleger:innen werden als Reinigungskräfte geführt“, sagt Dmitry (Name geändert), ein gewerkschaftlicher Aktivist im Gesundheitswesen, der anonym bleiben möchte. Auch die Zahl der Ärzte ist rückläufig, wenn auch langsamer. Im Jahr 2013 gab es 579.000 Ärztinnen und Ärzte (41 pro 10.000 Einwohner), während ihre Zahl 2019 auf 565.000 (38,5 pro 10.000) sinken dürfte. Aus diesem Grund schlugen Experten in der Anfangsphase der Optimierungspolitik Alarm wegen des Fachkräftemangels, der in einigen Regionen bis zu 50 % betrug. Zehn Jahre nach den Mai-Dekreten leidet die Gesundheitsversorgung unter denselben Krankheiten wie vor den Dekreten, oft sogar in einer noch schwereren Form. (…) Da es den Arbeitenden im Gesundheitswesen verboten ist zu streiken, griffen sie häufig zu Arbeitsniederlegungen (wenn die pedantische Befolgung von Anweisungen die Arbeit zum Erliegen bringt) und schlossen sich freien Gewerkschaften an, die nicht zum offiziellen Gewerkschaftsdachverband der FNPR (Föderation Unabhängiger Gewerkschaften Russlands) gehören: die Aktion (Deystwije) und die Allianz der Ärzte (Aljans Wrachej). (…)
      Im Juni [2022] hat die Regierung alle Covid-Unterstützungsmaßnahmen für medizinische Arbeitende vorzeitig gestrichen. Sie wurden durch eine 25%ige Gehaltserhöhung für gefährliche Arbeitsbedingungen ersetzt. Da die Gehälter im Gesundheitswesen oft unter dem Mindestlohn liegen, bedeutet dieser „Ersatz“ einfach die Abschaffung von Garantien, während die Situation mit Covid nach offiziellen Angaben „angespannt bleibt“. (…) Die Streichung der „Covid-Zahlungen“ traf die große Mehrheit der Ärztinnen und Ärzte hart: 70 % der von der Zeitschrift Medical Herald (Meditsinsky Vestnik) befragten Ärztinnen und Ärzte rechneten mit Gehaltseinbußen von 20-30 %, weitere 8 % mit 50-60 %. (…) Zunächst hatte der Krieg kaum Auswirkungen auf die medizinischen Fachkräfte. Die zivilen Krankenhäuser behandelten keine Verwundeten, und die Unterbrechungen bei der Versorgung mit importierten Medikamenten oder medizinischer Ausrüstung waren nicht gravierender als sonst. Der 24. Februar spaltete die im Gesundheitswesen Arbeitenden, wie den Rest der russischen Gesellschaft, in eine Mehrheit, die die „Sonderoperation“ passiv billigte, und eine Minderheit von „Superpatrioten“ und Kriegsgegnern. „Einige Leute sprechen sich natürlich für den Krieg aus, vor allem wenn sie nicht in Gefahr sind. Es gibt eine gewisse Anzahl von Menschen, die sich gegen den Krieg aussprechen, aber sie tun das eher im Stillen, weil sie wissen, wie der Wind weht. Hier ist der Hauptarbeitgeber der Staat. Im Laufe der Jahrzehnte, in denen die Menschen in diesem System arbeiten, haben sie erkannt, dass sie hier Sklaven sind“, sagt der Anästhesist. (…) Nikolay zufolge werden sich die russischen Ärztinnen und Ärzte an den Krieg anpassen, so wie sie sich auch an andere Krisen angepasst haben. Aber die unvermeidliche Verschlechterung der Arbeitsbedingungen und die geringeren finanziellen Mittel werden viele von ihnen dazu zwingen, den Beruf früher oder später aufzugeben oder auszuwandern. „Keiner will Zeit und Geld für diesen ganzen Mist verschwenden“, schließt der Arzt.“ engl. Artikel von Azamat Ismailov vom 20. November 2022 auf Posle externer Link („“The Damage of Mobilization Hasn’t So Far Outdone the ‘Optimization’ and Underfunding.” Healthcare in Time of War“)
  • Kolleg:innen im russischen Bildungssektor weigerten sich Gehaltsanteile für Krieg zu „spenden“ und verzichten dafür auf hohe Prämien – der „freiwillige“ Lohnraub kam trotzdem
    • „Es ist wichtig, sich an die Taktik der Ungehorsamkeit zu halten. Diese Geschichte über ihren Widerstand innerhalb des Systems wurde uns von einem Abonnenten mitgeteilt, der als Kinderpsychologe in einer staatlichen Einrichtung arbeitet. „Ich bin Psychologe in einer städtischen Bildungseinrichtung. Ich arbeite mit Vorschulkindern und ich liebe meinen Job. Als diese schreckliche Geschichte begann, habe ich angefangen, die Mitarbeiter:innen zu informieren. Natürlich habe ich noch viel mehr Gegner:innen, aber ich habe auch Unterstützende. Es beleidigt mich, wenn ich höre, dass Erzieherinnen und Erzieher in Russland gemeine, prinzipienlose Menschen sind, die den Krieg und das Diktaturregime unterstützen. Meine Mutter ist wegen des Krieges in den Ruhestand gegangen, obwohl sie vorher arbeiten wollte, sie ist Grundschullehrerin. Ich konnte meine Kinder nicht über den Krieg und seine Anstifter anlügen… Ich bin auch in der Defensive, so gut ich kann. In solchen Situationen ist es sehr wichtig, sich an die Taktik der Aufsässigkeit zu halten. Und so erhielt ich heute von meinen Vorgesetzten die Anweisung, eine Erklärung zu schreiben, dass ich freiwillig (!) einen Tag meines Gehalts an eine Wohltätigkeitsorganisation für Kriegsveteranen (eine lokale Kosakenorganisation) spende. Ich wohne in der Stadt Lyubertsy und die Richtlinie wurde für unseren gesamten Stadtbezirk erlassen, für alle Organisationen. Andernfalls drohten sie damit, die Prämienzahlungen zurückzuhalten. Nur damit du es verstehst: Für Lehrerinnen und Lehrer bedeutet das etwa die Hälfte ihres Gehalts. Aber ich habe mich trotzdem geweigert“ Telegram-Post vom 12. Oktober 2022 externer Link (russ. Maschinenübersetzung)
    • Tag der gemeinnützigen Arbeit: Wie den Beschäftigten im Bildungswesen die Gehälter weggenommen werden
      „Unsere Abonnentin hat uns bereits ihre Empörung über den Versuch mitgeteilt, Lehrkräften einen Teil ihres Lohns (der einem Arbeitstag entspricht) zugunsten von Veteranen und Kriegsversehrten zu entziehen. Später bekamen wir ein Dokument, demzufolge der Bezirk Lyubertsy einen Befehl zur Organisation eines sogenannten „Charity Work Day“ erteilte. Es ist unwahrscheinlich, dass die Verwaltung erkennt, dass Wohltätigkeit eine rein persönliche Angelegenheit ist und einer ihrer Grundsätze die Freiwilligkeit ist. Wie so oft erwies sich auch diese Sammlung als „zwangsweise-freiwillig“. Das hat uns unsere Abonnentin im Anschluss an den Artikel geschrieben: „Nachdem ich empört war, begannen Diskussionen im Team und es stellte sich heraus, dass mehrere andere Beschäftigte, auch aus der Verwaltung, ebenfalls gegen das Vorgehen der Lyubertsy-Verwaltung protestierten. Und so wurde ich nach all dem vom Leiter der Einrichtung vorgeladen. Ich war auf alles vorbereitet: Geschrei, Drohungen mit Entlassung… Aber sie sagte einfach: „Ich kenne und teile deinen Standpunkt. Ich verstehe, dass du bereit bist, deine Boni aufzugeben. Aber die Sache ist die: Die Buchhaltung hat dieses Geld sowieso schon von allen Gehältern abgezogen, weil es eine Richtlinie gibt. Wenn es aber nicht eine einzige Unterschrift auf den Anträgen für freiwillige Wohltätigkeit gibt, erhält die gesamte Belegschaft der Einrichtung keine Bonuszahlungen, und auch diese werden für wohltätige Zwecke gespendet. Ich habe aufgegeben, als mir klar wurde, dass die [Kolleg:innen] aufgrund meiner Position ohne Lohn dastehen würden (und viele von ihnen ziehen allein Kinder groß).
      Wir sind empört darüber, dass die Beschäftigten des Bildungssektors nicht nur keine angemessenen Löhne erhalten. Gleichzeitig können sich die Verwaltungen der Institutionen hinter falschen Begriffen von „Wohltätigkeit“ verstecken oder sie erpressen, damit sie ihre Boni zurückziehen. Wenn du solche Situationen bei der Arbeit erlebt hast, denke daran, dass sie illegal sind. Du kannst dich jederzeit von Anti-Fund beraten lassen und deine Rechte am Arbeitsplatz verteidigen. Es ist kostenlos und anonym!“ Telegram-Post von Feminists against War vom 17. Oktober 2022 externer Link (russ. Maschinenübersetzung)
  • Proteste der Krankenwagenfahrer:innen in Moskau & Arbeiter:innen protestieren gegen IKEA Auszug aus Russland und Entlassungswelle von 15.000 Kolleg:innen
    • „Krankentransporte: „Es ist fast anderthalb Mal billiger als ein Schawarma“ – Moskauer Krankenwagenfahrer:innen protestierten gegen niedrige Löhne – sie erhalten nur etwas mehr als hundert Rubel pro Stunde. Mehr als 200 Krankenwagenfahrer appellierten an den Präsidenten der Konföderation der Arbeit Russlands (einer Organisation, die sich für den Schutz der Arbeitnehmerrechte einsetzt), ihre Löhne zu erhöhen. Nach ihren eigenen Angaben verdienen sie weniger als Taxifahrer:innen, Kuriere und sogar Hausmeister:innen – schließlich beträgt der Stundenlohn eines Fahrers bei Mosavtosantrans nur 104 Rubel. Für dieses Geld kann man sich nicht einmal ein Schawarma leisten. Das höchstmögliche Gehalt für einen Fahrer der Klasse 1 mit der maximalen Erfahrung beträgt 42.300 Rubel. Die Fahrer:innen haben sich bereits bei der Gesundheitsbehörde der Stadt Moskau beschwert, wo man ihnen mitteilte, dass der Durchschnittslohn über 65.000 Rubel beträgt. Den Arbeiter:innen zufolge umfasst dieser ‚Durchschnittsbetrag‘ das Gehalt der Chefs und die Bezahlung der Überstunden.“ Telegram-Post von Russland Protest, vom 28. Juni 2022 externer Link (russ. – Maschinenübersetzung).
    • Arbeiter:innen protestieren gegen IKEA Auszug aus Russland und Entlassungswelle von 15.000 Kolleg:innen
      Die „IKEA-Gewerkschaft fordert Kolleg:innen auf, den Druck der Unternehmensleitung zu melden, wenn sie über eine Entlassung sprechen: Am 14. Juni gab IKEA bekannt, dass das Unternehmen Russland endgültig verlässt. Nach dieser Ankündigung begannen die Betriebs- und Geschäftsleitungen, den Beschäftigten eine einvernehmliche Entlassung anzubieten. Die Gewerkschaftsvertreter:innen sind mit dieser Option nicht zufrieden. Sie sind der Meinung, dass das Unternehmen in einem solchen Fall 3 bis 5 der versprochenen sieben Gehälter nach russischem Arbeitsrecht zahlen würde. Die IKEA-Gewerkschaft rief die Beschäftigten auf, sich nicht auf individuelle Kündigungsgespräche einzulassen, ‚nichts zu unterschreiben‘ und sich im Falle von Druck seitens der Geschäftsleitung an die Organisation zu wenden, um ihre Arbeitsrechte zu schützen. Die Gewerkschaftsvertreter:innen haben bei den höchsten Behörden einen Antrag auf Verstaatlichung des Unternehmens gestellt, um 15.000 Arbeitsplätze zu retten.“ Telegram Post von Wahrheit Live, vom 27. Juni 2022 externer Link (russ. – Maschinenübersetzung).
  • Ausstehende Löhne und verschlechterte Arbeitsbedingungen führen zu Streiks und Massenkündigungen – begleitet durch Sabotagen und Protesten gegen Waldrodungen
    „Ein Überblick über interessante Veranstaltungen für den 25. und 26. Juni: Transport: Zusatz zum entgleisten Zug bei Pskov am 24. [Juni 2022] Der Ort der Entgleisung wurde von Militär und FSB abgesperrt (…). Es war kein gewöhnlicher Zug. Er hatte Munition dabei, hat sie aber nicht geliefert (…) Im Bezirk Vetluzhskiy brannte eine Palettenfabrik nieder. Das klingt unscheinbar, aber die Unterbrechung der Palettenproduktion könnte spürbare Auswirkungen auf andere Branchen haben. Kämpfe am Arbeitsplatz: 12) Erzieher:innen in Dzerzhinsk kündigen massenweise aus Protest gegen die Arbeitsbedingungen. Sogar die Schulleiterin machte mit. (…) Es stellt sich heraus, dass seit dem 27. Mai [2022] ein Streik der Stadionbauarbeiter:innen in Sovetsk stattfindet. (…) In Belgorod haben die Trolleybusfahrer eine Gewerkschaft gegründet, um gegen Massenentlassungen im Zuge der Abschaffung des Trolleybusnetzes zu kämpfen. (…) Spontane Streiks und Boykott des Delivery Club. (…) Proteste: (…) In der Nähe von Syktyvkar blockierten Einheimische eine Straße und hielten das Auto eines Beamten an, der gegen die Abholzung protestierte. Das ist ziemlich mächtig. (…) Die Verteidigung des Waldes von Bittsevo ist sehr aktiv. Dort kommt es auch zu Zusammenstößen mit angeheuerten Sicherheitsleuten. Es ist ein ernster Kampf. (…) Aktivisten verteidigen auch den Troitskiy-Wald. (…) Proteste gegen die Abholzung der Wälder in Tscheljabinsk. Lokale Umweltproteste haben ein großes Potenzial. Erinnern Sie sich an die Massenbewegungen gegen Mülldeponien in den vergangenen Jahren…“ Telegram-Post der Antikriegs-Stiftung vom 26. Juni 2022 externer Link (russ. – Maschinenübersetzung) und zuvor:

    • „… Der Streik in der Ural-Kompressoranlage geht weiter. Einige Arbeiter:innen kündigten, weil sie die Hoffnung verloren hatten. Bemerkenswerterweise rechtfertigt der Direktor selbst die Situation mit dem Krieg und fordert, dass die Arbeiter:innen weiter für die Idee arbeiten, wie ‚die Großväter während des Zweiten Weltkriegs‘. Er sagt, der staatliche Schutzauftrag scheitert :) Die übrigen haben dagegen ein Strafverfahren gegen die Geschäftsführung und die Zahlung eines Teils der Schulden erwirkt (…) Ein Mann verbrannte das Auto seines ehemaligen Chefs, weil er seinen Lohn nicht gezahlt hatte (…) Lehrer:innen kündigen in Dzerzhinsk aus Protest gegen die Arbeitsbedingungen. (…) Ambulanzärzte protestieren gegen niedrige Löhne in Moskau. (…) Vier Vertragsbedienstete sind aus einer Militäreinheit in der Nähe von Belgorod geflohen. (…) Proteste: Anwohner:innen verteidigen den Wald von Bittsevsky vor der Abholzung. (…) Auch die Menschen verteidigen den Wald in Tscheljabinsk.“ Telegram-Post von der Antikriegs-Stiftung vom 24. Juni 2022 externer Link (russ. – Maschinenübersetzung)
    • Für die Sabotage-Aktionen siehe auch unser Dossier: Njet zum Krieg – das sagen in Russland nicht nur klassische Oppositionelle
  • Sanktionen gegen Putin: «Wir sollten der russischen Bevölkerung die Hand reichen» 
    Am Weltwirtschaftsforum in Davos dominierte der Ruf nach härteren Sanktionen gegen Russland. Kenneth Roth, Chef von Human Rights Watch, warnt davor, das ganze Land ins Visier zu nehmen. (…) Es ist zweifellos richtig, hochrangige Kremlbeamte oder Militäroffiziere ins Visier zu nehmen, um Sie von Ihrer Invasion der Ukraine abzubringen. Solche gezielten Sanktionen haben eine ganz klare Absicht. Ich beobachte derzeit jedoch eine Verschiebung in der Rhetorik und teilweise auch in der Praxis: Zunehmend wird die gesamte russische Bevölkerung als Feind behandelt. Und das ist ein riesiger Fehler. (…)  Die Menschen in Russland sollten als potenzielle Alliierte betrachtet werden. (…) Wenn die Sanktionen die ganze Bevölkerung als Feind behandeln, werden sie sich hinter die russische Flagge stellen. (…) Ich will mich nicht zu einzelnen Firmen äussern. Aber eine Firma, die nur Konsumgüter in Russland verkauft, bestraft durch ihren Abzug lediglich die russische Bevölkerung. Befürworter solcher Rückzüge glauben, dass damit die Bevölkerung dazu bewogen wird, sich gegen den Krieg zu stellen. Es bewirkt jedoch eher das Gegenteil: Die Bevölkerung wird sich angegriffen fühlen. Der Westen muss auf den Kreml zielen und gleichzeitig der russischen Bevölkerung die Hand reichen…“ Interview von Yves Wegelin in der WoZ vom vom 02.06.2022 externer Link
  • Russlands ökonomische Krise trifft auch zentralasiatische Arbeitsmigranten: Exploitation oder Exodus 
    „… Seit Russlands Angriff auf die Ukraine kriselt die Wirtschaft des Landes. Zahlreiche internationale Firmen haben sich vom russischen Markt zurückgezogen und Hunderttausende gut ausgebildete Menschen haben das Land wegen der Folgen der wirtschaftlichen Sanktionen oder der politischen Repression verlassen. Doch auch Millionen an Arbeitsmigrantinnen und -migranten aus Usbekistan, Tadschikistan und Kirgistan, die in den vergangenen 30 Jahren zu einer wichtigen Quelle billiger Arbeitskraft für die russische Dienstleistungs- und Landwirtschaft sowie den Bausektor geworden sind, sind von der drohenden Rezession betroffen. Auch wenn es kaum verlässliche Statistiken gibt, arbeiten schätzungsweise eine Million kirgisische, mindestens ebenso viele tadschikische und über drei Millionen usbekische Migrantinnen und Migranten in Russland. Einkünfte, die diese an ihre Familien zu Hause überweisen, sind eine wichtige Stütze für deren verarmte Herkunftsländer. Das Bruttoinlandsprodukt Kirgistans und Tadschikistans besteht zu rund 30 Prozent aus solchen Rücküberweisungen, mit die höchsten Quoten weltweit. Die russische Krise ist damit auch die ihrige. »In Russland verschwinden die Arbeitsplätze, es wird gesagt, dass es ab jetzt nur noch für Russen Arbeit geben wird«, erzählt Atai Omursakow. (…) Der Krieg hat die Arbeitsmigration nach Russland weniger lukrativ gemacht hat, doch die in Russland Arbeitenden haben meist keine Alternative. »Zurückzukehren löst nicht das Problem, keine Arbeit zu haben. Das geht höchstens vorübergehend«, sagt die kirgisische Politikwissenschaftlerin Asel Doolotkeldiewa. Sie hält eine große Rückkehrwelle für eher unwahrscheinlich. Ihrer Meinung nach könnte sogar eine entgegengesetzte Tendenz eintreten, da Familien versuchen könnten, geringere Einkünfte zu kompensieren, indem weitere Angehörige zum Arbeiten nach Russland fahren. Das Hauptproblem ist Doolotkeldiewa zufolge, dass die Rücküberweisungen nach Kirgistan in Zukunft stark schrumpfen dürften. »Etwa 70 Prozent des überwiesenen Geldes wird für den Einkauf von Lebensmitteln ausgegeben«, sagt sie. (…) Was Doolotkeldiewa am meisten Sorgen bereitet, ist, dass die kirgisische Regierung das Problem nicht ernst nehme; sie betrachte die Arbeitsmigration nach Russland als einen praktischen Ausweg, um die sozialen Probleme im Land nicht selbst angehen zu müssen. »Es ist unglaublich, die reden nicht mal groß drüber. Jedes Jahr mahnen Organisationen, die sich mit der Migrationsfrage beschäftigen, dass wir zumindest die Zielländer unserer Migrationsströme diversifizieren sollten. Und jedes Jahr antwortet die Regierung ‚ja, ja‘ und vergisst es sofort wieder«, sagt sie frustriert…“ Artikel von Volodya Vagner vom 25. Mai 2022 in der Jungle World 2022/21 externer Link
Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=201075
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