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Krise im Libanon: Wie die Kräfte der Beharrung aufs reaktionäre Proporz-System den Zerfall einer Gesellschaft verursachen – und weshalb ihr rassistisches „Kafala“-System beseitigt werden muss

Auch bei den Protesten im Libanon spielen die Frauen eine zentrale Rolle, hier im November 2019 in Beirut„… Während sich in Hamra noch vor wenigen Monaten Menschen lautstark um Parkplätze stritten und aus den Bars die Bässe hämmerten, ist es jetzt fast schon unheimlich ruhig. Wer nun durch die Straßen schlendert, sieht in den Schaufenstern vieler Boutiquen statt Sonderangeboten „For Rent“-Schilder. Und als würde die Sommerluft Beiruts mit ihrer Melange aus Müll und Abgasen nicht ohnehin wie eine Bleidecke über der Stadt hängen, scheint nun der Frust und die Verzweiflung der Passant*innen aus jeder ihrer Poren zu kriechen. Mit jedem Tag verschlechtert sich die Lage. So nahm sich am 3. Juli ein 60-Jähriger Mann mitten in Hamra aus Verzweiflung das Leben. Er hinterließ sein sauberes Führungszeugnis mit dem Satz „Ich bin kein Ungläubiger, doch Hunger ist Ketzerei“, ein Zitat aus einem berühmten Lied des linken Musikers Ziad Rahbani, veröffentlicht inmitten der Misere des Bürgerkriegs. Ich schreibe diesen Text in meinem Lieblingscafé Café Younes in Hamra, ein beliebter Treffpunkt für viele meiner Freund*innen. Der Dieselmotor, der bei Stromausfall automatisch anspringt, ist überhitzt und alle fünf Minuten sitzen wir in der schwülen Dunkelheit. Der Kaffee ist noch immer gut, aber mittlerweile teurer geworden. Die Gesichter der Baristas und Kund*innen sind müde, das Lächeln gezwungen. Ein Großteil meiner Bekannten und Freund*innen haben in den vergangenen Monaten ihre Jobs verloren oder erhalten keine Gehaltszahlungen mehr. Statt „Wie gehts dir?“ fragen wir nun „Wie hältst du dich?“ oder vermeiden gar das ganze Thema. An die Stelle der neu gewonnenen Hoffnung einer besseren Zukunft, die noch vor wenigen Monaten mit dem Ausbruch der Protestwelle durchs Land ging, ist Hilflosigkeit getreten...“ – aus dem persönlichen Erfahrungsbericht „„Ich bin kein Ungläubiger, doch Hunger ist Ketzerei““ von Ginan Osman am 22. Juli 2020 bei dis:orient externer Link über die zunehmend problematische Entwicklung in der einstiegen „Schweiz des Nahen Ostens“… Siehe im kleinen Überblick dazu zwei weitere aktuelle Beiträge sowie einen Beitrag über das in dieser Situation noch üblere Kafala-System und eine Kampagne zu seiner Abschaffung:

  • „Gescheiterter Neoliberalismus“ von Julia Neumann am 26. Juli 2020 in der taz online externer Link kommentiert diese Entwicklung unter anderem so: „… Das Land durchlebt die schwerste Wirtschaftskrise seiner jungen Geschichte. Nicht weniger als 80 Prozent hat das libanesische Pfund schon an Wert verloren. Hunger ist das dringendste Problem. Die Supermarktregale sind gefüllt, aber die Menschen können sich Brot und Reis nicht mehr leisten. Selbst subventionierte Lebensmittel sind inzwischen mehr als doppelt so teuer wie vor der Krise, während die Zahl der Arbeitslosen ständig wächst. Soforthilfen sind nötig und längerfristig Investitionen im produzierenden Sektor, um sich aus der Abhängigkeit von teuren Importen zu lösen und Lebensmittelsicherheit zu garantieren. In der Zeit nach dem Bürgerkrieg schufen Banken und Politiker ein privatisiertes Land, in dem das meiste Geld mit Finanzanlagen oder Immobilien gemacht wurde. Jobs wurden dadurch nicht geschaffen. Jetzt sind es vor allem junge Arbeitslose, die Scheiben einschmeißen, Molotowcocktails auf Bankfilialen werfen und mit Schlagstöcken aufeinander losgehen. Das System legt es darauf an, dass die Jugend das Land verlässt. In finanzstarken Ländern wie Frankreich oder Deutschland verdiente die Diaspora in ausländischen Währungen, die sie im Libanon anlegte. Die Privatbanken lockten die Exillibanesen mit zweistelligen Zinsen. So konnte die lokale Währung stabilisiert werden…“
  • „Dunkle Wolken“  von Anna Fleischer am 08. Juli 2020 bei Heinrich von Arabien externer Link (Böll Stiftung) zur aktuellen Entwicklung: „… Wir haben seit Tagen, in manchen Regionen seit Wochen, wenig Strom. Das private Generatorensystem, das im Libanon fester Teil der Stromversorgung ist und in den Stunden übernimmt, in denen die Versorgung über das Stromnetz ausfällt, verfügt nicht mehr über genug Diesel, um die Ausfälle auszugleichen. Diese Generatoren sind Teil eines korrupten Systems reicher Politiker und Geschäftsmänner, die sich an den Bargeldzahlungen bereichern. Der Staat schafft es ohnehin nie 24 Stunden am Tag Strom bereitzustellen. Jetzt sind es mancherorts nur wenige Stunden pro Tag. Man bezahlt also zwei Rechnungen – die des staatlichen Stromversorgers und die der Generatorenmafia. Eben habe ich die Rechnung wieder in bar an der Haustür bezahlt, sie ist um 100% gestiegen. (…) Für mich gab es immer zwei Libanons. Das eine war das Land, in dem die syrischen Flüchtlinge leben, ohne Menschenrechte, fast ohne Einkommen und nur mangelhaftem Zugang zu medizinischer Versorgung und Bildung. Das Leid dieser Menschen kenne ich gut aus meiner Arbeit und weil ich hingeschaut habe. Das tun viele in dem anderen Libanon, den ich kannte nicht so gern. Dieses andere Land hat luxuriöse Strandclubs, teure Restaurants und schicke Bars. In diesem Libanon habe ich auch Menschen getroffen, die zwar nicht völlig zufrieden sind, die aber als Mittelschicht komfortabel lebten. In den letzten Tagen habe ich das Gefühl, dass diese zwei Welten aufeinanderprallen: Die libanesische Mittelschicht zerfällt und verarmt vor unseren Augen…“
  • „Kafala-System: Moderne Sklaverei in arabischen Ländern“ von Elias Feroz am 24. Juli 2020 bei telepolis externer Link zum Sklavenhaltersystem nicht nur im Libanon unter anderem: „… Allerdings findet die Ungleichbehandlung nicht überall Gehör. In einigen arabisch-sprachigen Ländern, wie dem Libanon oder den Golfstaaten beispielsweise, findet regelrecht eine Ausbeutung gegenüber ausländischen Arbeitern und Arbeiterinnen statt. Der Libanon hat gegenwärtig nicht nur mit Corona zu kämpfen, sondern auch mit einer gravierenden Wirtschaftskrise. Ausländische Arbeiterinnen und Arbeiter trifft es hierbei besonders hart: Sie werden von ihren Arbeitgebern einfach auf die Straße ausgesetzt, da sie aufgrund der extrem hohen Inflation nicht mehr bezahlt werden können. Die meisten der Ausgesetzten sind Frauen, die aus Ländern wie Äthiopien, Ghana oder südostasiatischen Staaten wie Indonesien immigrierten. Sie kümmerten sich um die Haushalte der wohlhabenden Schicht des Libanons. Jene Schicht, die sich Hausangestellte leisten konnte. Dennoch war das Leben vieler der arbeitenden Frauen auch vor der Krise eine buchstäbliche Hölle. Schuld daran ist das Kafala-System, eine Ordnung, welche die absolute Abhängigkeit der Arbeiter gegenüber den Arbeitgebern zulässt. Arbeitsmigranten sind im Libanon vom Arbeitsgesetz ausgenommen. Stattdessen hängt das legale Aufenthaltsrecht dieser Arbeiterinnen und Arbeiter an das Vertragsverhältnis mit dem Arbeitgeber bzw. dem Bürgen (arabisch: „Kafil“). Löst er das Arbeitsverhältnis auf, so verlieren sie das Aufenthaltsrecht und müssen ausreisen. Die Arbeitnehmer haben auch nicht das Recht den Arbeitgeber ohne dessen Erlaubnis zu wechseln. Aufgrund dieser absoluten Abhängigkeit ist es einfach die Arbeiter unter Druck zu setzen. Die Deutsche Welle spricht von einem monatlichen Gehalt zwischen 150 und 250 US-Dollar. Bereits vor der Wirtschaftskrise wurden allerdings viele Hausangestellte über Monate hinweg nicht ausbezahlt. Die meisten Arbeitskräfte aus afrikanischen oder asiatischen Ländern kommen in den Libanon mit der Hoffnung etwas Geld zu verdienen, welches sie ihren Familien im jeweiligen Heimatland zuschicken können. Stattdessen müssen physische und psychische Gewalt erfahren und unter unmenschlichen Arbeitsbedingungen leben. Neben Schlafmangel berichten die Frauen auch von sexuellen Übergriffen. Da der Staat den Arbeiterinnen keinen Schutz bietet, werden sie ausgebeutet. Es handelt sich um ein Leben in Knechtschaft. Hinzu kommt, dass die „Hausherren“ häufig den Hausangestellten ihre Pässe wegnehmen, damit diese überhaupt nicht mehr ausreisen können. Amnesty International spricht in diesem Zusammenhang von moderner Sklaverei und verurteilt das Kafala-System aufs schärfste. Nun, wo das libanesische Pfund immer weiter an Wert verliert, werden die Arbeiterinnen einfach auf die Straße gesetzt und ihrem Schicksal überlassen. Ohne Pass und ohne Geld sehen viele Frauen keinen anderen Ausweg als sich zu prostituieren. Dann wiederum gibt es Arbeitgeber, die ihre Angestellten nicht rausschmeißen, sondern auf widerlichste Weise versuchen ihre Geldbeutel zu füllen…“
  • „Lebanon: Abolish Kafala (Sponsorship) System“ am 27. Juli 2020 bei Human Rights Watch externer Link ist der Auftakt (und Aufruf zu) einer Kampagne von HRW zur Abschaffung des Kafala-Systems (im Libanon) – aus Anlass einer Initiative des Arbeitsministeriums zur diesbezüglichen Änderung der libanesischen Arbeitsgesetze – eine Änderung, die von HRW begrüßt wird, vorausgesetzt, siebeginnt mit der Abschaffung von Kafala. Dabei verweist die Organisation insbesondere darauf, dass „Kafala“ konkret und in erster Linie gegen das Abkommen Convention on the Elimination of All Forms of Discrimination against Women (CEDAW) verstößt, die der Libanon bereits 1997 unterzeichnet habe und die Betroffenheit so vieler Frauen aus Asien und Afrika, die als Hausangestellte im Libanon arbeiten müssen.
  • Siehe zum Thema u.a. am 08. Juni 2020: Militante Proteste im Libanon fortgesetzt: Die Reaktion verbreitet Morddrohungen
Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=176321
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