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Auch wenn eine neue Regierung für den Libanon Zustimmung im Parlament bekommen sollte: Auf der Straße kämpfen die Menschen aus guten Gründen weiter für ihre Zukunft

Auch bei den Protesten im Libanon spielen die Frauen eine zentrale Rolle, hier im November 2019 in Beirut„… Hohe Betonklötze reihen sich aneinander und sperren die Zufahrtsstraßen rund um das libanesische Parlament in Beirut ab. Die Mauern zwischen dem Volk und ihren Vertreter*innen sollen verhindern, dass sich die Menschen unerlaubt Zugang zum Parlament verschaffen. Denn Demonstrierende blockierten am frühen Dienstagmorgen die Straßen rund um das Parlamentsgebäude. Sie wollten verhindern, dass die Abgeordneten zu einer Sitzung ins Parlament gelangen, um dort der neuen Regierung ihr Vertrauen auszusprechen. (…) Das Vertrauen der Menschen auf den Straßen konnte die designierte Regierung von Anfang an nicht gewinnen. „Wir sind total gegen diese dumme Regierung“, sagte die 22-jährige Jana Yousef damals der taz. Sie hatte gleich am Tag der Bekanntgabe vor der Absperrung am Parlament protestiert. „Die verteilen immer noch die Macht untereinander. Das ist überhaupt nicht das, wonach wir verlangt haben.“ Mit dem Vertrauensausspruch könnte die Regierung bis zu den nächsten Wahlen im Jahr 2022 im Amt bleiben. Die Protestierenden fordern, dass eine Übergangsregierung vorgezogene Neuwahlen mit einem neuen Wahlrecht vorbereitet. Das bisherige Wahlrecht ist ein komplexes Proporzsystem, das jeder religiös-politischen Fraktion einen Teil der Macht sichert. Neuwahlen hat Diab nicht angekündigt...“ – aus dem Bericht „Über 200 Verletzte bei Protesten“ von Julia Neumann am 11. Februar 2020 in der taz online externer Link über die fortgesetzte Ablehnung der diversen Manöver der Herrschenden durch die Massenbewegung für Demokratie im Libanon. Siehe dazu auch drei weitere Beiträge zu den gesellschaftlichen Gründen und Bedingungen für die seit Monaten immer wieder fortgesetzten Proteste – sowie den Hinweis auf unseren bisher letzten Beitrag dazu:

  • „Der Aufstand im Libanon und seine Hintergründe“ am 04. Februar 2020 beim Anarchistischen Forum Köln externer Link zum Thema: „… Eines der dringendsten Probleme der Bevölkerung ist nämlich die aktuelle Wirtschaftskrise in dem vorderasiatischen Land. Wobei durch den Wertverfall des Libanesischen Pfund und einer steigenden Inflationsrate von über 6% die Haushalte einen massiven Kaufkraftverlust hinnehmen müssen. Ohnehin liegt das jährliche Pro-Kopf-Einkommen nur bei 6.706 Euro im Durchschnitt. Und die Herrschenden sehen sich gezwungen angesichts der Kreditforderungen ausländischer Regierungen und der Weltbank straffe Sparmaßnahmen und neoliberale Privatisierungen voranzutreiben. Daher leiden viele der fast 7 Millionen Einwohner*innen unter unsicheren Arbeitsverhältnissen, Niedriglöhnen, Kurzarbeit, Verschuldung und Erwerbslosigkeit. Hinzu kommt eine milliardenhohe Staatsverschuldung, mit Devisenmangel und steigenden Preisen für Importprodukte, sowie einer mangelhaften Infrastruktur. Vor allem der Abbau von Müllabfuhr, Strom- und Wasserversorgung, durch korrupte Vettern*wirtschaft macht der Bevölkerung zu schaffen. Auch die Unfähigkeit der Regierung bei der Bekämpfung der schweren Waldbrände schürte den Unmut der Menschen im Land. Hinzu kommt die ausbeuterische Klientelpolitik des arabischen Bürgschaftssystems (Kafala) und eine weit verbreitete politisch-wirtschaftliche Abhängigkeit von mächtigen Religionsführer*innen durch Bestechlichkeit und Begünstigung. Vor allem die rund 250.000 migrantischen Hauswirtschafter*innen aus Afrika und Asien leiden unter sklavenähnlicher Ausbeutung und bevormundender Kontrolle durch private Arbeitgeber*innen. Eine Vielzahl dieser meist weiblichen* Care-Arbeiter*innen werden zudem durch rassistische Ausgrenzung und Abschiebung, sowie durch die allgegenwärtige sexualisierte Gewalt bedroht...“
  • „«Manche haben von dem bestehenden System enorm profitiert»“ am 30. Januar 2020 bei der Rosa Luxemburg Stiftung externer Link ist ein Interview von Nora Dingel mit dem libanesischen Ökonomen Jad Chaaban worin er zum Thema, wer von der bisherigen Situation profitiert habe, unter anderem ausführt: „… Also haben die Banken Zinsen von etwa acht Prozent auf Dollar-Einlagen gezahlt – das ist sehr hoch, regional beträgt die Zinsrate ansonsten zwischen ein und zwei Prozent, in Deutschland aktuell höchstens 1,5 Prozent. Wie haben die Banken das geschafft, diese hohen Zinsen zu zahlen? Letztendlich müssen sie ihr Geld dafür so anlegen, dass sie einen hohen Gewinn machen. Folglich begannen die Banken, ihre Gelder in Form von Schuldverschreibungen an die öffentliche Hand zu verleihen. Als sie dabei an die Grenzen der Bankenauflagen stießen und ihr Risiko gegenüber dem öffentlichen Sektor absichern wollten, verliehen sie außerdem Geld an die libanesische Zentralbank. Diese gab Sicherheiten in libanesischen Pfund aus und zahlte darauf Zinsen in Höhe von bis zu 20 Prozent. [Die Banken haben also Gewinne auf Kosten des öffentlichen Sektors gemacht?] Ja, sehr hohe Gewinne. Durchschnittlich vier bis fünf Milliarden Dollar pro Jahr für Einlagen in Höhe von 170 Milliarden – das ist viermal so hoch wie das Bruttoinlandsprodukt. Von jeden 100 Dollar, die bei einer libanesischen Bank angelegt wurden, hat diese Bank 70 im öffentlichen Sektor angelegt. Das bedeutet, dass in den Banken nicht genug Liquidität vorhanden war. Zwar wurden einige Reserven vorgehalten, aber bei Weitem nicht genug, um mit einem Ansturm auf die Banken umzugehen, damit, dass die Menschen ihr Geld ausgezahlt haben möchten…“
  • „»Dann hätten wir die Chance, den Konfessionalismus abzuschaffen«“ am 01. Februar 2020 in der jungen welt externer Link war ein Interview von Wiebke Diehl mit Kamal Hamdan von der Kommunistischen Partei Libanon, worin er zum politischen System unterstreicht: „Am dritten Tag der Proteste habe ich gemeinsam mit elf weiteren sehr bekannten Ökonomen ein Papier vorgestellt, in dem wir Möglichkeiten zur Lösung der politischen und ökonomischen Krise vorschlagen. Am nächsten Tag erreichte uns die Einladung des Präsidenten, die wir aus mehreren Gründen abgelehnt haben. Erstens vertreten wir unseren Standpunkt bereits seit Jahrzehnten in Fernseh-Talkshows, in Zeitungen und an den Universitäten des Libanon, ohne von der Regierung eingeladen zu werden. Zweitens fragten wir uns, was die Hunderttausenden auf der Straße sagen würden, wenn wir zu Verhandlungen in den Präsidentenpalast gingen. Würden sie nicht fragen, wie wir darauf kommen, in ihrem Namen sprechen zu können? Leider ist es aufgrund der Komplexität und des Pluralismus der Bewegung bis heute nicht gelungen, eine Vertretung der Proteste zu bestimmen, die repräsentativ und akzeptiert ist. Wir müssen abwarten und die soziale Bewegung die Führung schaffen lassen – ähnlich wie dies im Sudan oder in Tunesien geschehen ist. So etwas braucht Zeit. Aber ich glaube, mittlerweile sind wir auf einem guten Weg. [Einer der wichtigsten, wenn nicht der wichtigste Slogan der Demonstranten lautet »Kilhun yaani kilhun«, zu deutsch etwa »Alle bedeutet alle«. Ist es richtig, alle politischen Parteien und Politiker in einen Topf zu werfen? Oder gibt es nicht Unterschiede, insbesondere in bezug auf die stark kritisierte Korruption, aber auch, was das Schüren konfessioneller Gegensätze und die Zementierung des Systems anbelangt?] Die Frage ist sehr berechtigt. Und nein, auf keinen Fall können alle gleich behandelt werden, auch nicht alle an der Regierung beteiligten politischen Kräfte. Sobald man in der Analyse ins Detail geht, wird klar, dass die Oligarchie nicht überall gleichermaßen verankert ist. Es gibt politische Kräfte, die seit den 90er Jahren regieren: Saad Hariri mit seiner »Zukunftsbewegung«, Walid Dschumblat mit der »Progressiven Sozialistischen Partei«, Nabih Berri von der »Amal-Bewegung«. Besonders diese drei – und zu einem gewissen Grad auch Samir Geagea und seine »Libanesischen Kräfte« – stehen für das alte System, fördern das konfessionalistische Denken und Handeln und sind ganz besonders korrupt. Anders verhält es sich mit zwei Kräften, die erst später in das System integriert wurden: die »Freie Patriotische Bewegung« von Präsident Aoun und die Hisbollah. Wir als Progressive und Linke haben damals große Hoffnungen in die reformistischen Slogans der Aounisten gesetzt, und sie haben auch tatsächlich große Anstrengungen unternommen und Programme entwickelt, um die Defizite im libanesischen System zu beseitigen. Leider wurden diese Versuche mit dem Aufstieg von Gebran Bassil, dem Schwiegersohn von Präsident Michel Aoun, geschwächt...“
Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=162753
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