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Das Comeback eines kapitalistischen Reaktionärs: Die Herrschenden im Libanon wollen keine Zugeständnisse machen – auch nicht nachdem sich neue Kräfte den Protesten anschließen

Auch bei den Protesten im Libanon spielen die Frauen eine zentrale Rolle, hier im November 2019 in Beirut„… Viele können es nicht fassen: In Massen waren die Menschen im Libanon auf die Straßen gegangen, um ein neues politisches System zu fordern. „Alle heißt alle“, lautete ihre Forderung, mit der sie einen Austausch der gesamten als korrupt empfundenen politischen Elite forderten. Viel Konkretes erreichten sie nicht, doch zumindest verkündete Saad al-Hariri im Oktober vergangenen Jahres seinen Rücktritt als Regierungschef. Unter den Demonstrierenden in Beirut brach Jubel aus. Nun aber soll Hariri zurückkommen: Nach einem äußerst turbulenten Jahr und einer gescheiterten Nachfolgeregierung hat Staatspräsident Michel Aoun den 50-Jährigen am Donnerstag erneut mit der Bildung einer Regierung beauftragt. Dies teilte das Präsidialamt am Donnerstagmittag nach Beratungen Aouns mit den parlamentarischen Blöcken mit. (…) Sollte ihm eine Regierungsbildung gelingen, wäre es das vierte Mal, dass er Regierungschef wird. Der schwerreiche Unternehmer, der neben der libanesischen auch die saudische Staatsbürgerschaft hat, war seit Ende 2016 Regierungschef gewesen. Zuvor hatte er bereits von 2009 bis 2011 regiert. Obwohl er über gute Kontakte nach Riad verfügt, ist es Hariri in der Vergangenheit gelungen, auch mit der einflussreichen schiitischen Hisbollah auszukommen. (…) Bereits am Mittwoch, nachdem bekannt wurde, dass Hariri erneut zum Regierungschef ernannt werden sollte, kam es zu Demonstrationen in Beirut. Die monatelangen Massenproteste, die im vergangenen Oktober begonnen, hatten seit der Coronakrise aber an Intensität verloren…“ – aus dem Beitrag „Hariri kommt zurück“ von Jannis Hagmann am 22. Oktober 2020 in der taz online externer Link über den Schritt einer herrschenden Klasse, die sich stark genug fühlt, eine regelrechte Provokation aller Bestrebungen nach Veränderung zu organisieren… Siehe dazu auch einen Beitrag zur gewünschten Stabilität des Libanon, zwei Meldungen über neue gewerkschaftliche Proteste und einen Hintergrundbeitrag über die Methoden das System am Funktionieren zu halten – sowie den Verweis auf den bisher letzten unserer zahlreichen Beiträge (in dem die neuen Aktivitäten der Gewerkschaften bereits Thema waren):

  • „Ex-Premier Hariri erneut zum Regierungschef des Libanon ernannt“ am 22. Oktober 2020 bei der Deutschen Welle externer Link meldet diesen provokativen Akt ebenfalls – und macht zugleich auch deutlich, dass man diesen Schritt bei der EU durchaus nicht besonders kritisch sieht – wegen der sogenannten Stabilität (der Geschäfte): „… Hariri hatte seit Ende 2016 gut drei Jahre als Ministerpräsident des Libanons gedient. Im Januar hatte er auf öffentlichen Druck nach anhaltenden Massenprotesten im Land seinen Rücktritt eingereicht. Sein Nachfolger Hassan Diab trat im August nach der verheerenden Explosion am Hafen von Beirut zurück. Auch Diabs designierter Nachfolger Mustafa Adib warf Ende September hin – nach eigener Aussage wegen interner Machtkämpfe bei der Regierungsbildung. Nach seiner Ernennung kündigte Hariri an, die Probleme des Landes rasch mit einer Regierung aus Experten anzugehen. „Die Zeit drängt und dies könnte die letzte Chance sein“, sagte Hariri. Er versprach, den wirtschaftlichen Verfall des Landes aufzuhalten und die Schäden der verheerenden Explosion in Beirut im August zu reparieren. (…) Die Aussicht auf eine erneute Ernennung Hariris hatte bereits am Mittwoch in Beirut zu Demonstrationen seiner Gegner sowie seiner Unterstützer geführt. Kritiker betrachten ihn als Teil der alten Machtelite, der sie Misswirtschaft und Korruption vorwerfen...“
  • „Nationaler Protesttag gegen Pläne der Zentralbank“ am 22. Oktober 2020 bei den Rote Fahne News externer Link berichtet über eben neue Proteste gegen das Regime (samt Frankreichs Unterstützung dafür): „Der Libanon stand vor kurzem vor dem Übergang in die gesamtgesellschaftliche Krise. Dann schien es still zu werden. Das Thema verschwand weitgehend aus den bürgerlichen Massenmedien. Dabei gibt es weitgehende Kämpfe im Land: Mittwoch vergangener Woche, 14. Oktober, protestierten Arbeiter im ganzen Land. Die Hauptstraßen in den größten Städten wie Beirut, Sidon, Tripolis und Tyros wurden blockiert. Eine große Anzahl von Beschäftigten im Transportwesen beteiligten sich. Der Protest richtete sich gegen die elende Lage im Land und besonders gegen den Plan der Zentralbank, Unterstützungsleistungen für lebensnotwendige Dingen wie Lebensmittel, Treibstoff und medizinische Versorgung zu streichen. Laut Weltbank sind inzwischen 55 Prozent der Bevölkerung verarmt“.
  • „Protestas contra planes de eliminar subsidios a productos básicos“ am 14. Oktober 2020 bei Resumen Latinamericano externer Link berichtet ebenfalls vom Protesttag des Gewerkschaftsbundes CGTL gegen die geplante Streichung der bisherigen Begrenzung der Preise für Mittel der Grundsicherung (siehe dazu auch den Verweis auf unseren letzten Bericht am Ende dieses Beitrags), der in mehreren Städten des Libanon viele Tausend Menschen mobilisierte. Die Gewerkschaft der Bodentransporte wird in der Meldung mit der Stellungnahme zitiert, dies sei erste der Beginn der Aktionen, man werde in diesen Tagen weiter dafür organisieren, eine Bewegung gegen die Streichmaßnahmen zu entwickeln…
  • „Wer ist hier eigentlich Elite? Ist ein Essay von Christian Thuselt am 05. Oktober 2020 bei Zenith externer Link der eine ausführliche Beschreibung des libanesischen Alltags unternimmt – um allzu einfachen Positionierungen entgegen zu treten wird nachgezeichnet wie „das System“ (zumindest: auch) funktioniert: „… Entlang dieser Konfliktlinien kann die in Wirklichkeit nur im Plural existierende »politische Klasse« des Libanon ihre Landsleute durchaus zumindest punktuell mobilisieren. Das widerlegt die wenig analytische Bestandsaufnahme einer losgelösten Elite, die nichts mit ihrem Volk verbände. Ganz im Gegenteil: Ihre Parteien reichen über die ihnen zugrundeliegenden Konfliktlinien tiefer in die Gesellschaft hinein, als es eine vereinfachende Sicht auf den Libanon suggeriert. Mindestens die bedeutendsten dieser Parteien unternehmen vielfältige Anstrengungen, um in diese Gesellschaft vorzudringen. Libanesen mögen bevorzugt »die Politiker« verfluchen, das aber sollte so nicht unhinterfragt übernommen werden. Beim selben Taxifahrer, der eben noch seine Verachtung dieser »Elite« in drastische Worte fasste, läuft das Radio der Hizbullah im Hintergrund oder eine Kassette mit Ansprachen des 1982 ermordeten Milizenführers Baschir Gemayel, um den die einstigen Christenmilizen einen regelrechten Märtyrerkult orchestrieren. Wenn der bekannte Basketballclub Sagesse spielt, grölen seine Fans vor dem Anpfiff die Kriegslieder der einstigen Christenmilizen, in Geschäften hängen oftmals kleine politische Symbole oder Fahnen und auch auf den vermeintlich parteiunabhängigen Demonstrationen gegen die Müllkrise seit 2015 wie nach der Explosion im Hafen 2020 waren diese kleinen Marker politischer Identitäten zu erkennen. Mittlerweile gerne auch als Tattoo. Parteien organisieren Hausaufgabenbetreuung, bieten Wandertouren und regelmäßige Treffen an, sie widmen sich intensiv einem Heldenkult um die eigene Kampfzeit, verfügen über eigene Musik, bezahlen Krankenhausrechnungen und für die abenteuerlustigeren unter den männlichen Teenagern bieten sie auch den Reiz des Abenteuers, nachts das Viertel zu bewachen oder mit politischen Graffiti den öffentlichen Raum zu markieren. Die Hizbullah betreibt sogar eigene Schulen. Erstaunlich ist hierbei auch, dass bestimmte Parteien regelrechte Sozialmilieus aufbauen, organisatorisch befestigte kulturelle Lebenswelten, die über die engere Mitgliedschaft hinaus weitere Kreise ziehen. Auffallend dabei ist, wie stark viele Parteien davon ausgehen, parteipolitischer Aktivismus sei ein Teil eines Erziehungskonzeptes. Eine Nation zu »formen«, ihr einen nicht mehr ambivalenten Geist anzuerziehen, sogar Erziehung zu persönlicher, alltäglicher Pünktlichkeit entspricht dem Selbstbild parteipolitischer Funktionäre im Libanon. Dieser Rückgriff auf utopische Konzepte der Moderne ist Produkt einer Gesellschaft in der Krise: Der Libanese ist nicht, was er jetzt gerade ist, sondern er muss noch werden, was sich vermeintlich objektiv bestimmen lässt...“
Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=180014
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