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Soziale Kämpfe in Ex-Jugoslawien

Buch: Soziale Kämpfe in Ex-Jugoslawien Soeben ist im Wiener Mandelbaum Verlag in der Reihe kritik&utopie ein Sammelband mit dem Titel „Soziale Kämpfe in Ex-Jugoslawien“ erschienen. Entgegen dem hegemonialen EU-Narrativ der „erfolgreichen Osterweiterung“ und der Integration der südosteuropäischen Peripherie in die Europäische Union liefert der Band anhand der jüngsten sozialen Kämpfe in der Region eine kritische Gegenperspektive. Diese gesellschaftlichen Auseinandersetzungen werden jedoch nicht isoliert voneinander betrachtet, sondern an den jüngsten globalen Protestzyklus angeknüpft…“ Eine Besprechung und Informationen zum Buch (Michael G. Kraft (Hg.) (2013): Soziale Kämpfe in Ex-Jugoslawien, ISBN: 978385476-621-6, 310 Seiten, Mandelbaum Verlag, Wien, Erscheinungstermin Mai 2013)

Nach zwei Dekaden der ökonomischen und sozialen Transformation regt sich in Ex-Jugoslawien Widerstand gegen die verheerenden Auswirkungen neoliberaler Politik, die korrupten Eliten und den Neokolonialismus der Europäischen Union. Spätestens mit der Wirtschaftskrise 2008 und der daraufhin verstärkten Privatisierungs- und Austeritätspolitik wurde die hegemoniale Erzählung freier Märkte immer brüchiger. Zwar sind die Erfahrungen neoliberaler Strukturanpassungspolitik in dieser Region keineswegs neu, doch bilden sich erstmals seit dem Zusammenbruch Jugoslawiens breitere Bewegungen, die für soziale Gerechtigkeit kämpfen und den Kapitalismus in Frage stellen.

Pathologien des Balkans

Der Sammelband beansprucht, einen emanzipatorischen Gegenentwurf zum dominanten Diskurs zu (Ex-)Jugoslawien, der sich auf die ethnische und nationalistische Dimension der Konflikte der 1990er-Jahre einerseits oder den demokratischen und wirtschaftlichen Aufholprozess zum europäischen Zentrum andererseits beschränkt, zu zeichnen. Die im Buch versammelten Texte von TheoretikerInnen und AktivistInnen reichen von den Formen sozialen Widerstands in Slowenien, über die Studierendenbewegung und neue Linke in Kroatien bis hin zu Arbeitskämpfen und Beispielen der ArbeiterInnenselbstverwaltung in Serbien.

Der globale Protestzyklus und die multiple kapitalistische Krise

In der Einleitung setzt der Herausgeber die aktuellen sozialen Kämpfe und Proteste am Balkan mit dem jüngsten globalen Protestzyklus und der kapitalistischen Krise in Beziehung. Denn die globalen Entwicklungen und Konflikte sind auch am Balkan nicht spurlos vorübergegangen. Beispiele dafür sind die Proteste in Slowenien (Occupy Slovenia) aber auch die Facebook-Proteste 2011 in Zagreb und die Formierung einer neuen Linken in Kroatien sowie das erste Balkan-Forum im Mai 2012. Sie verdeutlichen, dass (internationale) Vernetzung und Austausch in der Form von Solidarität stattfinden und es hier durchaus Anknüpfungspunkte an den globalen Bewegungszyklus gibt. Dario Azzellini arbeitet in seinem Beitrag die Charakteristika dieser jüngsten globalen Proteste (Inanspruchnahme des öffentlichen Raums, neue soziale Organisationsformen, Ablehnung der Repräsentation, direktdemokratische Praktiken) heraus und vertritt die Ansicht, dass diese Antworten auf die multiple Krise nicht nur vorübergehende Strohfeuer darstellen, sondern „dass wir vor einem Bruch stehen, der weitreichender sein wird als 1968“. Boris Kanzleiter liefert im Interview einen umfassenden Überblick über die gegenwärtige soziale Situation am Balkan. Wenngleich sich in vielen Ländern des Balkans Widerstand gegen die neoliberale Agenda regt, so ist Kanzleiters der Ansicht, dass die Isolierung und Fragmentierung der Protestbewegungen durch den Aufbau einer „gemeinsamen Erzählung“ und Analyse überwunden werden müssen.

Deindustrialisierung und Arbeitskämpfe

Der zweite Buchteil beschäftigt sich mit dem Themenblock Arbeitskämpfe und Deindustrialisierung und liefert einen Überblick über die während der letzten Jahre geführten direkten Aktionen von ArbeiterInnen, insbesondere in Serbien und Kroatien. Die Beiträge von Goran Musić und Peter Haumer beschäftigen sich eingehend mit der gegenwärtigen Situation in Serbien, wo 2009 über 30 Streikaktionen durchgeführt wurden. Sie rücken dabei das Beispiel des Kampfes um Selbstverwaltung der ArbeiterInnen-AktionärInnen des Pharmaunternehmens Jugoremedija ins Zentrum der Betrachtungen. In Kroatien ist das bedeutendste Beispiel für den ArbeiterInnenwiderstand die Gründung eines „Stabs zur Verteidigung des Unternehmens“ in der petrochemischen Fabrik Petrokemija im Jahr 1998 (vgl. den Beitrag von Jovica Lončar und das Interview von Bolldorf mit dem Gewerkschaftsführer Klaus). Die ArbeiterInnen schufen damit ein Modell des organisierten Widerstands, das in den darauffolgenden Jahren mehrmals „kopiert“ und angewandt wurde. Andrea Milat reichert das Feld der Arbeitskämpfe um eine feministische Perspektive am Beispiel der Textilfabrik Kamensko an. Sie nähert sich den sozialen Verwerfungen aus der Perspektive der Arbeiterinnen an und problematisiert dabei die Textilbranche als eine typisch „weibliche“ Industrie, die durch die Geringschätzung der meist von Frauen verrichteten Arbeit charakterisiert ist.

Studierendenproteste und direkte Demokratie

Den Studierendenprotesten, die ab 2008 wie eine Welle die Region überrollt haben, ist schließlich der dritte Abschnitt (Studierendenproteste und direkte Demokratie) gewidmet. Bemerkenswert ist dabei, dass sich in Ablehnung der liberalen repräsentativen Demokratie, anhand derer die wirtschaftliche und gesellschaftliche Krise immer sichtbarer wird, neue Organisationsformen entwickelt haben und direkte Demokratie zu einem zentralen Element der Bewegung geworden ist. „Kostenlose Bildung“ und Kritik an der Neoliberalisierung und Privatisierung wurden zu bestimmenden Themen der neuen Studierendenbewegung. Mit diesen Forderungen griffen die Studierenden den politischen Mainstream konfrontativ an und auch der bevorstehende EU-Beitritt Kroatiens wurde kritisch diskutiert. Deshalb gingen die Proteste, Praxen und Ausblicke weit über das Feld der Hochschulbildung hinaus und positionierten die Universitäten inmitten der Gesellschaft als offene Räume der Auseinandersetzung und Verhandlung gesellschaftlicher Konflikte. Bemerkenswert ist dabei, dass sich aus den Studierendenprotesten eine breitere, linke Bewegung entwickelt hat, die auch intensiv an einer alternativen linken Erzählung und Analyse arbeitet.

Eine neue Linke am Balkan?

Die im Sammelband behandelten Beispiele zeigen, dass nach 20 Jahren der Transformation, des Geredes von wirtschaftlicher Rückständigkeit und der damit einhergehenden zeitweiligen Entbehrungen, diese Erzählung langsam an ihre Grenzen stößt. Wie Kanzleiter feststellt, „kehrt [der Balkan] nach den verheerenden Kriegen der 1990er-Jahre und der Durchsetzung nationalistischer und neoliberaler Regime langsam auf die Landkarte der europäischen Linken zurück.“ Indem der Band all die unzähligen Mosaikstücke emanzipatorischer Kämpfe in Ex-Jugoslawien zueinander in Beziehung setzt und Raum gibt, liefert er einen beeindruckenden Überblick über die Dimension und Intensität der Auseinandersetzung um ein neues linkes Narrativ am Balkan.

  • Michael G. Kraft (Hg.) (2013): Soziale Kämpfe in Ex-Jugoslawien, ISBN: 978385476-621-6, 310 Seiten, Mandelbaum Verlag, Wien: http://www.mandelbaum.de/books/806/7460 externer Link. Aus der Bewerbung: „Nach zwei Dekaden der ökonomischen und sozialen Transformation regt sich in Ex-Jugoslawien Widerstand gegen die verheerenden Auswirkungen neoliberaler Politik, die korrupten Eliten und den Neokolonialismus der Europäischen Union. Spätestens mit der Wirtschaftskrise 2008 und der daraufhin verstärkten Privatisierungs- und Austeritätspolitik wurde die hegemoniale Erzählung freier Märkte immer brüchiger. Zwar sind die Erfahrungen neoliberaler Strukturanpassungspolitik in dieser Region keineswegs neu, doch bilden sich erstmals seit dem Zusammenbruch Jugoslawiens breitere Bewegungen, die für soziale Gerechtigkeit kämpfen und den Kapitalismus in Frage stellen.
    Die im Buch versammelten Texte von TheoretikerInnen und AktivistInnen reichen von den Formen sozialen Widerstands in Slowenien, über die Studierendenbewegung und neue Linke in Kroatien bis hin zu Arbeitskämpfen und Beispielen der ArbeiterInnenselbstverwaltung in Serbien. Das Buch schließt eine geographische Leerstelle und eröffnet eine kritische Gegenperspektive zum hegemonialen EU-Narrativ der »erfolgreichen Osterweiterung«.“
  • Das Buch kann direkt vom Herausgeber erworben werden. Anfragen bezüglich Preis und Lieferzeiten bitte per Email an Kraft_Michael@hotmail.com.
Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=36134
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