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Das Virus und die Klassengesellschaft in Kolumbien: Hunger-Rebellion in den Armenvierteln

Aufstandsbekämpfungseinheit ESMAD in den Straßen Kolumbiens. Foto: Colombia Informa„… Die kolumbianische Regierung von Iván Duque hat am 12. März im Auftrag der Nationalpolizei fünf Panzerfahrzeuge für die umstrittene Aufstandsbekämpfungseinheit ESMAD (Escuadrón Móvil Anti Disturbios) gekauft. Die gepanzerten Fahrzeuge wurden erworben, obwohl die WHO zuvor die Covid-19-Viruserkrankung als Pandemie eingestuft und dazu aufgerufen hatte, die politischen und wirtschaftlichen Kräfte zu bündeln, um die Pandemie zu bekämpfen. Die Verwaltungschefin der Nationalpolizei, Roció Cubillos Rodríguez, bestätigte den Auftrag bei dem Unternehmen 7M GROUP S.A. Das gesamte Auftragsvolumen beträgt 7,9 Milliarden kolumbianische Pesos (1,86 Millionen Euro). (…) Die soziale Organisation Ciudad en Movimiento erklärte: „Während das ganze Land versucht, die durch das Coronavirus ausgelöste globale Krise zu überleben, gibt die Polizei unverschämte acht Milliarden Pesos für fünf Panzerwagen aus. Wo leben wir eigentlich?““ – aus dem Beitrag „Geld für Panzerwagen statt Pandemie“ am 14. April 2020 beim NPLA externer Link über die eindeutigen Prioritäten der rechten Regierung in Kolumbien… Zur Epidemie in Kolumbien und den unterschiedlichen Reaktionen darauf eine kleine aktuelle Materialsammlung:

„Kolumbien in Zeiten der Corona-Pandemie“ von Alejandro Pacheco am 12. April 2020 bei amerika21.de externer Link zur wirtschaftlichen Situation Kolumbiens unter anderem: „… Das Land verfügt über 5.843 Betten in den Intensivstationen, darunter 940 in Bogotá. Die Bezirksbehörden in der Hauptstadt geben an, dass sie zur Bewältigung der Krise 3.000 Intensivpflegebetten allein in der Hauptstadt benötigen. Sie rechnen mit privaten Spenden, um eine Intensivstation im Messegelände Corferias einrichten zu können. Es ist aber noch nicht klar, wie andere Städte die Krise bewältigen werden. In Medellin gibt es laut Gesundheitsbehörden aktuell 380 Intensivpflegebetten, tausend würden gebraucht. Aus vielen Regionen Kolumbiens sind keine oder nur wenige Fälle von Infizierten bekannt; die größten Sorgen bereiten in den Gemeinden die Angst und der Mangel an Lebensmitteln und Gütern des täglichen Bedarfs, wie beispielsweise die Organisation Rios Vivos aus Ituango im Department Antioquia berichtet. Besonders betroffen von der drohenden Notlage sind indigene Gemeinden, deren Bewohner üblicherweise keinerlei sicheres Einkommen und keine Krankenhäuser in Reichweite haben. Das bestätigen auch Wuayúu Gemeinden in La Guajira, im Norden Kolumbiens. Eine Gesundheitskrise ist kein neues Thema in Kolumbien. Das Land hat in den letzten Jahren Erfahrungen mit Dengue1-, Zika- und Chikungunyafieber-Epidemien gemacht. Das Coronavirus hat die Regierung allerdings, so die Auffassung mehrerer Gesprächspartner von amerika21, unvorbereitet erwischt. Basisorganisationen und die politische Opposition beklagen, dass die Krise der Regierung nun dazu dient, genau von den Skandalen abzulenken, derentwegen es seit November 2019 kontinuierlich große öffentliche Proteste gab: Dazu zählen die Vorwürfe, Wählerstimmen mit dem Geld von Drogenhändlern gekauft zu haben, und die anhaltende Mordserie an Aktivisten und Ex-Farc-Kämpfern. Einige strukturelle Grundprobleme Kolumbiens werden durch die aktuelle Krise verschleiert, andere treten deutlicher hervor. Zu letzteren gehören jetzt schon 13 Prozent Arbeitslosigkeit, die höchste in den letzten zehn Jahren; eine geschwächte Währung, die aufgrund der gesunkenen Rohstoffpreise stark eingebrochen ist; 47 Prozent Arbeitende im informellen Sektor ohne Krankenversicherung, Gefängnisse, die bis zu 200 Prozent überbelegt sind...“

 „DIE VERBLIEBENEN“ von Santiago Cemprano im April 2020 bei den Lateinamerika Nachrichten externer Link (Ausgabe 550) (übersetzt von Fabian Grieger) hebt unter anderem hervor: „… Warum gibt es noch Flüge aber keine Busse mehr? Um selbst darüber entscheiden zu können, wo man die Quarantäne verbringt, braucht man eine Menge Geld. Am Nachmittag verabschiedet sich ein Herr an der Minorista per Handschlag von seinem Gesprächspartner und erklärt sogleich das ungewöhnliche Verhalten in Corona-Zeiten: „Herr Pfarrer, ich gebe Ihnen die Hand, weil Gott uns vor dem Virus schützen wird.” Die Idee, dass Quarantäne ein Privileg sei, ist populär geworden. Dabei wäre es angebrachter, sie als ein Recht zu bezeichnen. Angesichts einer Pandemie sollten alle – mit Ausnahme derjenigen, die wichtige Arbeitsplätze haben, damit die Gesellschaft in der Zwischenzeit nicht zusammenbricht – zu Hause bleiben können, bis das Risiko abnimmt. Die Rede von der Quarantäne als Privileg verbirgt die Verantwortung des Staates: dieser müsste einen umfassenden Ansatz für öffentliche Gesundheit verfolgen, bei dem niemand mehr gezwungen wäre, auf die Straße zu gehen und dabei sich selbst und andere zu gefährden. Auf dem Heimweg von der Minorista berechnet ein Taxifahrer, der von einem Obdachlosen gerade ein geklautes Radio gekauft hat, einen absurd hohen Preis für die Fahrt. Es gibt kaum Taxis und so ist der Preis alternativlos. Welche Idee von Gemeinschaft bleibt, wenn wir uns eigentlich alle gegenseitig vor dem Coronavirus schützen müssten, es sich aber einige nicht leisten können, darauf zu achten, weil sie sonst nichts mehr zu essen haben? Hunger oder Coronavirus, wähl deine Folter selbst. Viele, die heute draußen unterwegs sind, werden auch in den nächsten Tagen unterwegs sein. Vielleicht denken sie zuerst an sich selbst als an die anderen. Dabei verleiht das kollektive Mundschutz-Tragen die Illusion einer Gemeinschaft. Das Coronavirus hat zudem etwas Demokratisches: auch Reiche sind erkrankt; Geld macht nicht immun. Doch die finanzielle Sicherheit erlaubt es auch, in Erwartung der nächsten warmen Mahlzeit zu Hause über die Verirrten dort draußen zu twittern...“

„Rohstoffsektor und Agrobusiness nutzen die Pandemie, um ethnische und Umweltrechte zu beschränken“ von Stephan Suhner am 20. April 2020 bei der Arbeitsgruppe Schweiz-Kolumbien externer Link zu unternehmerischem Handeln in der Epidemie: „… Am 3. April 2020 gelangte das Instituto de Ciencia Política Hernán Echavarria Olózaga gemeinsam mit Vertretern von Verbänden, Ex-Ministern und Unternehmern mit einem Brief an Präsident Duque, in dem sie Massnahmen vorschlugen und forderten, um die Wirtschaft möglichst schnell wieder zu dynamisieren. So schlugen sie vor, die Quarantäne je nach Bevölkerungssektor zu organisieren, d.h. dass sie für Personen die Home Office machen können, für Risikogruppen und nicht Erwerbstätige weiterbestehen würde, während Handel und Industrie wieder hochgefahren werden könnten. Der Brief betonte auch die Dringlichkeit, für die rund 9 Millionen Beschäftigten in prekären Situationen, viele davon in Kleinfirmen und im Informellen Sektor tätig, Lösungen zu finden, da diese wenige Reserven haben um eine längere Quarantäne zu überstehen. Weiter wurde vorgeschlagen, dass Geschäfte und Fabriken 24 Stunden am Tag arbeiten respektive offen sein dürfen, z.B. im Schichtbetrieb, um so die Konzentration von zu vielen Menschen zu verhindern. Logischerweise müsse dabei auf die Auszahlungen von Nachtarbeitsentschädigung verzichtet werden, so der Brief. Weiter soll die Arbeitsgesetzgebung weiter flexibilisiert werden, um z.B. Anstellungen stundenweise tätigen zu können. Obwohl verschiedene dieser Maßnahmen kurzfristig in der Krise Sinn machen können, gehen sie doch auch zu Lasten der Arbeitnehmenden und es besteht das Risiko, dass gewisse Maßnahmen ungebührlich verlängert werden oder den Boden für definitive Maßnahmen vorbereiten. Fragezeichen gibt es auch bezüglich der Forderung nach weiteren Steuersenkungen, ist dies doch ein ewiges Anliegen der Unternehmen. Es entsteht das Gefühl, dass COVID-19 auch benutzt werden soll, um weitere Deregulierungen voranzutreiben…

„Die Gefängniskrise in Kolumbien verschärft sich“ am 21. April 2020 im Kolumbien Info externer Link ist ein Kommuniqué über die – in Kolumbien, wie in so vielen anderen Ländern – besonders schwierige Situation in den Gefängnissen (die auch bereits zu verschiedenen Rebellionen geführt hat): „… Die staatliche Gefängnisbehörde INPEC bestätigte am Samstag die ersten beiden Fälle von Coronavirus im Gefängnis La Picota in der Hauptstadt Bogotá. Es handelt sich um zwei Insassen, die am 1. April aus dem Gefängnis Villavicencio in die Hauptstadt verlegt worden waren. Auch in dem Gefängnis in Florencia in der Provinz Caquetá wurde nun ein aus Villavicencio verlegter Häftling positiv auf das Coronavirus getestet. Die Sachverständigengruppe fordert die nationale Regierung auf, alle Hindernisse für einen effektiven Zugang zu häuslicher Haft zu beseitigen und die Gesundheit und das Leben sowohl der Gefängnisinsassen als auch der Gefängnisbeamten auf reale und wirksame Weise zu gewährleisten. Schon seit Wochen fordern die Inhaftierten Straffreiheit oder Mechanismen der häuslichen Haft, jenseits der menschenunwürdigen Haftbedingungen in den überfüllten Gefängnissen, die bisher keinen Plan der Prävention gegen das gefährliche Virus haben. Es sei daran erinnert, dass am 21. März Gefangene aus verschiedenen Gefängnissen des Landes Proteste und Unruhen initiierten. Sie forderten menschenwürdige Bedingungen in den Gefängnissen, die aufgrund ihrer Bedingungen einen Ansteckungsschwerpunkt darstellen würden. Im Gefängnis Modelo von Bogota sollen bei den Unruhen 23 Häftlinge getötet worden sein. Ministerin Margarita Cabello und INPEC-Generaldirektor Norberto Mujica sprachen von einem Fluchtversuch, soziale Organisationen hingegen von einem Massaker an den protestierenden Gefangenen. Die Staatsanwaltschaft richtete ein spezielles Team ein, um diesen Vorgang zu untersuchen...“

„Flagge zeigen gegen den Hunger“ von David Graaff am 22. April 2020 in neues deutschland online externer Link berichtet von Protesten unter anderem: „… »Oft leben die Familien mit mehr als zehn Personen aus mehreren Generationen auf engstem Raum«, erklärt der Vertreter der Bewohner des Viertels La Torre, Carlos Mesa, der an diesem Tag Lebensmittel und Hygienemittel an die Bedürftigsten verteilt, für die private Spender gesammelt haben. »Die Stadtverwaltung hat sich hier bislang noch nicht mit den versprochenen Lebensmittelhilfen blicken lassen und die von der Regierung angekündigten Bargeldzuschüsse reichen besonders für große Familien nicht aus, wenn sie überhaupt bei ihnen angekommen sind.« Umgerechnet mehr als 50 Millionen Euro will die Regierung von Präsident Iván Duque für Hilfen und Unterstützung zur Bewältigung der Folgen der Corona-Pandemie ausgeben. Zusätzlich rund 23 Millionen Euro sollen aus dem Verteidigungshaushalt in die Corona-Maßnahmen fließen. Doch das Prestigeprojekt »Solidarisches Einkommen«, eine Auszahlung von Direkthilfen an rund 3 Millionen Menschen, stockt. Weil die Datenbanken fehlerhaft waren, musste die Ausgabe der Einmalzahlung von umgerechnet 37 Euro gestoppt werden. Rund 1,8 Millionen Bedürftige warten deshalb nach wie vor auf Unterstützung, wie die Wochenzeitung »Semana« berichtete. Auch die von lokalen Behörden angekündigten Lebensmittelhilfen und finanzielle Zuwendungen kommen nur allmählich – rund vier Wochen nach Einführung der Quarantänemaßnahmen – bei den Bedürftigen an. (…) Unterdessen wachsen insbesondere bei der armen Bevölkerung Hunger und Unmut. Landesweit kommt es vor allem in den Armenvierteln der Großstädte seit Wochen zu Straßenblockaden und einzelnen Auseinandersetzungen mit Polizeieinheiten. Medien berichten zudem über Plünderungen von Supermärkten und Lebensmitteltransporten. Basisorganisationen und linke Politiker fordern unter anderem die Einführung eines Grundeinkommens, um den Widerspruch zwischen sozialer Notlage und notwendigen Schutzmaßnahmen in dem Land mit der größten sozialen Ungleichheit auf dem südamerikanischen Kontinent aufzulösen. Ihr Slogan: »Quarantäne ja, aber ohne Hunger«...“

„Colombie. En ce moment à Bogata dans les quartiers sud du prolétariat affamé“ am 17. April 2020 beim Twitter-Kanal von Conseils Ouvriers externer Link ist ein kurzes Video vom Polizeiaufmarsch in einem atmen Stadtteil im Süden der Hauptstadt – und ihrem anschließenden „Abmarsch“, als sich Bewohner zusammen finden, um gegen diese Art der Antwort auf ihre Notlage vorzugehen…

„Observatorio Laboral en tiempos de Coronavirus – Boletín 1“ am 08. April 2020 beim Gewerkschaftsbund CUT externer Link ist ein gemeinsames Projekt mit dem Gewerkschaftsbund CTC und widmet sich der Realität und den Auswirkungen der Regierungspolitik auf die Arbeitswelt – und die der informell Beschäftigten und Erwerbslosen – in Kolumbien „um der Öffentlichkeit die Möglichkeit zu geben, die Politik der Regierung Duque mit jener anderer Regierungen zu vergleichen“. Seitdem sind mehrere Ausgaben dieses Bulletins erschienen.

„GOBIERNO DE IVáN DUQUE AUTORIZA MASACRE LABORAL“ am 20. März 2020 bei der Nahrungsmittelgewerkschaft Sinaltrainal externer Link ist eine extrem kritische Stellungnahme (inklusive Kampfansage) über die ersten arbeitsgesetzlichen Ausnahmeverfügungen während der Epidemie, die allesamt nur gefasst wüden, um den Wünschen der Unternehmen zu entsprechen. Deswegen ruft die Gewerkschaft alle anderen Organisationen dazu auf, darüber zu verhandeln, ob es Sinn mache, zu versuchen, einen Generalstreik zu organisieren.

„Organizaciones populares realizan campaña de denuncia al Estado y de solidaridad entre el pueblo contra el Coronavirus“ am 19. April 2020 bei El Comunero berichtet aus Medellin externer Link (mit Videos und Fotos) über Aktionen sozialer Organisationen (in der einstigen Hauptstadt der Drogenbanden – und der Befreiungstheologie – leben heute rund 2,5 Millionen Menschen) zur Kritik an der Regierungspolitik und zur eigenständigen Organisierung von Solidarität.

„Disturbios en varios lugares de Colombia. Población que no tiene como hacer ingresos ya está pasando hambre“ am 22. April 2020 bei Clahadep-LaHaine externer Link sammelt einige Meldungen über Proteste und Aktionen in verschiedenen Städten Kolumbiens – Ergebnis der schlichten Tatsache, dass in den populären Gegenden der Hunger sich breit macht.

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=170987
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