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“Solidarität kann man nicht verhaften” – Demonstrationen und Proteste gegen die Festnahme des Bürgermeisters von Riace in Süditalien wegen “Begünstigung illegaler Einwanderung”

Dossier

Italien: Hausarrest für Mimmo Lucano, Bürgermeister von Riace löst Proteste ausRund 4000 Menschen haben am Samstagnachmittag im süditalienischen Riace gegen die Festnahme des Bürgermeister des Ortes Mimmo Lucano wegen Begünstigung illegaler Einwanderung protestiert. Die Solidaritäts-Demonstration fand vor dem Haus des festgenommenen Bürgermeisters, der als Symbol der gelungenen Integration von Migranten gilt, statt. (…) Dieser zeigte sich am Fenster der Wohnung, in der er sich seit Dienstag unter Hausarrest befindet und dankte für die Solidarität der Demonstranten. Auch in Mailand fand am Samstagnachmittag eine Kundgebung für Lucano statt, berichteten italienische Medien. „Solidarität kann man nicht verhaften“, lautete der Slogan der Demonstranten. Lucano, seit 2004 Bürgermeister von Riace in Kalabrien, hatte sein Dorf zur Heimat der Flüchtlinge erklärt. Dutzende verzweifelte Menschen auf der Flucht vor Krieg und Not, die in den vergangenen Jahren auf Lampedusa und Sizilien gestrandet waren, fanden in Riace Unterkunft. Die Gemeinde stellt den Migranten Häuser zur Verfügung, die seit der massiven Abwanderung aus Riace nach Norditalien in den vergangenen Jahrzehnten leer standen. Für die Integration der Flüchtlinge leitete der Bürgermeister eine Reihe von Initiativen in die Wege, die das alte Dorf wiederbelebt, das lokale Handwerk gefördert und die Rückkehr zur Landwirtschaft ermöglicht haben…“ aus dem Bericht „Solidaritätsdemo für festgenommenen Bürgermeister in Süditalien“ am 06. Oktober 2018 im Tiroler Tagblatt externer Link, aus dem auch noch deutlich wird, dass die Verfolgung des „anderen“ Lokalpolitikers schon vor dem Regierungswechsel begann. Siehe dazu u.a. einen Beitrag zur Entwicklung in Riace, die Dokumentation der nicht gehaltenen (aber geschriebenen) Ansprache Mimmo Lucanos an die Demonstration und den Hinweis zu einem Twitter-Kanal der Solidarität:

  • Kalabriens Skandalurteil: Mimmo Lucano schaffte als Bürgermeister ein kleines Wirtschaftswunder mitten in der Flüchtlingskrise. Nun soll er 13 Jahre in Haft New
    „Mimmo Lucano galt vielen mal als Held der Migrationskrise. (…) Als „Modell Riace“ wurde Mimmo Lucanos Politik bekannt. In seiner Zeit als Bürgermeister zwischen 2004 und 2018 wusste Lucano die Bedürfnisse der Geflüchteten zu verbinden mit denen seiner 1.800-Seelen-Gemeinde, die mit Abwanderung zu kämpfen hatte. 450 Migrant*innen wurden angesiedelt. Von der Regierung gab es dafür 35 Euro täglich pro Person – wie überall in Italien. Nur dass dieses Geld anderswo häufig von korrupten Kooperativen in eigene Taschen gewirtschaftet wurde, während man die Migrant*innen unter elenden Bedingungen unterbrachte. Mimmo Lucano dagegen nutzte die Staatsgelder als ein kleines Konjunkturpaket, gründete Handwerksbetriebe, in denen Zugewanderte wie Einheimische Arbeit fanden, schaffte Jobs in der Flüchtlingshilfe, öffnete die Dorfschule wieder. „Aufnahme-Keynesianismus“ nannte das mal die Nachrichtenseite true-news.it. (…) Dann kam die Anklage. (…) Die lange Urteilsbegründung für das drakonische Urteil von 13 Jahren liegt nun vor. Auf gut 900 Seiten schreibt der Richter, warum er Lucano so lange weggesperrt sehen will. Es sind der Vorwürfe viele, es deutet aber einiges darauf hin, dass sich hier nicht etwa ein gewiefter Betrüger unter dem Deckmantel der Wohltat selbst bereicherte. Viel eher verstand Lucano nicht viel von Bürokratie, oder kümmerte sich wenig um sie – und verlor den Überblick über das von ihm geschaffene bürokratische Chaos. (…) Man darf getrost von einem Skandalurteil sprechen. Lucano hat zweifellos Vorschriften missachtet, aber ob das strafrechtlich relevant ist, ist strittig. Und dass bei einem Strafmaß von 13 Jahren kein Spielraum nach unten gewesen sein soll, ist schwer zu glauben. Für etwas Kontext muss hinzugefügt werden: Die Ermittlungen gegen Lucano wurden damals gar nicht von der Justiz selbst eingeleitet, sondern vom damaligen Präfekten in Reggio Calabria, Michele Di Bari. Di Bari machte dank seines Verfolgungseifers gegen das „Modell Riace“ Karriere. 2019 beförderte ihn der damalige Innenminister und Lega-Chef Matteo Salvini zum Leiter der „Abteilung für Bürgerfreiheiten und Immigration“ im Ministerium. (…) Das ist wichtig, weil Di Bari erst kürzlich überstürzt zurückgetreten ist. Seine Frau betreibt einen großen Landwirtschaftsbetrieb in Apulien, wofür sie Erntehelfer*innen aus Osteuropa oder Afrika anheuert, die dort in Baracken hausen und schwarz beschäftigt werden. Di Baris Gattin nutzte immer wieder die Dienste von sogenannten Caporali, illegal tätigen „Korporals“, die Migrant*innen solche Elendsjobs vermitteln. 25 Euro netto bekamen die Arbeiter*i­nen für einen Zehnstundentag, die Abende verbrachten sie in einem Albtraum aus Wellblech, Pappe, Plastikplanen. Di Bari scheint zum „Integrationsmodell“ seiner Frau keine weiteren Fragen gehabt zu haben. Den Skandal sah er lieber woanders: in Riace. Tragisch, dass die Justiz ihm darin folgt.“ Artikel von Michael Braun vom 27. Dezember 2021 in der taz online externer Link
  • 13 Jahre Haft für Solidarität: Der ehemalige Bürgermeister eines italienischen Dorfes wurde zu 13 Jahren Gefängnis verurteilt 
    Riace ist ein kleines Bergdorf im süditalienischen Kalabrien, das seit Ende der 1990er-Jahre solidarisch Geflüchtete aufgenommen hat. Das Dorf und sein Bürgermeister Domenico Lucano wurden dafür weltweit bekannt. Mehrere Hundert Schutzsuchende lebten in Riace, das zuvor durch die Abwanderung junger Menschen vom Aussterben bedroht war. Kleine Vereine und Kooperativen schufen Arbeitsplätze für Einheimische und Geflüchtet in Werkstätten, die alte Handwerkskünste der Weberei, Töpferei, Stickerei, Glas- und Holzverarbeitung wiederbelebten und die Produkte an Touristinnen und Touristen verkauften. Auch die Betreuung der Zugereisten brachte Arbeit für die Bevölkerung. All dies verlief nicht konfliktfrei, brachte dem Dorf aber über Jahre einen bescheidenen Aufschwung. Der Bürgermeister setzte sich engagiert für diejenigen ein, die es in sein Dorf verschlagen hatte. Er sagte nie nein, auch wenn die Behörden ihm viele – vielleicht manchmal zu viele Geflüchtete schickten. Es gab finanzielle Unterstützung vom Staat und von der EU für die Aufnahme der Schutzsuchenden, dies war für Lucano jedoch nie das Motiv, sondern für ihn stand die Menschlichkeit im Vordergrund. Sie war ihm auch wichtiger als die Bürokratie, und wenn es nötig war, ging er kreativ und im Sinne der Betroffenen mit den Fördergeldern um. Aber dann schlug – unter Innenminister Salvini – die Repression zu. Im Oktober 2018 wurde Lucano verhaftet, dann aus Riace verbannt und durfte sein Dorf nicht mehr betreten. Mitte dieser Woche nun wurde Domenico (Mimmo) Lucano zu 13 Jahren und zwei Monaten Gefängnis verurteilt, berichtet der britische Guardian am Donnerstag. Der Verurteilte sei erschüttert gewesen. Nach seiner Verbannung hatte es fast ein Jahr gedauert, bis er wieder zurückkehren konnte. Ihm wurde Beihilfe zur illegalen Einwanderung vorgeworfen, und dass er die Fördermittel für die Aufnahme von Geflüchteten nicht ordnungsgemäß verwendet hätte. Auch viele weitere solidarische Bewohnerinnen und Bewohner von Riace wurden angeklagt. Seither fanden mehrere Gerichtsprozesse statt. Immer wieder gab es in Kalabrien, in ganz Italien und auch europaweit Solidaritätsaktionen für Riace. 2017 bekam Domenico Lucano für sein Engagement den Dresdner Friedenspreis. Lucano setzte sich weiterhin für Geflüchtete ein, auch als er nicht mehr Bürgermeister war. (…) Das Urteil ist ein Triumph der Rechten und es vereitelt Lucanos Kandidatur bei den kommenden Regionalwahlen. Salvini frohlockt. Lucano will Berufung einlegen.“ Artikel von Elisabeth Voss vom 01. Oktober 2021 in Telepolis externer Link
  • Friedenspreisträger: Italienischer Ex-Bürgermeister darf in sein Dorf zurück
    “Mit seinem Einsatz für Migranten setzte Domenico Lucano ein Zeichen für Toleranz – und zog den Zorn von Matteo Salvini auf sich. (…) Kaum ist sein ärgster politischer Gegner aus dem Amt, darf Domenico Lucano alias “Papa Mimmo” wieder in sein Dorf zurück. Ein Gericht in der kalabrischen Stadt Locri hat ein Verbot aufgehoben, wonach der wegen seines Einsatzes für Zuwanderer bekannt gewordene frühere Bürgermeister seine Gemeinde Riace nicht mehr betreten durfte. Das berichtet die Nachrichtenagentur Ansa. Als Bürgermeister des nahe der Fußspitze des italienischen Stiefels gelegenen Ortes hatte Lucano in dem von Entvölkerung geplagten Dorf Hunderte Migranten aufgenommen und ihnen Arbeit verschafft. Er wurde dafür mit dem Friedenspreis der Stadt Dresden ausgezeichnet…” Meldung vom 5. September 2019 beim Spiegel online externer Link
  • Die italienische Rechtsregierung verschärft die Konfrontation: Zwangsdeportation von MigrantInnen aus Riace
  • „Riace. Il discorso di Mimmo Lucano, letto in piazza“ am 08. Oktober 2018 bei Contropiano externer Link ist die Dokumentation des Briefes, den Lucano an die TeilnehmerInnen der Solidaritäts-Demonstration richtete, worin er Bedauern äußert, nicht dabei sein zu können, denn diese Aktion gelte zwar vordergründig ihm – wofür er sich bedankt – im Wesentlichen aber der Verwirklichung des Traums einer humanen Gesellschaft, den kommenden Tagen, in denen die Freiheit stärker sein werde als die Barbarei.
  • „Italien: Hausarrest für Bürgermeister von Riace löst Proteste aus“ von Allison Smith am 10. Oktober 2018 bei wsws externer Link berichtet von der Vorgeschichte der Demonstration: „Schätzungsweise 6000 Menschen versammelten sich am Samstag in den Gassen von Riace und vor Lucanos Haus, um gegen den Hausarrest zu protestieren. Die italienische Steuerbehörde beschuldigt ihn, Scheinehen für Migranten zu begünstigen und öffentliche Gelder zu missbrauchen. Auch in Mailand und Rom kam es zu Protesten. Viele Sympathisanten verurteilten auf Twitter seine Festsetzung und prangerten die „faschistische“ Einwanderungspolitik der Regierung an. Laut den Behörden sollen Lucano und sein Partner Tesfahun Lemlem in einem abgehörten Gespräch eingeräumt haben, die Heirat einer Nigerianerin arrangiert zu haben, um ihre Abschiebung zu verhindern. Lucano wird außerdem beschuldigt, bei der Vergabe von Aufträgen für die Müllabfuhr einwandererfreundliche Unternehmen begünstigt zu haben – ein „Verbrechen“, das vor allem die lokale Mafia ärgert. In Riace sind schon seit 1998, seitdem ein Schiff kurdischer Einwanderer an der Küste strandete, Immigranten und Asylbewerber willkommen. Lucano will nicht nur die Menschen vor Abschiebung schützen, sondern er hat gleichzeitig das Städtchen, das viele Einwohner durch Abwanderung verlor, vor dem völligen Wirtschaftskollaps gerettet. Die Einwohnerzahl ist wieder angestiegen und beträgt heute über 1500, darunter 400 Immigranten aus zwanzig Ländern. Die Migranten haben Wohnungen und Arbeit erhalten. Sie arbeiten im Wiederaufbau und dem Unterhalt der Straßen und Häuser, als Bäcker oder Müllmann, und sie führen Cafés und lokale Handwerksbetriebe. Die Politik des Bürgermeisters hat internationale Beachtung gefunden, aber in Italien hat sie den Zorn der Regierung auf sich gezogen. Die Entscheidung, Lucano unter Hausarrest zu stellen, erfolgte auf der Grundlage von Beschlüssen des EU-Einwanderungsgipfels von Ende Juni…“
  • „#iostoconmimmolucano“ externer Link ist der Twitter-Kanal der Solidaritätskampagne mit Mimmo Lucano, über den nicht nur die Solidaritätsdemonstration organisiert wurde, sondern auch weiterhin daran gearbeitet wird, seine Freiheit zu erkämpfen.
  • Siehe zum Hintergrund auch unser Dossier: Italienische Flüchtlingspolitik
Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=138503
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