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Was die rechte italienische Regierung unter „Würde“ verstanden sehen möchte: Kosmetik und Einführung eines HartzIV-Zwangssystems

Broschüre der USB zum neuen italienischen Sozialgesetz am 1.1.2018Zugegeben: In einem Land, dessen Sprache den Begriff „Würde“ nahezu ausschließlich in Zusammensetzungen kennt (Menschenwürde, wie auch immer erworbene Ehrendoktor…), ist es nicht so ganz einfach, über politische Vorgänge in Ländern zu urteilen, in denen der Begriff eine ganz andere Rolle spielt, wie etwa Rund ums Mittelmeer (samt den postkolonialen Erben anderswo). Und wo hierzulande der fleißige (modernisiert: Leistungsbereite) – also: gehorsame – Mensch als Leitbild verschiedenster politischer Strömungen dient, ist in solchen Ländern die Frage durchaus im Alltag präsent, ob die Würde einer Person bei einer bestimmten, keineswegs wirklich freiwilligen, Tätigkeit gewahrt bleibe. Dass das erste Gesetz, das die neue italienische Rechtsregierung verabschiedet hat, den Titel „Dekret Würde“ trägt, und in dem ganzen Sammelsurium von Maßnahmen in verschiedensten Bereichen direkt auf die Fahrradkuriere und ihre Entwürdigung Bezug nimmt, ist also keineswegs eine solche Überraschung, als die sie hierzulande des Öfteren medial behandelt wurde. So wenig, wie etwa eine Einschränkung der Dauer, in der Menschen mit Zeitarbeitsverträgen zu besonderer Unsicherheit und Erpressbarkeit verurteilt werden. Und während in Italien die Unternehmerverbände „not amused“ reagierten – selbstverständlich mit gleichklingendem Echo in bundesdeutschen Medien – und gar die Universitäten ihre Forschung zusammen brechen sahen (nicht etwa durch die Prekarisierung, sondern durch ihre angebliche Begrenzung), sahen die meisten Betroffenen und gewerkschaftliche Organisationen dieses Würde-Dekret ganz anders: Ein Berg, der eine Maus gebar – das war noch die freundlichste der entsprechenden Bewertungen, während die meisten das ebenfalls enthaltene angebliche Grundeinkommen als genau das kritisieren, was es ist: Eine HartzIV-Kopie auf italienisch. Siehe zum italienischen Würde-Dekret und seiner Bedeutung für eine reaktionäre nationalistische Sozialpolitik die aktuelle Materialsammlung „Die Würde der Lakaien“ vom 14. August 2018:

„Die Würde – der Lakaien“

„Arbeitsmarktreform in Italien“ am 09. August 2018 war eine dpa-Meldung externer Link (hier in der jungen welt), in der berichtet wurde: „Italiens Parlament hat am Dienstag abend eine Arbeitsmarktreform beschlossen. Das Gesetz mit dem Namen »Dekret Würde« sieht u. a. vor, dass die Laufzeit befristeter Verträge von bisher 36 Monaten auf zwölf Monate reduziert wird. In Ausnahmefällen seien 24 Monate möglich. Diese befristeten Verträge dürfen künftig nur noch vier- statt fünfmal verlängert werden. Weiterhin müssen Unternehmen künftig höhere Abgaben für Leiharbeit entrichten und strengere Auflagen erfüllen. Das Gesetz geht auf ein Wahlversprechen des Bündnisses »Fünf Sterne« zurück…

„Lässt sich Italiens Wirtschaft mit Würde retten?“ von Almut Siefert am 24. Juli 2018 in der Sächsischen Zeitung externer Link war, zum Zeitpunkt der Parlamentsdebatten und der Verabschiedung des Dekrets, ein beispielhafter Artikel zu diesem Schritt der italienischen Rechtsregierung – beispielhaft für bundesdeutsche Medien, unter anderem wegen solcher Passagen: „In den vergangenen Jahren hat sich die Situation zwar verbessert, allerdings nur langsam. Die Arbeitslosenquote liegt derzeit bei 10,7 Prozent, dem niedrigsten Stand seit sechs Jahren, die der jugendlichen Arbeitslosen sank in einem Jahr um 4,6 Prozent auf heute 31,9 Prozent. Ex-Ministerpräsident Matteo Renzi betont gerne, dass durch seine Reformen eine Million Arbeitsplätze entstanden seien. In den vergangenen vier Jahren ist aber vor allem die Zahl der befristeten Arbeitsverträge um 726 000 gestiegen. /Wie sehen die künftigen Regeln für befristete Verträge aus?/ Befristete Verträge dürfen künftig längstens für 24 statt 36 Monate ausgestellt werden, und können nur noch maximal vier statt wie bisher fünf Mal befristet erneuert werden. Mit jeder Verlängerung erhöhen sich die Sozialabgaben für den Arbeitgeber um 0,5 Prozent. Für eine befristete Verlängerung nach 12 Monaten müssen zusätzlich außergewöhnliche Gründe vorliegen. / Kritiker warnen, dass das „Dekret Würde“ der Wirtschaft Italiens schaden wird. Warum?/ Es fehlen Anreize für die Unternehmer, die bisherigen befristeten Arbeitsverträge in unbefristete umzuwandeln, stattdessen besteht die Gefahr, dass sie einfach einen neuen Arbeitnehmer erneut befristet einstellen. Silvio Berlusconi, Chef der Forza Italia, befürchtet sogar, dass Di Maios Dekret die Schwarzarbeit fördert. Tito Boeri, der Chef der italienischen Sozialversicherung INPS, warnt, die Maßnahmen der neuen Regierung würden in den kommenden zehn Jahren 80 000 Arbeitsplätze kosten. Für die Confindustria, die größte Arbeitgeberorganisation Italiens, liegt das Problem weniger in der Begrenzung der Höchstdauer auf 24 Monate, sondern mehr in der Einführung der speziellen Begründung für eine Befristung. Diese könnte zu einer Flut an Klagen führen. Auch an den Universitäten ist man alarmiert: Die neue Regelung würde die Forschung Italiens gefährden. Die Arbeitsverhältnisse an den Universitäten würden befristet, weil sie von der Finanzierung einzelner Forschungsprojekte abhingen. Ohne befristete Verträge würde das ganze System kollabieren, Italiens Wissenschaft nicht mehr wettbewerbsfähig sein…

„Ein Minusgeschäft für die Industrie?“ von Tassilo Forchheimer am 05. Juli 2018 in der tagesschau externer Link – der bayerische Korrespondent des bundesdeutschen Leitmediums kam gleich direkt zur Sache – der Unternehmen: „Jetzt hat die neue Regierung erste wirtschaftspolitische Maßnahmen angekündigt, die sich bei näherem Hinsehen vor allem als psychologische Streicheleinheiten für die eigene Klientel erweisen. Anstatt befristeter Beschäftigungsverhältnisse sollen die italienischen Arbeitnehmer wieder mehr unbefristete Verträge bekommen. Das möchte Wirtschaftsminister Luigi Di Maio durchsetzen und bedient sich dabei einer drastischen Sprache: „Wir versetzen den prekären Arbeitsverhältnissen den Todesstoß“, sagt der politische Chef der Fünf-Sterne-Bewegung. Es gehe darum, den Menschen ihre Würde zurückzugeben. Erreichen möchte der Minister dies durch eine Herabsetzung der maximalen Befristungsdauer auf zwölf Monate, die nur einmal und auch nur mit Begründung verlängert werden kann. Darüber hinaus soll es weitere arbeitnehmerfreundliche Gesetze geben, zum Beispiel höhere Abfindungen bei ungerechtfertigten Entlassungen.(…) Rein statistisch liegt Italien bei den Befristungen zwar noch unter dem EU-Durchschnitt, in der politischen Diskussion hat das Thema aber einen sehr hohen Stellenwert – vor allem bei jungen Menschen, die sich angesichts des mageren Wirtschaftswachstums noch immer sehr schwer tun, feste Jobs zu finden…“ – dass der vermutlich nicht per Zeitvertrag arbeitende Sohn aus Seehofers Landen (gibt es eigentlich ein BMW-Werk in Italien oder heißt da alles Fiat?) in der Begrenzung der Zeitarbeit Klientelpolitik sieht, mag für seinen Standpunkt kennzeichnend sein, für ernsthafte – bürgerliche – politische Beobachter war es mehr ein Versuch, den Einfluss der politischen Kräfte, die die Regierung bilden, zu stärken.

„Hartz-IV heißt in Italien jetzt Grundeinkommen“ von Peter Nowak am 12. August 2018 bei telepolis externer Link hat – im Gegensatz zu den beiden vorherigen Beiträgen – nicht die Sorgen der Unternehmen als Thema, sondern hält fest: „Dabei gerät in Vergessenheit, dass die Lega Nord eigentlich der kleinere Koalitionspartner ist. Die größere Regierungspartei ist die Fünf-Sterne-Bewegung (Movimento 5 Stelle – M5S), die sich brüstet, weder links noch rechts zu sein; sie gibt sich als Interessenvertreterin von prekär Beschäftigten aus, die in schnell bezahlten Arbeitsplätzen ohne Unterstützung großer Gewerkschaften leben. Da die Pläne der Fünf-Sterne-Bewegung auch die Rücknahme einiger wirtschaftsliberaler Reformen der letzten Jahre beinhalteten, sahen EU-Gremien eine neue Krise heraufziehen. Der Regierungsantritt verzögerte sich um einige Tage, weil sich der italienische Staatspräsident als Interessenvertreter der Märkte gerierte und einen Minister wegen einiger eurokritischer Äußerungen ablehnte. (…) Auch die Einführung eines auch in Deutschland in sozialen Bewegungen heftig diskutierten Grundeinkommens gehört zu den Forderungen der Fünf-Sterne-Bewegung. Die erste Rechtsregierung, die ein temporäres begrenztes Grundeinkommen einführte, war die finnische. Nun ist ja schon lange bekannt, dass es ganz unterschiedliche Konzepte unter dem Label Grundeinkommen gibt. Auch in Deutschland favorisieren besonders wirtschaftsliberale Ökonomen bestimmte Grundeinkommensmodelle. An dem italienischen Modell könnten sie besonderen Gefallen finden, handelt es sich doch um eine besondere Form des Framing. Man nimmt einen eher positiv besetzen Begriff für eine unpopuläre Maßnahme und schon ist die mediale Reaktion positiv. Die 780 Euro erhält ein Single, der kein weiteres Einkommen hat. Für eine vierköpfige Familie ohne Einkommen gibt es maximal 1.950 Euro, rechnet der Korrespondent des Stadtanzeigers vor. Verdient der Single-Haushalt ein wenig, dann stockt der Staat das Einkommen bis auf 780 Euro auf. (…) Dazu muss der Betroffene dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen, aktiv und nachweislich nach Arbeit suchen und auf Anweisung gemeinnützige Arbeiten ausführen, sich weiterbilden. Wer drei Jobangebote ablehnt, der verliert seinen Anspruch auf ein Einkommen knapp unterhalb der Armutsgrenze. Da werden die Spindoktoren der Schröder-Fischer-Regierung sich ärgern, dass sie nicht auf die Idee kamen, das Verarmungsprogramm Agenda 2010 „Grundeinkommen“ zu nennen…

„“Decreto dignità” – La montagna e il topolino“ am 30. Juni 2018 in Rivoluzione externer Link war ein redaktioneller Artikel der (trotzkistisch orientierten) Webzeitschrift, die aber in der inhaltlichen Kritik durchaus als beispielhaft für die Positionierung der (heute auch nicht mehr größeren als in der BRD) politischen Linken in Italien stehen kann. Dabei wird das Thema Grundeinkommen anhand eines Interviews mit dem 5 Sterne-Lega Mord Minister di Maio behandelt, in dem dieser meinte, seine vorgeschlagene Maßnahme (eben das angebliche Grundeinkommen per Zwang a la Schröder/Fischer)  werde den „Krieg zwischen Unternehmern und Beschäftigten beenden“ – was die Autoren zu Recht zunächst mit der Frage kontern, wer hier eigentlich gegen wen Krieg führe. Im weiteren befassen sich die Autoren vor allem mit der Behauptung di Maios, sein Dekret sei eine Kampfansage an neoliberale Gesetze wie der berüchtigte Jobs Act des wenig feinen Herrn Renzi (dieser Schröder Italiens hat seine Partei vor allem damit, was die Wählerstimmen betrifft, genauso zum Absturz gebracht, wie sein teutonisches Vorbild die Seine). Wobei ausführlich und konkret nachgewiesen wird, dass eben genau dies verlogen ist, sondern es sich um eine Aktualisierung des reaktionären Jobs Act handelt.

„Più propaganda che dignità nel decreto Di Maio“ von Maurizio Minnucci am 08. August 2018 be Rassegna Sindacale externer Link ist ein Beitrag auf der Webseite der dem größten Gewerkschaftsbund CGIL sehr nahe stehenden Einrichtung zum Dekret – ein Gespräch mit der CGIL Sekretärin Tania Scacchetti, die zur Frage, ob dieses Dekret tatsächlich gegen den Jobs Act Renzis vorgehe, es zum einen vermeidet, diesen Jobs Act besonders zu charakterisieren (die Geschichte zwischen der Regierung Renzi und der CGIL ist eine lange und auch jenseits der Alpen bekannten Mustern folgende)  und zum Anderen eine Art mehr sowohl als auch festhält, mit dem Überwiegen kritischer Punkte, so dass sie am Ende eben zur der titelgebenden Einschätzung kommen kann, es sei beim _Dekret mehr Propaganda als Würde enthalten.

„Dignità? Quando riconquisteremo l’articolo 18 e abrogheremo il Jobs act!“ am 03. Juli 2018 bei Opposizione CGIL externer Link ist Stellungnahme und Aufruf der organisierten Gewerkschaftsopposition zum Würde-Dekret. Darin wird vor allem hervor gehoben, dass Renzis berüchtigter § 18 – der eine historische Erleichterung für Entlassungsterror darstellt – noch nicht einmal eine kosmetische Veränderung erfahre. Wie auch zahlreiche andere reaktionäre sozialdemokratische Reformen der sozialen Nachkriegsordnung Italiens unangetastet bleiben. Mehr Würde, so die Zusammenfassung der Position werde es erst geben, wenn § 18 und der Jobs Act völlig gestrichen seien.

„Il Decreto Dignità è Legge: cosa accadrà nel Commercio?“ am 10. August 2018 bei Gewerkschaftsbund USB externer Link ist eine Stellungnahme zum Würdedekret, das sich auf einen Bereich konzentriert, der von wirklichen Maßnahmen am meisten betroffen sein müsste: Den Einzelhandel. Für die rund 60% unter prekären Bedingungen Beschäftigten der Branche habe keine der Maßnahmen eine wirklich ernsthafte irgendwie positive Auswirkung, so die Gesamtbilanz – die mit der Forderung nach einem Gespräch mit Arbeitsminister di Maio beendet wird…

„Contro la propaganda del governo, sciopero generale!“ am 09. August 2018 bei der Basisgewerkschaft SI Cobas externer Link ist eine Stellungnahme, die das Würde-Dekret als eine unwürdige Propagandaschau bezeichnet und der Desinformationskampagne des Arbeitsministers unter anderem eine Studie über die Region Veneto entgegen hält, anhand derer die Unwirksamkeit seiner Maßnahmen deutlich gemacht wird. Die ganzen neoliberalen Reformen dieser Regierung, wie auch die ihrer diversen Vorgänger, ließen sich SI Cobas zufolge, nur durch den Kampf, mündend in einen echten Generalstreik abschaffen.

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=136067
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