»
Italien »
»

Sergio Bologna: „Wir dürfen der extremen Rechten nicht die Idee der Freiheit überlassen!“

Genova antifascistaDieser Text unseres langjährigen Autors Sergio Bologna ist vor kurzem als Debattenbeitrag zur Analyse der Bewegungen der Impfverweigerer in Italien in der Zeitschrift „Officina Primo Maggio“ erschienen. Wir haben ihn übersetzt, weil der Text aus Sicht der Redaktion eine Bedeutung weit über die aktuelle Situation in Italien hinaus hat und viele Parallelen auch zur Diskussion in Deutschland, ja allgemein zur Situation im Westen aufweist. Im Zentrum seiner Analyse steht der Begriff der Freiheit, der unter der trumpistischen Rechten zu einem Mantra geworden ist, das aber eigentlich nur die Freiheit des Kapitals in seiner neoliberalen Form nachbetet. Skizzenhaft führt Bologna die Entwicklung der Impfverweigerungsszene auf die Durchsetzung einer neuen Entwicklungsstufe der Produktivkräfte zurück, in denen die Macht der Internetgiganten die Beziehungen zwischen Kapital und Arbeit neu strukturiert. Er kritisiert den Mangel historischen Bewusstseins bezüglich linker Konzepte in der Gesundheitspolitik angesichts der Coronapandemie und weist Forderungen nach einem staatlichen Verbot faschistischer Parteien wegen jüngster Angriffe auf die Gewerkschaften zurück, weil er vertritt, dass die Auseinandersetzung mit diesen Kräften Aufgabe der Linken sei…“ Vorwort zur Vorveröffentlichung aus Heft 31 am 19. Januar 2022 bei Sozial.Geschichte Online des Artikels von Sergio Bologna externer Link in der Übersetzung durch Lars Stubbe

  • Wichtig darin u.a.: „… Wir sollten die Impfverweigerungsbewegung nicht mit den Protesten gegen den „Green Pass“5 verwechseln. Es handelt sich um zwei verschiedene Dinge, die wir getrennt behandeln müssen. Dass es ihr gelang, diese Dinge miteinander zu vermischen, hat der extremen Rechten die Führung in den Demonstrationen auf der Straße übergeben. Und daran zeigt sich das Ausmaß der Konfusion, das in den Köpfen so vieler Genoss:innen, Arbeiter:innen und mutigen Menschen herrscht…“
  • Siehe für Deutschland unser Dossier: Gefährliche Coronaproteste: Eine rechte Massenbewegung und zu Italien auch:
  • Ein Gespräch mit dem Autorenkollektiv Wu Ming über Kritik an Italiens Pandemiepolitik: »Der Green Pass ist ein reines Propagandainstrument«
    Das linke Autorenkollektiv Wu Ming spricht im Interview über Proteste gegen den sogenannten Green Pass in Italien, Verschwörungsglauben und radikale Kritik an der Pandemiepolitik.
    [Verantwortlich für den Angriff auf die CGIL vom 9. Oktober (siehe Infokasten) waren Neofaschisten. All­gemein kann man feststellen, dass die extreme und sonstige Rechte bei den Protesten gegen das Pandemiemanagement stark vertreten ist. Warum halten Sie die Bezeichnung der Mobilisierungen gegen den Green Pass als ausschließlich faschistisch für falsch?] Bereits im Frühjahr 2020 hatten wir vermutet, dass der soziale Unmut sich entladen würde, sobald die Angst vor dem Virus nachlässt. Wir schrieben, dass die fehlende Kritik am Umgang der ­Regierung mit der Pandemie den unvermeidlichen Protest in etwas sehr Verwirrendes und Zweideutiges verwandeln würde, das der extremen Rechten und verschiedenen Verschwörungstheoretikern dient. Wir kritisieren auch einen Großteil der Linken scharf, die eine »virozentrische« Sichtweise vertraten, das heißt, sie konzentrierten sich ausschließlich auf die Ansteckungsgefahr und sprachen kaum darüber, dass das politische Management der Pandemie irrational, ungerecht und heuchlerisch war. Wir kritisierten die Leichtigkeit, mit der Etiketten angebracht wurden, sowie das Festhalten am von uns so genannten »pandemischen sozialen Frieden« der Regierung Draghi (Mario Draghi ist seit dem 13. Februar 2021 Ministerpräsident Italiens, Anm. d. Red.) aus Angst, »das Gleiche wie die Rechten« zu sagen. Die Mobilisierungen strotzen ja auch vor ideologischem Müll. (…)
    Auf vielen Kundgebungen sind die Faschisten abwesend oder irrelevant, auf anderen sind sie da und versuchen offensichtlich, ihre schmutzigen Manöver zu machen, aber vielleicht haben sie nur in Rom eine gewisse Bedeutung. Ansonsten ist diese Bewegung wild, sie entzieht sich jedem Interpretations­parameter, und keine politische Kraft schafft es, eine wirkliche Hegemonie zu erringen.
    Die Ausdehnung des Green Pass auf alle Arbeitsbereiche führt zu immer mehr Ungereimtheiten und Widersprüchen. Es wird immer offensichtlicher, dass diese Maßnahme ein Weg ist, alle Verantwortung nach unten abzuschieben, auf die einzelnen Bürgerinnen und Bürger. Der Green Pass wurde als der Tropfen empfunden, der das Fass zum Überlaufen brachte, nach zwei Jahren, die das Leben so vieler Menschen zerstört haben.
    Es ergibt wenig Sinn, über den angeblichen Missbrauch des Begriffs »Freiheit« bei diesen Mobilisierungen zu philosophieren. Das geht an der Sache vorbei, denn meistens geht es den Teilnehmenden nicht um Freiheit, sondern um ihre eigene Proletarisierung. (…)
    Individualismus und Egoismus sind eine Sache; die Sphäre der Autonomie, die jeder Mensch genießen muss, ist eine andere. Ohne diese Unterscheidung kommt es zu einer schrecklichen Verwirrung und wir enden damit, dass wir den Autoritarismus befürworten, noch dazu in einem kapitalistischen Kontext, ohne auch nur den Vorwand der Diktatur des Proletariats! Wichtig ist vor allem, dass diese Art der Pandemiebewältigung die kollektive und soziale Dimension angreift, die Beziehungen zwischen den Menschen. »Freiheit« bedeutet in diesem Zusammenhang auch die Freiheit, gemeinsam zu leben, zu streiten, zu demonstrieren. Sich darauf zu beschränken, dies alles als »faschistisch« zu bezeichnen, ist zumindest ein Zeichen von ideologischer Verblendung. (…)
    Alle Basisgewerkschaften, sogar die größte italienische Gewerkschaft, die CGIL, die früher kommunistisch war und jetzt sozialdemokratisch ist, haben sich dagegen ausgesprochen. All diese Personen sehen den Pass als Synthese der neoliberalen und technokratischen Logik, mit der die Pandemie in Italien gemanagt wurde, sowie als diskriminierendes Instrument, das der weiteren Verschärfung der Kontrolle der Arbeitgeber über die Arbeitskräfte dient. (…)
    Es stimmt nicht, dass der Green Pass notwendig war, um die Menschen zur Impfung zu bewegen. Als er eingeführt wurde, war die Impfkampagne bereits in vollem Gange, die Impfquote in Italien lag bereits bei fast 80 Prozent. Beim Schulpersonal lag sie bei fast 90 Prozent, im Gesundheitswesen war sie sogar noch höher. Zwei Monate nach der Einführung ist die Rate nur minimal gestiegen. Es gab nicht nur keinen wirklichen Anreiz zum Impfen, sondern die Arroganz der Regierung hat den Widerstand noch verstärkt.
    Der Green Pass ist ein reines Propagandainstrument, ein diskriminierendes Instrument, das Millionen von Menschen, die nichts Illegales getan haben – es gibt ja keine Impfpflicht –, durch soziale Isolation oder Verlust des Arbeitsplatzes bestraft. Es ist ein Instrument, das den Arbeitgebern eine noch nie dagewesene Kontrolle über die Arbeitnehmer ermöglicht…“ Interview von Federica Matteoni am 11.11.2021 in der Jungle World online externer Link, siehe auch https://www.wumingfoundation.com/giap/ externer Link
  • sowie unser Dossier: Corona-Krise in Italien: Auch eine soziale Krise
Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=197096
nach oben