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„Ja, Israel hat de facto ein Apartheidsystem“

Logo der israelischen Anarchists against the wall„Das wird ein langer Kampf“: Gespräch von Raoul Rigault mit einem Aktivisten von Anarchists against The Wall hier in Vollfassung (ursprünglich am 22. Juli 2015 in der jungen welt), worin es unter anderem heißt „Die Frage ist nicht „wie viele Staaten“ oder wie die juristischen Formalitäten eines künftigen Abkommens aussehen, sondern ob die Palästinenser weiterhin direkt oder indirekt von Israel kontrolliert werden. Eine echte Unabhängigkeit ist in der absehbaren Zukunft, das heiß den nächsten 5 bis 15 Jahren, schwer vorstellbar. Wie auch immer die rechtlichen Details aussehen, wird die Abhängigkeit von Israel in Sachen wirtschaftliche Entwicklung, persönliche Sicherheit und vielen anderen Aspekten des täglichen Lebens weiter andauern. Der Kampf für palästinensische Unabhängigkeit und Selbstbestimmung ist ein langfristiger Kampf

„Das wird ein langer Kampf“

Gespräch mit Roy, einem Aktivisten der israelischen Anarchists against the Wall, dessen Einschätzungen nicht mit der Gesamtgruppe abgestimmt sind

Raoul Rigault

Seit zwei Monaten hat Israel eine neue Regierung. Ist dieses Kabinett noch aggressiver und rechter als das vorherige?

Die Leute neigen dazu den personellen Veränderungen in der israelischen Regierung zu viel Bedeutung beizumessen. Alle zionistischen Parteien haben, was die Palästinenser anbelangt mehr oder weniger dieselbe Sichtweise und betreiben ihnen gegenüber eine ähnliche Politik.

Was haben wir also von stramm rechten Ministern wie Naftali Bennett, Agelet Shaked oder Uri Ariel zu erwarten?

Noch mehr von dem, was die letzte Exekutive gemacht hat. Wesentliche Veränderungen sehe ich nicht.

Gibt es noch eine Chance für die Zwei-Staaten-Lösung oder nur noch für Bantustans?

Die Frage ist nicht „wie viele Staaten“ oder wie die juristischen Formalitäten eines künftigen Abkommens aussehen, sondern ob die Palästinenser weiterhin direkt oder indirekt von Israel kontrolliert werden. Eine echte Unabhängigkeit ist in der absehbaren Zukunft, das heiß den nächsten 5 bis 15 Jahren, schwer vorstellbar. Wie auch immer die rechtlichen Details aussehen, wird die Abhängigkeit von Israel in Sachen wirtschaftliche Entwicklung, persönliche Sicherheit und vielen anderen Aspekten des täglichen Lebens weiter andauern. Der Kampf für palästinensische Unabhängigkeit und Selbstbestimmung ist ein langfristiger Kampf.

Der Fall der getrennten Busse für Juden und Araber hat international für Schlagzeilen gesorgt. Denkst Du, dass Israel ein faktisches Apartheidsystem hat?

Ja, Israel hat de facto ein Apartheidsystem. Palästinenser werden in Bezug auf ihr Recht auf Mobilität, Sicherheit, faire Gerichtsverfahren, Eigentumsrecht und Landbesitz, Stadtplanung, Zugang zu Ressourcen (wie z.B. Wasser; jW) anders behandelt. Die Busse sind da eher zweitrangig. Unsere politischen Vorstellungen sind allerdings stark vom Bürgerrechtskampf in den USA geprägt. Deshalb schenken wir der Trennung in den Bussen so viel Aufmerksamkeit. Aber das ist nur die Spitze des Eisbergs.

Wieviel Widerstandswillen hat die Masse der Palästinenser noch? Und wie beurteilst Du die Situation der wichtigsten Parteien Fatah, Hamas und der linken PFLP, DFLP etc.?

Die Bereitschaft zum Widerstand ist nicht das Problem, sondern mit welchen Mitteln er erfolgreich sein kann. Die israelische Kontrolle ist so stark, dass alle Formen des Widerstandes – gewaltsame genau wie gewaltfreie – schnell eingedämmt werden. Die aktuelle Hoffnung ist die Kampagne für einen Boykott, Abzug von Investitionen und Verhängung von Sanktionen (BDS) gegen Israel. Aber wir müssen erst noch sehen, ob sich so eine kritische Masse an Druck aufbauen lässt. Den Zustand der palästinensischen Parteien kommentiere ich lieber nicht. Diese Frage sollte man den Palästinensern stellen.

Wird es unter der neuen Regierung Netanjahu eine Intensivierung der neoliberalen Politik gegen Arbeiter und die armen Teile der jüdischen Bevölkerung geben?

Einerseits gibt es sicherlich mehr neoliberale Attacken gegen Arbeiter und Arme. Andererseits existiert aber auch eine stärkere Antwort der breiten Masse in Form von gewerkschaftlicher Organisierung und Bürgerinitiativen für mehr Sozialstaat. Politische Parteien werden in Israel in erster Linie nach ihrer Rhetorik in Bezug auf die Besatzungspolitik beurteilt, was nicht wirklich zu Unterschieden in der aktuellen Politik führt. Das ökonomische Profil bleibt daher eher unklar. Die meisten zionistischen Parteien in Israel haben starke neoliberale Tendenzen, gleichzeitig gehören ihnen aber auch nicht unwichtige Aktivisten und Abgeordnete an, die sich für den Sozialstaat stark machen. Deshalb ist schwer zu sagen, wie sich die Dinge entwickeln werden. Im Augenblick vertritt die ultra-orthodoxe Shas-Partei Positionen für einen Ausbau der Wohlfahrt. Es bleibt aber abzuwarten, ob ihre Errungenschaften am Ende nur der eigenen Klientel (armen Mizrahi-Juden) zugutekommen oder allen Armen in Israel.

In den letzten Monaten gab es heftige Proteste der aus Äthiopien eingewanderten Juden gegen rassistische Diskriminierung. Sind auf diesem Gebiet Verbesserungen zu erwarten?

Die äthiopischen Antirassismus-Proteste waren, genau wie die Sozialproteste im Sommer 2011, stark und inspirierend. Aber genau wie 2011 ist nicht klar, ob die Äthiopier dauerhafte Resultate zeitigen werden oder daraus eine langlebige organisatorische Infrastruktur für künftige Aktionen entsteht. Das hängt davon ab, ob die Regierung führende Köpfe der Äthiopier einbinden und die Forderungen auf ein Abstellgleis schieben kann, indem sie für selbst für neue Krisen sorgt, die die öffentliche Aufmerksamkeit ablenkt. Wie wir vom Kampf der ultraorthodoxen Mizrahis lernen können, wird das ein langer Prozess mit vielen Höhen und Tiefen.

Letzte Frage: Nachdem der französische Telefonkonzern Orange laut darüber nachgedacht hat, keine Geschäfte mit Israel mehr zu machen, gab es wütende Reaktionen von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu. Hat die BDS-Kampagne jetzt einen entscheidenden Punkt erreicht, was den Druck auf die Regierung in der Besatzungspolitik anbelangt?

Ich denke nicht, dass wir bei der BDS-Kampagne schon nahe an einer kritischen Masse sind. Aber wir befinden uns definitiv in einem Aufwärtstrend. Möglich, dass wir in ungefähr fünf Jahren an dem Punkt ankommen. Das hängt allerdings von vielen Einflussfaktoren ab, die sich der Kontrolle der Bewegung entziehen (wirtschaftliche Lage, globale Konflikte etc.).

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=83836
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