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Trotz allen Terrors, trotz verkündeter Ausgangssperre: Massenprotest im Irak wächst ständig weiter

Bagdad und der ganze Irak erleben neue Proteste - Polizei erschießt zwei Menschen„… In der irakischen Hauptstadt Bagdad gilt ab sofort eine nächtliche Ausgangssperre. Wie das Staatsfernsehen berichtet, wurde sie vom Militär für den Zeitraum von jeweils null bis sechs Uhr verhängt. Im Irak haben sich mittlerweile den vierten Tag in Folge in mehreren Städten Tausende Menschen versammelt, um gegen Korruption und den Machtmissbrauch der Regierung zu protestieren. Auch auf dem zentralen Tahrir-Platz in der Hauptstadt Bagdad halten sich weiterhin etliche Menschen auf. Bei Zusammenstößen mit Demonstrant*innen und Sicherheitskräften wurden heute zwei weitere Menschen getötet und mehr als 100 verletzt. Seit Anfang des Monats kamen im Irak bei den Kundgebungen mehr als 200 Menschen gewaltsam ums Leben. 74 von ihnen wurden nach Angaben der Hohen Irakischen Menschenrechtskommission allein in den letzten drei Tagen getötet. Die Zahl der Verletzten beläuft sich auf fast 3.700“ – so meldete es in „Irakisches Militär verhängt Ausgangssperre in Bagdad“ am 28. Oktober 2019 die ANF externer Link – wobei schnell deutlich wurde, dass auf dem Tahrir in Bagdad weitaus mehr als „etliche“ Menschen trotz der Ausgangssperre ihren Protest weiterhin öffentlich deutlich machten. Siehe dazu auch zwei Videos von Massendemonstrationen am 29. Oktober 2019, sowie drei Beiträge zur Gewalt gegen die Proteste und den Reaktionen darauf, sowie den Hinweis auf unseren bisher letzten Beitrag zu den Protesten im Irak:

„Tahrir Square in Baghdad is PACKED tonight“ am 29. Oktober 2019 im Twitter-Kanal von Thomas van Linge externer Link ist ein Videobericht vom Dienstagabend – und zum faktischen Ergebnis der Ausgangssperre, die offensichtlich nichts bewirkt, denn die Beteiligung an diesem Protest in der Hauptstadt war so massiv, dass es kaum vorstellbar erscheint, dass der Platz jemals zur vorgeschriebenen Zeit leer sein könnte…

„Basrah-Anblick“ am 29. Oktober 2019 im Twitter-Kanal von Leo Bayati externer Link ist ebenfalls ein Videobericht über eine Demonstration vom Dienstag Abend – hier eben aus Basrah, im Süden des Landes, wo die Proteste bereits im letzten Jahr die größten gewesen waren.

„Gewalt schockiert Demonstranten“ von Meret Michel am 29. Oktober 2019 in der taz online externer Link zu den „Rahmenbedingungen“ der fortgesetzten Proteste: „… Journalisten und Aktivisten erhielten Todesdrohungen. „Dabei sollte diese Regierung doch demokratisch sein“, sagt sie. Was sie sehe, erinnere sie eher an die Diktatur von Saddam Hussein. Eine Erklärung für die Brutalität ist, dass die irakischen Sicherheitskräfte ausgebildet wurden, um gegen Terroristen Krieg zu führen – nicht, um mehrheitlich friedliche Demonstrationen aufzulösen. Hinzu kommt, dass neben der Polizei und der Armee zahlreiche mehrheitlich schiitische Milizen existieren. Viele Demonstranten machen vor allem sie für die Gewalt verantwortlich. Offiziell unterstehen die meisten Milizen der Regierung. Tatsächlich erhalten viele ihre Befehle aus Teheran. Viele Aktivisten vermuten, dass der Iran sich einmischt und versucht, die aktuelle Regierung zu schützen. Einige Aktivisten fürchten sich davor, dass aus den Protesten ein Krieg zwischen verschiedenen schiitischen Fraktionen werden könnte. Dann etwa, wenn sich die Stämme von Todesopfern gegen die Sicherheitskräfte wenden, oder die Miliz des radikalen Predigers Muq­tada as-Sadr, der zwar in der Regierung sitzt, sich aber demonstrativ auf die Seite der Proteste schlug, zu den Waffen greift...“

„An der »grünen Zone« statt im Hörsaal“ von Oliver Eberhardt am 29. Oktober 2019 in neues deutschland online externer Link zur anwachsenden Beteiligung von Studierenden an den Protesten: „… Viele Dozenten hätten ihre Vorlesungen abgesagt, sagt eine Sprecherin der Universität, Hala Hassan, und fügt gegenüber »nd« hinzu, sie mache sich Sorgen: »Ich kann diese jungen Leute verstehen. Aber sie sind auch irgendwie meine Kinder.« Und nun sind diese jungen Erwachsenen einmal mehr zu Hunderten statt zur Vorlesung vor die Tore der »grünen Zone« gefahren, jenem besonders gesicherten Gebiet im Stadtzentrum, in dem sich Parlament, Regierungssitz, ausländische Botschaften und Hotels befinden. Auch in anderen Städten wird demonstriert. Aufnahmen des irakischen Fernsehens zeigten eine aufgebrachte, wütende Menge in Kerbela. Dort wurden in der Nacht zum Dienstag nach Angaben des Roten Halbmondes mindestens 14 Menschen getötet und mehr als 900 verletzt, als vermummte, zivil gekleidete Männer – offenbar getarnte Militärs – das Feuer eröffneten. »Mindestens«, weil nur jene Opfer gezählt werden, die in ein Krankenhaus eingeliefert wurden. Rettungsdienste und niedergelassene Ärzte reichen indes in der Regel keine Zahlen weiter; dafür haben sie keine Zeit. Zudem werden Tote oft direkt an die Angehörigen übergeben. (…) Jene, die am Dienstag vor der »Grünen Zone« in Bagdad zusammengekommen sind, haben nie ein Leben ohne Krieg, ohne Angst vor Bombenanschlägen, ohne die in Bagdad und anderen Städten grassierende Gewaltvolle Kriminalität erlebt. Die meisten von ihnen haben kaum eine Aussicht, einen Job zu finden. Die Arbeitslosigkeit liegt bei mehr als 20 Prozent. Sie droht durch die US-Sanktionen gegen Iran weiter zu steigen. Wirtschaftlich sind die beider Länder eng miteinander verbunden. Wer sich verletzt oder erkrankt, kann sich die Zuzahlungen für die Behandlungen entweder nicht leisten oder muss feststellen, dass im Krankenhaus selbst grundlegendes medizinisches Material nicht verfügbar ist. In Basra, wo die Wut schon sehr viel länger anhält, fließt oft nur eine braune Brühe aus den Wasserhähnen, gehören Stromausfälle zum Alltag...“

„Blutige Zwischenbilanz der Proteste im Irak“ am 28. Oktober 2019 bei der ANF externer Link meldet zu repressiver Gewalt und Reaktionen darauf unter anderem: „… Die Antwort der Regierung auf die Proteste ist brutale Polizeigewalt. Die Sicherheitskräfte haben mehrfach in die Menschenmenge geschossen und dabei zahlreiche Demonstrierende getötet oder verletzt. Laut der Hohen Irakischen Menschenrechtskommission sind allein in den letzten drei Tagen 74 Menschen bei den Protesten ums Leben gekommen. Die Zahl der Verletzten beläuft sich auf 3.654. Insgesamt 90 staatliche Einrichtungen und Parteigebäude wurden in dieser Zeit von den Demonstrierenden in Brand gesetzt. Muqtada as-Sadr, einflussreicher Geistlicher der Schiiten im Irak, hat vor dem Hintergrund der Gewalt an den Demonstrierenden die irakischen Sicherheitskräfte und die Milizen von Hashd al Shaabi dazu aufgerufen, vom Waffengebrauch gegenüber der Protestbewegung abzulassen. „Richtet die Gewehrläufe, die ihr gegen den IS gerichtet hattet, nun nicht gegen die Bevölkerung. Tut ihnen kein Leid an. Und schützt nicht diejenigen, die sich der Korruption und des Raubs schuldig gemacht haben“, so as-Sadr in seinem Appell. Die Milizen, die unter der Kontrolle von as-Sadr stehen, bereiten sich ihrerseits auf einen eigenen möglichen Einsatz vor…“

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=156550
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