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„Gegen Spardiktate und Nationalismus!“: Tagebuch der 11. Griechenland-Solidaritätsreise vom 1. bis 6. Oktober 2023 nach Athen

Persönliche Reiseeindrücke aus Griechenland von Rainer ThomannGewerkschafterInnen aus Berlin, Darmstadt, Hamburg und Salzgitter (IG Metall, ver.di, GEW) treffen sich mit GewerkschafterInnen und Initiativen um vom Widerstand gegen Sozialabbau, Beschneidung gewerkschaftlicher Rechte, Verletzung humanitärer Standards, gegen Privatisierung und Ausverkauf öffentlicher Güter zu erfahren, zu lernen, davon zu berichten und sich auszutauschen. Siehe nun zum 11. Mal (daher die eigene Rubrik) die uns nach und nach zugesandten Reiseberichte mit interessanten Einblicken – diesmal „nur“ aus Athen:

  • [Teil 1 des Reisetagebuchs] Mittwochmorgen, 4. Oktober: Archäologie und Politik: Der Verein der ArchäologInnen Griechenlands ist akut von Räumnung bedroht New
    Wir treffen uns heute mit dem Verein der ArchäologInnen Griechenlands. Er ist seit 1959 die gewerkschaftliche Vertretung der im öffentlichen Dienst beschäftigten ArchäologInnen; im Verein sind 950 Mitglieder organisiert.
    Das Gebäude liegt ganz nahe bei der Metrostation Thissiu, nicht weit von der Akropolis entfernt. Es ist ein großes herrschaftliches Gebäude aus den 20er Jahren mit einem großen Garten. Die sozialistische Pasok-Regierung hatte in den 80er Jahren mehrere solcher denkmalgeschützter Gebäude aufgekauft, die heruntergekommen waren. Die Kultusministerin Melina Mercury ließ sie renovieren und übergab sie an gesellschaftliche Organisationen. Dieses hier an die Archäologen für ihren Widerstand während der Militärdiktatur (1967 -74), während der die Hälfte der Archäologen entlassen worden war. Als das Gebäude aufgekauft wurde, befand sich im Erdgeschoss eine Tankstelle und im Garten eine Autowerkstatt. Es muss ziemlich traurig ausgesehen haben.
    Damals war die Straße vor dem Gebäude eine Durchgangsstraße, heute ist sie ganz ruhig. Von der Dachterrasse hat man einen wunderschönen Blick auf die Akropolis. Ein Filetgrundstück sozusagen.
    Wir treffen uns mit Despina, der zweiten Vorsitzenden des Vereins. Sie hat sich für uns Zeit genommen, obwohl heute Stress im Haus ist. Das Kultusministerium hat Finanzprüfer geschickt und will die Bücher prüfen. Sie wollen vermutlich etwas finden um die Kündigung des Gebäudes zum 10. Oktober zu rechtfertigen. Deswegen sind wir nämlich hier: Der Verein der Archäologen hat die Kündigung vom Kultusministerium erhalten und soll das Gebäude bis nächste Woche Dienstag räumen. Und das ganz offensichtlich aus politischen Gründen.
    Politischer Angriff
    Am 16. Juni diesen Jahres kenterte ein Fischkutter mit über 700 Flüchtlingen vor der griechischen Küste nahe des Ortes Pylos. Dabei ertranken über 600, darunter viele Frauen und Kinder. Schnell wurde bekannt, dass die griechische Küstenwache eine Rolle beim Kentern des Bootes spielte. Deshalb fand im Juli im Garten des Archäologenvereins eine Veranstaltung statt unter dem Titel: “Gerechtigkeit für das Verbrechen von Pylos!” Auf der Veranstaltung waren natürlich auch die illegalen Pushbacks der griechischen Küstenwache Thema.
    Diese Veranstaltung war ein Ärgernis für die Regierung, die zu vertuschen versuchte und versucht. Wenig später tauchte ein Artikel in einer regierungsnahen Zeitung auf: Die Regierung sei diskreditiert worden. Was habe denn das Unglück mit Archäologie zu tun? Was gehe die Archäologen das an? Ein auf der Veranstaltung anwesender bekannter griechischer Seenotretter, Jason Apostolos, wurde als “Griechenfeind” bezeichnet und die Archäologen gleich mit. Warum ließen wir uns das gefallen?
    Dabei gab es nach dem Unglück drei offizielle Trauertage in ganz Griechenland als Zeichen, dass alle betroffen waren. Die Kultusministerin fing an, einzelne Mitglieder des Vereins öffentlich zu diskreditieren. Z.B. sei der Vorsitzende Mitglied von Antarsia (kleine legale, linksradikale Partei) und mache das Vereinsgebäude zu einem Stützpunkt der Linksradikalen. Usw.
    Für den Archäologenverein war es immer ein Anliegen gewesen, ein öffentliches Gebäude auch öffentlich nutzbar zu machen. So fanden hier u.a. Buchausstellungen, feministische Kongresse, gewerkschaftliche Veranstaltungen statt. Auch das Kultusministerium führte hier Veranstaltungen durch. Alles war bekannt, alles war öffentlich.
    Da die Regierung der Nea Demokratia unter Mitsotakis aber das Programm hat, alles Öffentliche zu privatisieren und zu Geld zu machen, was verkaufbar ist, geriet das Gebäude des Archäologenvereins sicher schon länger ins Fadenkreuz der Privatisierungsplaner.Die Veranstaltung zu dem Bootsunglück vor Pylos bot jetzt offenbar den Anlass zuzuschlagen.
    Die Kultusministerin schickte dem Verein ein Schreiben: Die Veranstaltung zu Pylos habe ja offensichtlich Einnahmen eingebracht, die dem Kultusministerium zugestellt werden müssen. Das sei nicht geschehen. Auf ihre Antwort, das mit den Einnahmen stimme nicht, flatterte die Räumungsaufforderung herein. Begründung: a) Finanzen, b) Abtretungsvereinbarungen von 1982 nicht eingehalten, c) Die Veranstaltung zu Pylos war nicht genehmigt.
    Im Moment geht der Verein juristisch dagegen vor. Nächsten Dienstag, den 10. findet ein großes Konzert vor dem Gebäude statt.
    Wir verfassten nach dem Treffen eine Solidaritätserklärung:
    „Wir deutsche Gewerkschafter der Griechenland Solidaritätsgruppe „Gegen Spardiktate und Nationalismus“ sind entsetzt über die geplante Räumung des Hauses des Vereins der Archäologen Griechenlands in Athen. Das Gebäude ist ein lebendiger Treffpunkt für kulturelle und gesellschaftliche Veranstaltungen. Wir haben erfahren, dass die Anschuldigungen des Kultusministeriums auf falschen Aussagen beruhen und nur als Vorwand dienen ein unliebsames politisches Projekt aus dem Weg zu räumen.
    Besonders empört uns, dass die Veranstaltung vom 9. Juli „Gerechtigkeit für das Verbrechen von Pylos“ als eine der Begründungen für die bevorstehende Räumung genannt wird.
    Wir fordern das griechische Kultusministerium auf, den Räumungsbeschluss zurückzunehmen.
    Solidarität mit dem Kampf der  griechischen Kolleginnen und Kollegen des Vereins der Archäologen Griechenlands!“
    (Manfred)
    (Siehe zur Katastrophe von Pylos im LabourNet das Dossier: Humanitäre Krise in Griechenland droht zu eskalieren)

Siehe zuletzt das Dossier: „Gegen Spardiktate und Nationalismus!“ Tagebuch der 10. Griechenland-Solidaritätsreise 30.9. – 9.10.2022

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=215401
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