»
Frankreich »
»
»
Frankreich »
»
»
Frankreich »
»

Frankreich: Nach dem polizeilichen Todesschuss auf den 17-jährigen Nahel in Nanterre – vor Verhängung des Ausnahmezustands?

Dossier

Trauerfeier und Kundgebung nach dem polizeilichen Todesschuss auf den 17-jährigen Nahel in Nanterre am 29.6.2023 - Foto von Bernard SchmidRevolte und Riot in den Trabantenstädten (und darüber hinaus) breitet sich innerhalb von zweieinhalb Tagen auf das ganze Staatsgebiet Frankreichs, ohne „Überseegebiete“, aus * Anlass war ein polizeilicher Todesschuss auf einen 17-jährigen am Dienstag dieser Woche * 667 Festnahmen im Laufe der vorigen Nacht; um 12.55 Uhr wuchs die Zahl auf 875 an * Zwei mal tagte ein Krisenstab der Exekutive unter dem Vorsitz von Staatspräsident Emmanuel Macron, zuletzt am heutigen Freitag um die Mittagszeit * Die Rechtsopposition fordert lautstark eine Ausrufung des, zuletzt im November 2005 im Zusammenhang mit banlieue-Revolten sowie im November 2015 infolge der jihadistisch motivierten Attentate verhängten, Ausnahmezustands * Die Regierung könnte ihrem Ruf folgen, doch zur Stunde bleibt dies noch ungewiss * 40.000 Polizist/inn/en und Angehörige der Gendarmerie seit gestern Abend zu Sondereinsätzen mobilisiert, unter ihnen der RAID (ungefähr vergleichbar mit der GSG9 der deutschen Bundespolizei) gestern Nacht in Roubaix und in Marseille…“ Artikel und Fotos von Bernard Schmid vom 30.6.2023 – wir danken! Siehe nun weitere (auch weitere Tote):

  • Frankreich: Ende einer Bewegung, eine Explosion der Wut New
    „Am 27. Juni 2023, nur wenige Wochen nach den letzten riesigen Demonstrationen gegen die »Reform« des Rentensystems, erlebte die französische Gesellschaft eine kraftvolle Explosion jugendlicher Revolte, die das ganze Land für mehrere Tage in ihren Bann zog. Auslöser war der Polizeimord am 17-jährigen Nahel Merzouk, der ohne Führerschein mit einem Auto durch die Banlieue fuhr. Im Zuge einer Polizeikontrolle wurde er durch einen Schuss ins Herz umgebracht. Wie kamen wir von einer Massenbewegung gegen eine Regierungs-»Reform«, deren Ziel es war, das Mindestrenteneintrittsalter um zwei Jahre zu erhöhen und in der Folge die Verarmung der Rentner:innen zu vergrößern, zu einer Explosion gegen Polizeigewalt? (…) Nach einer Reihe von durch die Gewerkschaften ausgerufenen Demonstrationen, einer größeren Anzahl von Streiks, denen es nicht gelang, sich auszubreiten oder zu verlängern, schmälerten sich die Aussichten für die Kämpfe zusehends. Schließlich machten sich Müdigkeit und Abgeschlagenheit breit, zusammen mit dem Gefühl der Ohnmacht, die Machtverhältnisse zugunsten einer von kapitalistischen Kräften und vermögenden Teilen der Gesellschaft getragenen Regierung zu ändern. (…) Das klare Ende der Bewegung war nicht in der Lage, das kollektive Bewusstsein auszulöschen, das eine tiefgreifende und massive Ablehnung der neoliberalen Ausprägung des heutigen Kapitalismus und seiner stetig autoritärer werdenden Regierungsformen enthält. Die in der Bewegung zum Ausdruck gebrachte Ablehnung war erfolglos darin, zu einer ausschlaggebenden Gegenmacht zu werden. Aber sie ist weiterhin vorhanden, sodass die Niederlage nicht als Niederlage des Kollektivs und seiner subversiven Energie erlebt wurde. Das allgemeine Gefühl lässt sich in zwei Sätzen zusammenfassen, die unterschiedliche Betonungen und Nuancen beinhalten: »Wir haben verloren, aber sie haben nicht gewonnen. Der Kampf wird früher oder später erneut beginnen.« (…) Eine kurze soziologische Information regt zum Nachdenken an: Ein Vergleich der Schauplätze der Revolte mit den Demonstrationen gegen die Renten-»Reform« zeigt eine Überschneidung, vor allem in kleinen provinziellen Städten. Wir können zumindest daraus schließen, dass die Atmosphäre der sozialen Revolte, die aktuell tief in der französischen Gesellschaft verwurzelt ist, die jungen Menschen erreicht hat, die aus dieser ausgeschlossen sind. Ihr Bedürfnis, gegen soziale Ungerechtigkeit zu kämpfen, gegen Ungerechtigkeit im Allgemeinen, ist eine Idee, deren Zeit gekommen ist. Wie die Anerkennung dessen, dass die Regierung lügt und dass wir nicht erwarten können, dass sie die Situation der schwächsten Teile der Gesellschaft verbessern wird. Wir sollten nicht vergessen, dass die jüngsten Kämpfe der Gilets Jaunes und ihr aufständischer Geist weiterhin am Leben sind. Alles ist da: Alles ist gegenwärtig, im Gedächtnis des Moments. Wir werden sehen, was als Nächstes kommt, im Guten wie im Schlechten. Die allgemeine Situation wird sich nicht stabilisieren, die arbeitende Klasse wird zunehmend unter Austerität leiden, der Ausschluss der Jugend wird sich fortsetzen und sogar verschärfen. Die Formen der politischen Repräsentation werden sich weiter selbst diskreditieren, die parlamentarische Demokratie wird noch autoritärere Formen annehmen, andere Ereignisse, Bewegungen, Kämpfe werden kommen. Die Geschichte geht weiter.“ Artikel von Charles Reeve am 23.9.23 in dt. Übersetzung bei Communaut.org externer Link
  • Frankreich vor den verbotenen Samstagsdemos in „Trauer und Wut“ in Debatten um rechte Polizeigewerkschaft und das Gesetz zum polizeilichen Schusswaffeneinsatz 
    Demonstration am heutigen Samstag (08. Juli 23) im Pariser Umland zu den polizeibedingten Todesfällen von Nahel Merzouk und Adama Traoré wurde verboten; Ersatzdemo in Paris mittlerweile auch – Neben dem in Marseille durch einen Querschläger getöteten Mohammed B. wurde auch Carl Tarade in Französisch-Guyana getötet, und ein weiterer Mensch fiel in Ostfrankreich ins Koma – Die Gewerkschaftsvereinigung UNSA distanziert sich von ihrer am Rad drehenden Polizeigewerkschaft – Die Debatte in Frankreich um das Gesetz von 2017, das den polizeilichen Schusswaffeneinsatz erleichterte und ausdehnte, hält an…“ Artikel von Bernard Schmid vom 8.7.2023 – wir danken!
  • Wilde Horden in einem sorgenvollen Frankreich 
    „… Tja, es wird gemeinhin unterschätzt, wie anstrengend das dauernde Verprügeln von rebellierenden Jugendlichen, die Verfolgungsjagden in voller Robocop-Montur und die ganzen Massenverhaftungen sind… Daher haben die Interessenvertreter der Flics jetzt reagiert: „Die Polizeigewerkschaften Alliance und UNSA haben ein Kommuniqué unter der Überschrift ‚Es reicht jetzt‘ veröffentlicht. ‚Angesichts der wilden Horden reicht es nicht, zur Ruhe aufzurufen, man muss sie aufzwingen‘, steht darin.“ Die ehemals linksliberale „Süddeutsche Zeitung“ gelangt in ihrem Kommentar vom 3.7.2023 zu einer ganz anderen Einschätzung: „Der Präsident selbst wirkt fest, ruhig, besonnen. Das ist umso wichtiger, als der Auslöser der Unruhen weit gravierender ist als 2005.“ (…) Von französischen Linken wird die Lage dann doch deutlich anders gesehen, wie das sehr lesenswerte folgende Interview mit dem Soziologen Michel Kokoreff zeigt (auch wenn wir seine These vom „faschistischen Moment“ nicht teilen!). Es erschien zuerst in der französischen Online-Zeitung „Mediapart“ am 30. Juni 2023. Da wir darauf keinen Zugriff bekamen, bieten wir hier die Übersetzung des Textes von der spanischen trotzkistischen Website der „Anticapitalistas“ „Viento Sur“, wo sie am 1.7.2023 veröffentlicht wurde. Ebenfalls im Anhang und nicht minder interessant ist die vorläufige Bilanz der Unruhen von Giacomo Marchetti mit dem Titel „Frankreich: Die Krämpfe einer Demokratie im Dämmerzustand“, die am 5. Juli 2023 im italienischen Onlinemagazin „Contropiano“ erschien, das vom Rete dei Comunisti (Netzwerk der Kommunisten) herausgegeben wird, das der größten Basisgewerkschaft USB nahesteht.“ Aus dem umfangreichen Vorwort des Gewerkschaftsforums Hannover vom 5.7.2023 zu diesen beiden Übersetzungen  – wir danken!
  • Frankreich: Der Staub der Riots legt sich, Rechtsruck-Reaktionen bleiben 
    Riots scheinen zu Wochenbeginn im Abschwellen – Ausnahmezustand vorläufig nicht in Kraft gesetzt (und „wohl nicht mehr nötig“), doch Einsatz von Panzerfahrzeugen angeordnet, Ausgangsperren kurzfristig örtlich verhängt und Verhängung von Internetsperren für geographische Zonen im Gespräch – Zwei Tote wohl durch Querschläger, in Marseille und Französisch-Guyana – Die Position der linkspluralen Wahlplattform LFI gerät unter Druck – Rechtsextreme laufen zu Hochform auf: Stielfaschisten attackierten Demonstrationen; rechte Spendensammlung für den polizeilichen Todesschützen (Letzterer sitzt in U-Haft) trug innerhalb weniger Tage über eine Million Euro ein. – 480 Teilnehmer(/innen) an den Riots bereits verurteilt, 380 inhaftiert. Oft wurden Strafen „fürs Exempel“ ohne wirkliche individuelle Tatwürdigung verhängt. – Mehrere Polizei„gewerkschaften“ drehen ziemlich schwer am Rad. Militärs an Ordnungseinsatz in Lorient beteiligt? – 90 Organisationen der Linken und des Gewerkschaftsspektrums rufen für kommenden Samstag, den 08. Juli zu Demonstrationen auf…“ Artikel von Bernard Schmid vom 5.7.2023 – wir danken!
  • Der Aufstand der Banlieues und Macrons „Pädagogik der Repression“ 
    „“Die Polizei, Dein Feind und Mörder!“, so lautet aktuell das Empfinden vieler Jugendlicher in den französischen Vorstädten angesichts von Diskrimierung, Ausgrenzung, Verarmung und weiter zunehmender Polizeigewalt. Ihre ebenso wütende wie (teilweise) chaotische Reaktion darauf nach der Erschießung des 17jährigen Nahel durch einen Flic bei einer simplen Verkehrskontrolle war der heftigste Aufstand in den Banlieues seit 2005. Zu den Hintergründen und Perspektiven haben wir ein Interview mit Alain Bertho, einem emeritierten Professor und sehr genauen Kenner der Situation in den Banlieues übersetzt, das in der linken italienischen Tageszeitung „il manifesto“ vom 1.7.2023 erschien. Danach folgt ein ebenfalls von uns übersetzter Kommentar zum Thema „Polizeigewalt zwischen Neoliberalismus und Autoritarismus“ aus „il manifesto“ vom 30.6.2023 als ein (!) Beitrag zu einer grundsätzlichere Diskussion zu diesem keineswegs auf Frankreich oder die USA beschränkten Thema…“ Aus dem Vorwort des Gewerkschaftsforums Hannover vom 3.7.2023 zu ihren Übersetzungen aus dem Italienischen  – wir danken!

________________

Frankreich: Nach dem polizeilichen Todesschuss auf den 17-jährigen Naël in Nanterre
– vor Verhängung des Ausnahmezustands?

Revolte und Riot in den Trabantenstädten (und darüber hinaus) breitet sich innerhalb von zweieinhalb Tagen auf das ganze Staatsgebiet Frankreichs, ohne „Überseegebiete“, aus * Anlass war ein polizeilicher Todesschuss auf einen 17-jährigen am Dienstag dieser Woche * 667 Festnahmen im Laufe der vorigen Nacht; um 12.55 Uhr wuchs die Zahl auf 875 an * Zwei mal tagte ein Krisenstab der Exekutive unter dem Vorsitz von Staatspräsident Emmanuel Macron, zuletzt am heutigen Freitag um die Mittagszeit * Die Rechtsopposition fordert lautstark eine Ausrufung des, zuletzt im November 2005 im Zusammenhang mit banlieue-Revolten sowie im November 2015 infolge der jihadistisch motivierten Attentate verhängten, Ausnahmezustands * Die Regierung könnte ihrem Ruf folgen, doch zur Stunde bleibt dies noch ungewiss * 40.000 Polizist/inn/en und Angehörige der Gendarmerie seit gestern Abend zu Sondereinsätzen mobilisiert, unter ihnen der RAID (ungefähr vergleichbar mit der GSG9 der deutschen Bundespolizei) gestern Nacht in Roubaix und in Marseille…

„Völker der Welt, schaut auf diese Stadt“: Der berühmte Ausspruch von Ernst Reuter, damals (1948) auf Westberlin bezogen, findet derzeit und in naher Zukunft in doppelter Weise auf Paris – die Vor- und Trabantenstädte eingeschlossen – Anwendung.

Zum Einen beginnen sich die Blicke der übrigen Welt allmählich auf die französische Hauptstadtregion zu richten, weil dort die nächsten Olympischen Spiele 2024 ausgetragen werden. Berlin hatte sich ja vor zehn Jahren ebenfalls beworben, auch dabei wurde an den Reuter-Ausspruch erinnert (vgl. https://www.welt.de/politik/deutschland/article133788533/Berlin-oder-Hamburg-Wer-verdient-Olympia-2024.html externer Link), doch Paris erhielt den Zuschlag. Zunehmend wurde es einem Teil der französischen Öffentlichkeit dabei in letzter Zeit mulmig. Im Zusammenhang mit dem zunehmend miesen Funktionieren vieler öffentlicher Verkehrsmittel (Personalmangel, Materialverschleiß, lange unzureichende Investitionen) wurde jüngst darauf verwiesen, dass aber nur noch ein Jahr Zeit sei, bis sich Hunderttausende zusätzliche Fahrgäste in selbigen drängeln könnten. (Vgl. https://www.parismatch.com/actu/societe/un-incident-dans-le-metro-inquiete-avant-les-jeux-olympiques-de-paris-226317 externer Link) Hinzu kommt, dass aus diversen Gründen – bleibende scharfe Opposition gegen Regierung und Renten„reform“ dieses Frühjahrs, Arbeitsbedingungen im Zusammenhang mit den für die Zeit der Spiele angebotenen Zeitverträgen… – Boykottaufrufe (https://www.francetvinfo.fr/replay-radio/le-brief-politique/pas-de-retrait-pas-de-jo-les-opposants-a-la-reforme-des-retraites-veulent-faire-de-paris-2024-un-moyen-de-pression_5750312.html externer Link) aufkamen.

Nun kommt jedoch neuer Trouble hinzu, in Gestalt sich rasant ausdehnender Unruhen, die seit Dienstag Abend (27.06.23) und mindestens in die vergangene Nacht – mit einer Fortsetzung über den heutigen Freitag hinaus ist jedoch zu rechnen – über ganz Frankreich ausdehnten. Diese erfassen überwiegend die städtischen Ballungsräume. Allerdings werden auch aus kleineren Kommunen inzwischen Vorfälle gemeldet wie aus Podensac in der Nähe von Bordeaux, 3.000 Einwohner/innen. (https://actu.fr/nouvelle-aquitaine/podensac_33327/la-gendarmerie-de-podensac-visee-par-des-tirs-de-mortier-en-pleine-nuit_59798106.html externer Link)

Eine österreichische Ministerin sagte deswegen bereits überstürzt Termine im Raum Paris ab (https://orf.at/stories/3322150/ externer Link), während international die auch bei vorausgegangenen, ähnlichen Ereignissen übliche Sensationsberichterstattung einsetzte. Darunter – wie zu erwarten – die in deutschen Mainstreammedien, die einen Blick durch die polizeiliche Brille mit wohltuend-gruselndem Sensationsgehabe mischen. Beispielsweise sieht der Münchner Merkur am Freitag gegen 13 Uhr „Paris in Schutt und Asche liegen“. (Vgl. https://www.merkur.de/welt/paris-frankreich-krawalle-braende-autos-pluenderungen-polizei-tod-jugendlicher-ausschreitungen-92374099.html externer Link) Wer eine Ahnung davon hat, was Krieg wirklich bedeutet, würde sich solch dümmlicher Formulierungen wohl enthalten.

Auch in Deutschland hat es in jüngerer Zeit einige unruhige Momente gegeben – wie immer man diese inhaltlich bewerten mag, sei es im Berliner Viertel Neukölln (https://www.morgenpost.de/berlin/article229265344/Randale-in-Neukoelln-die-Bilder-der-Verwuestung.html externer Link), sei es zu Corona-Zeiten in Stuttgart (https://www.youtube.com/watch?v=_6Iy8LFrpm4 externer Link ) oder anderswo. Und doch ist daran so gut wie nichts mit den französischen Ereignissen zu vergleichen. Aber warum?

Natürlich sorgt der zentralstaatliche Charakter Frankreichs für eine erleichterte und beschleunigte Ausdehnung von Revolten oder Riots, jedenfalls dann, wenn ihnen ein politischer Hintergrund zugrunde liegt, aufgrund dessen eine Übertragbarkeit möglich erscheint. Dies war auf quasi landesweiter Ebene zuletzt bei Unruhen infolge des Todes der beiden Jugendlichen Bouna Traoré und Zyed Benna 2005 in Clichy-sous-Bois der Fall. (Vgl. dazu und, aus Zeit- und Platzmangel für eine nähere Darstellung an dieser Stelle, welche in Kürze nachgeholt wird, zum damaligen Rückgriff auf die Erklärung des Ausnahmezustands: https://www.telepolis.de/features/Erklaerung-des-Ausnahmezustands-als-Antwort-auf-die-Unruhen-3403529.html externer Link).

Aber auch die gesellschaftlichen Hintergründe des Geschehens, also – neben dem unmittelbaren Auslöser in Form von Polizeigewalt, siehe dazu unten – eine räumliche Segregation von Bevölkerungsgruppen nach Einkommen in Kombination mit Abstammung und Herkunft (vgl. http://www.trend.infopartisan.net/trd1204/t031204.html externer Link), die man in diesem Ausmaß und in dieser Klarheit anderswo in Europa nicht antrifft, sorgen für eine besondere Explosivkraft. Zumal diese Realität im französischen Falle, wo die Egalité, also der Anspruch auf Rechts- und Chancen- sowie ein Mindestmaß an sozialer Gleichheit – ja zu den offiziellen Staatsansprüchen zählt und zugleich revolutionäre Ursprünge (im Zeitraum 1789 bis 1793) aufweist, in besonders eklatanter Anweise mit den von etablierter Seite her proklamierten Zielen zustammenstößt.

Wie ein Lauffeuer

Trauerfeier und Kundgebung nach dem polizeilichen Todesschuss auf den 17-jährigen Nahel in Nanterre am 29.6.2023 - Foto von Bernard Schmid

Trauerfeier und Kundgebung nach dem polizeilichen Todesschuss auf den 17-jährigen Nahel in Nanterre am 29.6.2023 – Foto von Bernard Schmid

Dieses Mal geht es noch schneller als im Oktober/November 2005, denn damals benötigte das Feuer zwischen einer halben und einer ganzen Woche, um über die unmittelbar angrenzenden Kommunen hinaus den Rest des Landes zu erfassen. Dieses Mal dauerte es nur Stunden, bis es nach dem Ausgangsort der Ereignisse, Nanterre in der Nähe von Paris, am Dienstag Abend auch etwa Bordeaux erreichte (https://france3-regions.francetvinfo.fr/nouvelle-aquitaine/gironde/bordeaux/mort-de-nael-a-nanterre-des-troubles-dans-l-agglomeration-bordelaise-2804177.html externer Link), am Mittwoch, den 28.06.23 dann Lille und Toulouse. Wozu auch die neuen Informations- und Kommunikationstechnologie beitrugen, die in Sekundenschnelle die Bilder vom einen an den anderen Ort tragen, wo man vor zwanzig Jahren oft noch die Abendnachrichten im Fernsehen abwarten musste.

In der Nacht vom Donnerstag zum Freitag, vom 29. zum 30. Juni d.J. knallte und brannte es an vielen Orten, unter anderem auch an innerstädtischen Punkten in Paris (https://www.leparisien.fr/faits-divers/mort-de-nahel-a-paris-des-scenes-de-pillages-et-de-saccages-30-06-2023-AZNCXGFSUFHQLL2STJBMB3KMEU.php externer Link) und Marseille. Insgesamt 667 Menschen wurden in der Nacht zum heutigen Freitag, laut Angaben des Innenministeriums vom frühen Morgen, festgenommen. (https://www.bfmtv.com/police-justice/en-direct-mort-de-nahel-nouvelle-nuit-de-violences-urbaines-dans-tout-le-pays-des-scenes-de-pillages-et-de-saccages-dans-des-dizaines-de-villes_LN-202306300070.html externer Link) Um 12.55 Uhr verlauteten TV-Sender, die heutige Zahl seit auf 875 angestiegen. (Vgl. https://www.bfmtv.com/police-justice/en-direct-mort-de-nahel-nouvelle-nuit-de-violences-urbaines-dans-tout-le-pays-des-scenes-de-pillages-et-de-saccages-dans-des-dizaines-de-villes_LN-202306300070.html externer Link)

Die Staatsmacht hat in der Nacht zum Freitag insgesamt 40.000 Uniformierte zur „Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung“ auf die Straßen geschickt. Doch dies goss noch eher Öl ins Feuer. Zumal ja polizeiliches Handeln den unmittelbaren Auslöser für die Revolten und Riots abgab. Am Dienstag früh gegen acht Uhr erschoss ein 38jähriger Polizist, der zuvor einer Motorradeinheit – wie sie ab März 2019 zum harten Vorgehen gegen die „Gelbwesten“proteste neu aufgestellt wurden – angehörte und durch seine Vorgesetzten ausgesprochen gut benotet und mit einer Auszeichnung (vgl. https://www.infolibertaire.net/le-tueur-de-nahel-avait-ete-decore/ externer Link und https://www.lefigaro.fr/faits-divers/tres-professionnel-decorations-ancien-militaire-qui-est-le-policier-en-garde-a-vue-apres-la-mort-d-un-mineur-a-nanterre-20230628 externer Link) versehen worden war, einen 17-jährigen aus einer algerischstämmigen Familie. Dessen Vorname lautet Nahel, nachdem am Dienstag (27.06.23) zunächst einen Tag lang die falsche Namensvariante „Naël“ durch die Medien kursierte.

Der Heranwachsende hockte ohne Führerschein am Steuer eines Miet-Mercedes, in dem sich zwei seiner Freunde befanden. Dies ist kritikwürdig und zu ahnden (Ceterum censeo: Wie der viel zu früh verstorbene Winfried Wolf schon in den 1980er Jahren herausarbeitete, muss der motorisierte Individualverkehr verschwinden, jedenfalls in den städtischen Zentren; in ländlichen Räumen wird es Übergänge benötigen). Doch darauf steht bestimmt nicht die Todesstrafe – wie auch der linkssozialdemokratische frühere Präsidentschaftskandidat Jean-Luc Mélenchon durchaus richtig in der Öffentlichkeit unterstrich, wofür er einigen Medien scharf angegriffen wurde, etwa vom Talkshowkönig Christopher Barbier (Ha, er sagte ‚Todesstrafe‘! Eine neue Verfehlung des linken Demagogen! Was für ein Unding! Dabei gab es kein Verfahren und kein Urteil! … Na eben, na eben?!), ebenso wie dafür, dass er die Leute dezidiert nicht zur Ruhe und zum Nach-Hause-Gehen auffordern mochte.

In den Videos (https://www.youtube.com/shorts/_ZbSBgFFJH8 externer Link ) von dem Todesfall, die längst überall kursieren, hört man in einer Langversion unter anderem einen den Polizisten zu dem jungen Fahrer sagen: „Du wirst Dir noch eine Kugel in den Kopf einfangen!“ Und man hört einen weiteren Polizeibeamten etwas ausrufen, was Coupe! Coupe! (Dreh den Zündschlüssel ab) bedeuten könnte, aber auch Shout, shout-le! (Vom Englischen to shoot) Jedenfalls die Opferfamilie und ihr Anwalt, Yassine Bouzrou, bezeichnen es als Aufforderung zum Schusswaffengebrauch durch einen Kollegen.

Die Angaben der beteiligten Polizeibeamten lauteten zunächst, diese hätten in Notwehr gehandelt, sei doch der Wagen auf sie zugefahren. Doch dann tauchte das erste Handyvideo auf, das diese Version klar widerlegte und zeigt, dass sich keiner der beteiligten Beamten vor dem Fahrzeug, etwa vor dessen Motorhaube befand und sich dadurch in Lebensgefahr befunden hätte. Überdies hätten die polizeilichen Schützen selbstredend etwa auf die Reifen zielen können. Hinzu fügten sie noch Falschangaben gegenüber ihrer polizeilichen Hierarchie und den Ermittlern, ja, sie eröffneten noch ein Strafverfahren gegen den (bereits toten) jungen Fahrer wegen angeblichen Tötungsversuchs gegen die Beamten… Laurent-Franck Lienard, also der Anwalt des Todesschützen, welcher inzwischen unter dem Verdacht vorsätzlicher Tötung in Untersuchungshaft genommen wurde, erklärte dazu am Donnerstag Abend (29.06.23) in einer Talkshow beim Sender BFM TV, der Vorwurf des „gefälschten Urkundenzeugnisses“ sei jedoch falsch, sein Mandat habe ja doch überhaupt nichts geschrieben, sondern lediglich gesprochen…

Demo in Nanterre

Trauerfeier und Kundgebung nach dem polizeilichen Todesschuss auf den 17-jährigen Nahel in Nanterre am 29.6.2023, die Namen auf dem T-Shirt hinter sind alle die v. prominenten Opfern tödlichen Polizeigewalt... (Foto von Bernard Schmid)

Trauerfeier und Kundgebung nach dem polizeilichen Todesschuss auf den 17-jährigen Nahel in Nanterre am 29.6.2023, die Namen auf dem T-Shirt hinter sind alle die v. prominenten Opfern tödlichen Polizeigewalt… (Foto von Bernard Schmid)

„Wie viele Nahel gibt es, die nicht gefilmt werden?“ fragte eine junge Frau gestern in Nanterre auf einem von ihr mitgeführten Schild. Dort versammelten sich zehn- bis fünfzehntausend Menschen (die polizeiliche Zahl lautet 6.500) zu einem Trauer- und Protestzug, für die Protestzeit – an einem Wochentag um 14 Uhr – eine höchst beachtliche Zahl. Junge moslemische Frauen mit tiefrot Henna-bemalten Hände, blondbärtige Fußballfans mit Messi-T-Shirts und in Turnschuhen, algerische Großmütterchen mit babouches (Straßenpantoffeln), Linke und einzelne Politiker/innen – in der Menge erkannte man die Abgeordneten Danièle Obono und Eric Coquerel – mischten sich zu einer kompakten, dichtgedrÄngten Menge. Beim Eintreffen an dem Ort, an dem die tödlichen Schüsse fielen, warteten bereits Polizeieinheiten, die kurz darauf massiv Tränengasgranaten verschossen.

Auch dies ist ein Unterschied zu 2005, denn damals fanden keine breiten Demonstrationen statt, sondern fast nur Riots. Es könnte auch einen Keim der Hoffnung in sich bergen, dass die frei werdenden Eenergien der Revolte doch noch für gesellschaftliche Ziele in produktivem Sinne kanalisert werden köntnen, statt sich in der Zerstörung von – oft für die Bevölkerung nützlichem – städtischem Mobiliar und einigen Plünderungen zu erschöpfen. Der 2002 verstorbene Soziologe Pierre Bourdieu gab wenige Monate vor seinem Tod in einem ihm gewidmeten Film zu Protokoll: «Es geht nicht darum, Autos zu verbrennen. Es geht darum, eine Bewegung zu haben, die Autos verbrennen kann, aber ein Ziel aufweist.» (http://www.homme-moderne.org/societe/socio/bourdieu/lexique/r/revolteetrevolution.html externer Link)

Was kommt als nächstes?

Die Rechtsopposition, darunter der junge Parteivorsitzende des Rassemblement national (RN), Jordan Bardella – dessen frühere Chefin Marine Le Pen wechselte 2022 auf den Vorsitz der neu gebildeten RN-Fraktion in der Nationalversammlung, über die die Partei trotz Mehrheitswahlrechts nun erstmals seit 1988 verfügt -, aber auch der rechtsextreme Rivale Eric Zemmour wie auch der im Dezember 22 neu gewählte konservative Parteivorsitzende Eric Ciotti, forderte in den letzten Tagen unisono die Verhängung des Ausnahmezustands. Dies würde, auf Grundlage des 1955 im Zuge des Algerienkriegs verabschiedeten Gesetzes dazu, u.a. die Verhängung von räumlich weitläufiger oder enger definierten Ausgangssperren (die ersten wurde auf lokaler Ebene bereits am gestrigen Tage verhängt, etwa im Pariser Vorort Clamart von 21 Uhr bis sechs Uhr früh) erlauben, aber auch Pressezensur – was in Zeiten des Internets jedoch eher gegenstandslos sein dürfte – und andere Einschnitte.

Die Regierung könnte ihrem Ruf folgen, doch zur Stunde bleibt dies noch ungewiss. 40.000 Polizist/inn/en und Angehörige der Gendarmerie seit gestern Abend zu Sondereinsätzen mobilisiert, unter ihnen der RAID (ungefähr vergleichbar mit der GSG9 der deutschen Bundespolizei) gestern Nacht in Roubaix und in Marseille. Auch der GIGN, die mit dem polizeilichen RAID vergleichbare Eliteeinheit auf Seiten der Gendarmerie, wurde in Alarmbereitschaft versetzt.

Zwei mal tagte ein Krisenstab der Exekutive unter dem Vorsitz von Staatspräsident Emmanuel Macron, zuletzt am heutigen Freitag um die Mittagszeit. Bei Redaktionsschluss standen nähere Ergebnisse noch nicht fest.

Artikel und Fotos von Bernard Schmid vom 30.6.2023 – wir danken!

Grundinfos:

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=213032
nach oben