»
Frankreich »
»
»
Frankreich »
»
»
Frankreich »
»
»
Frankreich »
» »

Frankreich: Kessel und Festnahmen bei verbotener Demonstration zum Adama Traoré-Gedenktag und gegen Polizeigewalt sowie Probleme mit dem Rechtsruck…

Verbotene Demo am 8. Juli 2023 in Paris - kurz vor Kesselbildung (Foto: Bernard Schmid)Verbotene Demonstration gegen Polizeigewalt in Paris mit rund 2.000 Menschen verwandelt sich in Wanderkessel, Züge gestrichen; in Lille fiel ebenfalls ein Verbot, in Marseille konnte die Demonstration fernab vom Schuss stattfinden; Rechtsruck-Reaktionen in der öffentlichen Meinung, doch nicht völlig frei von Widersprüchen, und ihre Widerspiegelung in ersten Umfragen; Kritik aus den UN an französischer Polizei(politik); Vor diesem Hintergrund ist es kein Wunder, dass eines der übelsten Folterregimes – dasjenige im Iran, das eine „Reisewarnung“ für Frankreich aussprach – sowie hochgradig autoritäre Regierungen wie in der Türkei nun mit dem Daumen auf Frankreich und die dortigen Vorgänge verweisen konnte… Nun wird für den kommenden Samstag, den 15. Juli 23 zu einer neuerlichen Protestkundgebung/-demo auf die Pariser place de la République aufgerufen…“ Artikel und Fotos von Bernard Schmid (abgeschlossen in der Nacht vom 09. zum 10. Juli 23) – wir danken!

Frankreich: Brutaler Kessel bei verbotener Demonstration zum Adama Traoré-Gedenktag
und gegen Polizeigewalt sowie Probleme mit dem Rechtsruck…

Verbotene Demonstration gegen Polizeigewalt in Paris mit rund 2.000 Menschen verwandelt sich in Wanderkessel, Züge gestrichen; in Lille fiel ebenfalls ein Verbot, in Marseille konnte die Demonstration fernab vom Schuss stattfinden; Rechtsruck-Reaktionen in der öffentlichen Meinung, doch nicht völlig frei von Widersprüchen, und ihre Widerspiegelung in ersten Umfragen; Kritik aus den UN an französischer Polizei(politik); Vor diesem Hintergrund ist es kein Wunder, dass eines der übelsten Folterregimes – dasjenige im Iran, das eine „Reisewarnung“ für Frankreich aussprach – sowie hochgradig autoritäre Regierungen wie in der Türkei nun mit dem Daumen auf Frankreich und die dortigen Vorgänge verweisen konnte… Nun wird für den kommenden Samstag, den 15. Juli 23 zu einer neuerlichen Protestkundgebung/-demo auf die Pariser place de la République aufgerufen…

Verboten, stattgefunden, im Wanderkessel marschiert…: Ungefähr so lässt sich das Geschehen um die Pariser Demonstration vom gestrigen Sonnabend, den 08. Juli 23 zum Thema Polizeigewalt (und einige Tage vor dem Jahrestag des Todes von Adama Traoré im Gewahrsam der Gendarmerie, im Juli 2016) zusammenfassen.

Wie wir am Freitag/Samstag bei LabourNet berichteten , wurde diese Demonstration im Vorfeld doppelt verboten: zunächst in der ungefähr 35 Kilometer nördlich von Paris gelegenen Doppelstadt Persan-Beaumont, wo sich der Tod von Adama Traoré ereignete, und am darauffolgenden Tag auch die Ausweichdemo im Pariser Stadtgebiet.

Auch eine CGT-Vorständlerin kam

Verbotene Demo am 8. Juli 2023 in Paris - kurz vor Kesselbildung (Foto: Bernard Schmid)

Verbotene Demo am 8. Juli 2023 in Paris – kurz vor Kesselbildung

Um 15 Uhr sammelten sich dort dennoch rund 2.000 Menschen zur Demo. (Die französische Nachrichtenagentur AFP spricht an diesem Sonntag morgen von „gut 2.000“, beim Privatfernsehsender BFM TV hieß es am Vorabend: „2.000“, während das in jüngerer Zeit hetzerisch auftretende konservativ/wirtschaftsliberale Wochenmagazin von „1.000“ schrieb.)

An ihr nahm auch Céline Verzelleti, Mitglied im Vorstand oder Bureau confédéral des Gewerkschaftsdachverbands CGT (vgl. https://www.cgt.fr/actualites/france/interprofessionnel/53e-congres-cgt/le-bureau-confederal-de-la-cgt-compte-desormais-14-membres externer Link und https://www.humanite.fr/social-eco/cgt/la-cgt-une-direction-solide-et-qui-rassemble-799611 externer Link), teil, ebenso wie an der Pressekonferenz zur Kritik des Demo-Verbots. (Vgl. https://twitter.com/VerzelettiCeli1/status/1677655917364498434 externer Link)

Die Mobilisierung war insofern überschaubar, doch real. Üblicherweise kamen in den letzten Jahren, zur Jahrestags-Demo „Wahrheit für Adama Traoré“, in Persan-Beaumont seit 2017 rund (2.500 bis) 3.000 Menschen zusammen (siehe zuletzt den Artikel mit Photos von Bernard Schmid vom 22.7.2020: https://www.labournet.de/?p=175884). Allerdings weit außerhalb vom Zentrum des Pariser Ballungsraums, von wo aus man eine Zugstunde im Vorortzug bis zum Bahnhof von Persan benötigt. Durch die kurzfristige Verlagerung rückt für viele nicht vor Ort (in Persan, Beaumont-sur-Oise oder in der Nähe) wohnende Menschen die gestrige Demo eher näher heran, doch entfernte sie sich für die örtliche Unterstützer/innen/basis geographisch.

Überdies wurden, um die Durchsetzung des Demo-Verbots zu gewährleisten, sämtliche Zugverbindungen zwischen Paris (ab Gare du Nord) und Persan an jenem Samstag zwischen 10 und 19 Uhr auf polizeiliche/behördliche Anordnung hin gestrichen. (Vgl. https://actu.fr/ile-de-france/beaumont-sur-oise_95052/marche-pour-adama-le-trafic-des-trains-interrompu-sur-la-ligne-h-autour-de-persan_59833196.html externer Link und https://twitter.com/LigneH_SNCF/status/1677400302771642387 externer Link) Dies schnitt möglicherweise einen Teil des örtlichen Unterstützer/innen/netzes von der Möglichkeit der Demo-Teilnahme ab.

Vor allem jedoch sorgten die kurzfristige Ortsänderung, die auch über die Leitmedien übertragene Verbotsdiskussion/-ankündigung (mitsamt ihren potenziellen Konsequenzen für Teilnehmenden) und die Ungewissheit über Möglichkeiten, die Demo doch durchzusetzen, sicherlich für eine gewisse Demobilisierung. Und die offizielle Verkündigung des Verbots für die Ausweichdemo in Paris – obwohl dieses bereits in den Sechs-Uhr-Nachrichten französischer Fernsehsender angekündigt worden war – erfolgte erst um 10.30 Uhr an diesem Samstag. Und damit zu kurzfristig, um noch, eventuell erfolgreich oder auch nicht, auf dem Verwaltungsgerichtsweg angefochten werden zu können.

8. Juli 2023 in Paris: Umstrittene polizeiliche Motorradeinheit BRAV-M nimmt Aufstellung (Foto: Bernard Schmid)

8. Juli 2023 in Paris: Umstrittene polizeiliche Motorradeinheit BRAV-M nimmt Aufstellung

An dieser Stelle ging es eindeutig um friedlichen und nicht um flammenden Protest. Begründet worden war das Verbot einerseits damit, dass die Polizeikräfte durch die Unruhen/Riots gebunden und beschäftigt seien, und die Polizeigewerkschaften machten die Übermüdung der Einsatzkräfte und ihre Überarbeitung geltend. Doch waren diese Unruhen seit einer knappen Woche bereits abgeklungen. Und betrachtet man, welche Kräfte zur Niederschlagung der Demonstration mobilisiert worden waren (vgl. unten; mehrere Hundertschaften, allein an der Ecke boulevard Magenta/Kirche Saint-Laurent/Gare de l’Est waren dreißig Mannschaftsfahrzeuge geparkt), so könnte man davon ausgehen, dass ein Bruchteil dieser Kräfte genügt hätte, um bei Stattfinden der Demo über die Einhaltung der Ordnung zu wachen und den Verkehr zu regeln. In siebenjähriger Existenz der Adama Traoré-Jahrestagsdemo in Persan-Beaumont kam es dort nie zu Zwischenfällen oder Ausschreitungen. Von behördlicher Seite wird die Argumentation vorgetragen (übernommen auch etwa durch den rechtsextremen Abgeordneten Philippe Ballard im TV, vgl. https://www.bfmtv.com/replay-emissions/le-live-bfm/risque-d-emeutes-le-14-juillet-faut-il-durcir-la-loi-08-07_VN-202307080234.html externer Link), aberaber bei einer Demonstration, zu welcher auch die Familie von Adama Traoré aufrief, jener zum Tod von George Floyd am 02. Juni 2020 vor dem Pariser Justizgebäude (vgl.: https://www.labournet.de/internationales/frankreich/lebensbedingungen-frankreich/frankreichs-george-floyd-heisst-adama-traore-massenproteste-gegen-rassismus-und-polizeiterror-im-ganzen-land/), sei es im Anschluss zu Zwischenfällen mit circa zwanzig vorläufigen Festnahmen gekommen. Dort waren jedoch über 25.000 Leute; einen Ordnerdienst konnte es – anders als bei den Jahrestagsdemos in Persan-Beaumont – nicht geben, weil diese Demo im Juni 2020 kurzfristig anberaumt und ferner verboten war. Und die Zwischenfälle fanden zunächst in weiter räumlicher Entfernung vom Demo-Geschehen statt, denn in der Nachbarschaft Clichy-la-Garenne wurde eine Polizeiwache attackiert, bevor die gewaltsame Räumung der Demo in ihrer Schlussphase zu Zusammenstößen führte. Dies ändert nichts daran, dass es von 2017 bis 2022 zum Jahrestag in Persan-Beaumont stets geordnet zuging.

Die polizeiliche Seite berief sich ferner darauf, die kürzlich verbotene Umweltorganisation Les Soulèvements de la Terre oder „Die Erhebungen/Aufstände der Erde“ – deren Verbotsverfügung wurde am 21. Juni 23 im Ministerrat angenommen, doch ging die Organisation juristisch dagegen vor, ihr Verbot ist deswegen noch nicht rechtswirksam – habe zur Teilnahme an der Demonstration gegen Polizeigewalt von diesem 08. Juli d.J. aufgerufen. Deswegen sei, behauptete der Polizeipräfekt, mit einem erhöhten Risiko von Gewalttätigkeiten zu rechnen. (Vgl. https://www.leparisien.fr/val-d-oise-95/marche-pour-adama-traore-la-justice-confirme-linterdiction-du-prefet-du-val-doise-07-07-2023-ACZEPFZI6JBDRDRUUVABZONNJI.php externer Link) Auch drohe die Anwesenheit von Mounia, der Mutter des am 27.06.23 in Nanterre getöteten Mahel Merzouki, „für sich allein rund um das Ereignis Störer anzuziehen“. (Vgl. https://www.liberation.fr/societe/police-justice/le-rassemblement-pour-adama-traore-et-les-marches-citoyennes-de-la-gauche-menacees-dinterdiction-20230706_4EE7JGUANVCUFNJSAXRQV3LOZM/ externer Link)

Einkesselung

Umgehend wurde die eingetroffene Teilnehmer/innen/schaft durch starke Polizeikräfte empfangen. Bereits bei Eintreffen der Familie von Adama Traoré, vertreten durch mehrere Brüder und Schwestern des Getöteten, eine halbe Stunde bis Stunde vor dem offiziellen Beginn der (untersagten), mussten diese sich erst auf den Platz durchkämpfen. Und alsbald, kurz nach 15 Uhr, wurde die sich sammelnde Kundgebung oder Demonstration umzingelt. Dabei wurde der Platz auch demonstrativ mehrfach durch die Motorradbrigade BRAV-M umfahren; dieser gehörte in jüngerer Vergangenheit (2020) auch der polizeiliche Todesschütze von Nanterre an, „Florian M.“ – die örtliche Zeitung Oise Hebdo schreibt inzwischen, es handele sich um Florian Menesplier. (Vgl. https://www.labournet.de/wp-content/uploads/2023/07/fr-schmid080723.pdf pdf und https://www.oisehebdo.fr/2023/07/06/policier-tue-nahel-nanterre-florian-menesplier-bornel/ externer Link). Jener verrichtete dort Dienst, bevor er vorübergehend bei der ebenfalls motorisierten Polizeieinheit CSI-93 im Département Seine-Saint-Denis tätig war. Letztere Einheit CSI-93 ist in siebzehn Strafverfahren gegen Mitglieder u.a. wegen rassistischer Delikte, Gewalttätigkeiten, Urkunden- und Beweismittelfälschung verwickelt worden und stand zeitweilig kurz vor ihrer Auflösung. (Vgl. https://www.infolibertaire.net/le-tueur-de-nahel-connu-pour-exhibition-sexuelle/ externer Link und u.a. https://www.lemonde.fr/societe/article/2021/01/14/affaire-de-la-csi-93-quatre-nouvelles-gardes-a-vue_6066274_3224.html externer Link)

8. Juli 2023 in Paris: Am Ostbahnhof: Armee & Polizei schön vereint... (Anm.: Die Armee griff nicht ein, steht dort auf Anti-Terror-Streife) (Foto: Bernard Schmid)

8. Juli 2023 in Paris: Am Ostbahnhof: Armee & Polizei schön vereint… (Anm.: Die Armee griff nicht ein, steht dort auf Anti-Terror-Streife)

In der weiteren Folge drängten die Einheiten von Polizei und Gendarmerie, die zusammen mehrere Hundertschaften zusammengezogen hatten, die Teilnehmer/innen/menge von der place de la République herunter auf den boulevard Magenta, also die Verkehrsader die von dort zum Nord- und Ostbahnhof führt. Dicht vor Erreichen der Höhe des Letzteren (die Gare de l’Est, also der Ostbahnhof, kommt auf der Strecke zuerst, die Gare du Nord erst später) kam der durch ein Polizeispalier begleitete Zug im Wanderkassel kurzfristig auf einer Verkehrskreuzung zum Stehen. Dort wurde er dann unter Einsatz von Reizgas, möglicherweise handelte es sich um Pfefferspray, aufgesprengt.

Repression gegen die Traoré-Familie. Journalisten verletzt

Unmittelbar im Anschluss wurde bekannt, dass Youssouf Traoré, einer der Brüder von Adama Traoré, in der Nähe verhaftet worden sei. Von offizieller Seite verlautbarte kurz darauf, eine Polizeikommissarin werfe ihm vor, er sei beim Auftakt auf der place de la République ihr gegenüber gewalttätig geworden (und diese wolle Strafanzeige erstatten). Die Festnahme, die gefilmt und inzwischen vielfach ausgestrahlt wurde, verlief schnell doch brutal. Die anwesende (links-) grüne Abgeordnete Sandrine Rousseau sprach diesbezüglich von einer „Schande“. (https://www.huffingtonpost.fr/faits-divers/video/marche-pour-adama-traore-l-arrestation-de-son-frere-youssouf-racontee-par-notre-reporter_220391.html externer Link)

Auf der Höhe des Ostbahnhofs, wo der Überrest des versprengten Wanderkessels zuletzt zum Stehen kam, verhandelten gegen 16 Uhr die beiden Abgeordneten Eric Coquerel (LFI) und Sandrine Rousseau von der Grünenpartei EE-LV mit der Polizei längere Zeit über Möglichkeiten zum Zugang zu dem festgenommenen Traoré. In der Nähe, auf der anderen Straße, sammelten sich unterdessen dort zusammengezogene Einsatzkräfte mit der Polizei mit den dort zwecks Attentatsprävention stationierten Armeeangehörigen und tauschten sich eifrig aus – die zum Militär zählende Anti-Terror-Präventionsoperation Sentinelle wurde in ihrer jetzigen Form nach den Attentaten von 2015 eingerichtet. Ein symbolisches Bild; auch wenn es nicht wirklich darüber hinausging.

(Einschub: Nein, die Armee griff nicht in das Geschehen rund um die Demo bzw. deren Niederschlagung ein. Allerdings rief es in einem anderen Kontext Aufmerksamkeit hervor, dass jüngst im bretonischen Lorient – wir berichteten – offenkundig Armeeangehörige auf eigene Faust und ohne rechtliche Grundlage dafür an der Riotbekämpfung teilnahmen; wir berichteten. darüber Die faschistische Netzpublikation Riposte Laïque – nein, verlinken wir jetzt nicht – schwärmte deswegen in der zurückliegenden Woche bereits von einer „neuen OAS“, unter Berufung auf die 1961 bis circa 1964 tätige rechtsextreme Untergrundorganisation OAS, die in der Schlussphase des Algerienkriegs zum Teil aus putschgelüstigen Armeeangehörigen gebildet wurde. Nein, so weit ist die heutige Realität nicht!)

Bei der Szene rund um die Festnahme wurden auch drei Journalisten respektive Photographen zur Zielscheibe polizeilicher Gewalt; einem wurde das Teleobjektiv zertrümmert. Die (Online-)Zeitung Huffington Post, für die einer der drei Betroffenen arbeitet, protestierte offiziell dagegen. Mittlerweile wurde deswegen offiziell eine „behördliche Untersuchung“ eingeleitet. (Vgl. https://www.huffingtonpost.fr/le-huffpost/article/adama-traore-le-huffpost-condamne-les-violences-subies-par-les-journalistes-en-marge-de-la-marche-a-paris_220393.html externer Link und https://www.huffingtonpost.fr/faits-divers/article/apres-les-violences-policieres-contre-des-journalistes-une-enquete-administrative-ouverte_220411.html externer Link) Selbst beim bürgerlichen Rund-um-die-Uhr-Privatfernsehsender BFM TV (der die Bilder der Festnahme von Youssouf Traoré zeigte) wurde über das brutale Vorgehen gegen die drei Journalisten am Samstag im Vorabendprogramm zeitweilig klar benannt; der Sender ist nicht immer so polizeikritisch. (Vgl. auch dessen Interview mit dem betroffenen Journalisten Clément Lanot: https://www.dailymotion.com/video/x8mdb5p externer Link )(Auch dazu gibt es Vorläuferbeispiele, just im Zusammenhang mit der Truppe BRAV-M: https://www.huffingtonpost.fr/politique/article/des-policiers-de-la-brav-m-gazent-un-journaliste-la-nupes-s-indigne_215947.html externer Link)

Youssouf Traoré wurde bei seiner Festnahme im Gesicht verletzt, u.a. am Auge und am Nasenbein. (Vgl. Photo in: https://www.infolibertaire.net/communique-du-collectif-verite-pour-adama/ externer Link) Am Sonntag mittag (am heutigen 09.07.23) wurde bekannt, dass Traoré deswegen aus dem Polizeigewahrsam in ein Krankenhaus überstellt worden war und dort die Nacht verbracht hatte. (Vgl. https://www.lefigaro.fr/actualite-france/marche-interdite-a-paris-youssouf-traore-hospitalise-sa-garde-a-vue-levee-20230709 externer Link) Der Anwalt der Familie kündigte eine Strafanzeige gegen die Polizei aufgrund von Misshandlung durch Amtsträger an. (https://www.francetvinfo.fr/faits-divers/adama-traore/interdiction-de-la-marche-pour-adama-traore-un-frere-d-assa-traore-interpelle-pour-violences-sur-personne-depositaire-de-l-autorite-publique_5938643.html externer Link) Am Sonntag Nachmittag war Youssouf Traoré dann wieder frei. (Vgl. u.a. https://www.europe1.fr/societe/marche-interdite-youssouf-traore-est-sorti-de-lhopital-rassemblement-devant-un-commissariat-4193308 externer Link und https://www.rtl.fr/actu/justice-faits-divers/adama-traore-son-frere-youssouf-est-sorti-de-l-hopital-apres-sa-garde-a-vue-7900281482 externer Link)

Die bei der Demo anwesenden grüne Abgeordnete Sandrine Rousseau betonte ihrerseits in einem Interview (https://www.bfmtv.com/replay-emissions/week-end-direct/marche-interdite-a-paris-manifs-en-region-08-07_VN-202307080462.html externer Link) am Samstag Abend, bei der Festnahme von Youssouf Traoré hätten sich drei Polizisten auf dessen Körper gesetzt, um ihn am Boden liegend zu fixieren; dies sei dieselbe Festnahmetechnik (genannt plaquage ventral), welche auch die Gendarmerie gegen dessen getöteten Bruder Adama Traoré eingesetzt habe. Diese polizeiliche Technik kann, durch Erstickungsfolgen oder Herz-Kreislauf-Probleme, u.U. tödliche Auswirkungen haben und zog weitere Todesopfer (vgl. https://fr.wikipedia.org/wiki/Mort_de_Lamine_Dieng externer Link) nach sich. Es sei „eine Provokation“, wenn gegen einen anderen Bruder nun dieselbe Technik angewendet werde.

8. Juli 2023 in Paris: Am Ostbahnhof - Wanderkessel angekommen, Abgeordnete verhandeln an Absperrung üb. Zugang zum festgenommenen Bruder v. Adama Traoré (Foto: Bernard Schmid)

8. Juli 2023 in Paris: Am Ostbahnhof – Wanderkessel angekommen, Abgeordnete verhandeln an Absperrung üb. Zugang zum festgenommenen Bruder v. Adama Traoré

Die Polizeipräfektur von Paris (= d.h. durch die Zentralregierung eingesetzte oberste Polizeidirektion für die gesamte Hauptstadtregion, zugleich Ausländerbehörde für das Pariser Stadtgebiet zuzüglich Führerscheinbehörde) kündigte nun ihrerseits an, gegen die Schwester Assa Traoré Strafanzeige zu erstatten. Dieses Familienmitglied ist „der Motor“ der alljährlichen Mobilisierung für den Gedenktag zum Tod von Adama Traoré sowie weiterer Demo-Beteiligungen durch das „Kollektiv Wahrheit für Adama“. Ihr soll nun wegen „Organisierens einer illegalen Demonstration“ ein strafrechtlicher Vorwurf gemacht werden. Juristisch riskieren Teilnehmer/innen an einer verbotenen Demonstration eine Geldbuße in Höhe von 135 Euro (vgl. https://www.legifrance.gouv.fr/codes/section_lc/LEGITEXT000006070719/LEGISCTA000038253014/ externer Link); ein wohlmeinender Anwaltskollege sowie die linksgrüne Abgeordnete Rousseau erklären in den letzten 24 bis 36 Stunden im französischen TV, eine solche Teilnahme sei „nicht illegal“, was nicht völlig zutrifft, es handelt sich um eine Ordnungswidrigkeit), doch Organisator/inn/en einer ausdrücklich verbotenen doch durchgeführten Demonstration droht eine bis zu sechsmonatige Haftstrafe und/oder eine Geldstrafe in Höhe von bis zu 7.500 Euro. Dabei handelt es sich um ein Vergehen (vgl. https://www.legifrance.gouv.fr/codes/article_lc/LEGIARTI000006418472 externer Link); dieses soll nun Assa Traoré vorgeworfen werden. Hatte sie doch die Polizei lange genug verärgert…?

Allerdings hatte auch ATTAC Frankreich und andere Strukturen ihren Demo-Aufruf nach dem Verbot ausdrücklich aufrechterhalten.

Infolge der polizeilichen Unterbindung der Demonstration zum Adama Traoré-Gedenktag sowie gegen Polizeigewalt, an diesem Wochenende in Paris, publizierten fünfhundert Erstunterzeichner/innen einen gemeinsamen Aufruf zum Protest: https://solidaires.org/sinformer-et-agir/actualites-et-mobilisations/communiques/communique-unitaire-liberation-des-militants-et-suite-du-8-juillet/ externer Link

Nun wird für den kommenden Samstag, den 15. Juli 23 (allerdings inmitten eines langen Wochenendes infolge des Nationalfeiertags am Freitag, den 14. Juli) zu einer neuerlichen Protestkundgebung/demo auf die Pariser place de la République aufgerufen. (https://blogs.mediapart.fr/les-invites-de-mediapart/blog/080723/mort-de-nahel-cole-re-et-effroi-500-personnalites-alertent externer Link und (Afp-Meldung): https://www.lefigaro.fr/actualite-france/adama-traore-une-nouvelle-manifestation-prevue-samedi-15-juillet-place-de-la-republique-20230709 externer Link)

Im übrigen Frankreich fanden ebenfalls, auf Aufruf von neunzig Organisationen – unter ihnen, im gewerkschaftlichen Bereich, die CGT und die Union syndicale Solidaires – Demonstrationen gegen Polizeigewalt im Zusammenhang mit dem jüngsten Skandal um die Tötung von Nahel Merzouk in Nanterre statt.

In Lille wurde diese Demo ebenfalls verboten; in Marseille konnte sie nicht im Stadtzentrum stattfinden, sondern fernab vom Schuss. (Die Innenstadt von Marseille war von den Riots in den ersten Tagen nach dem Bekanntwerden des Todes von Nahel Merzouk, am 27. Juni, stark durch Riots und auch Plünderungen betroffen. Eine Besonderheit von Marseille liegt darin, dass es dort, anders als in bzw. rund um Paris und Lyon, keine banlieues oder Trabantenstadtzonen gibt, sondern dass dort die Armutszonen und „sozialen Brennpunkte“ im Stadtgebiet liegen; die Drogensupermärkte unter freiem Himmel aber auch.) Dazu kamen in Marseille laut behördlichen Angaben 750 Menschen zusammen.

Im übrigen Frankreich fiel die Mobilisierung nicht sonderlich aus, wobei von den Spannungen in den Trabantenstädten in diesen letzten Juni- und ersten Juli-Tagen politisch vor allem die Räumen Paris und Lyon betroffen waren (was nicht ausschloss, dass es etwa auch in Bordeaux und Toulouse kurzzeitig zu Riots kam). Laut behördlichen Zahlen demonstrierten im westfranzösischen Nantes „640“, in der Elsassmetropole Strasbourg „400“, in einer Trabantenstadt von Lyon „450“ sowie in Bordeaux „200“ Menschen zum Thema.

Die behördliche Zahl für diesen Samstag (08.07.23) für ganz Frankreich lautet auf 5.900 Teilnehmer/innen insgesamt (vgl. dazu die folgende Afp-Meldung: https://www.lefigaro.fr/actualite-france/violences-policieres-5900-personnes-ont-manifeste-en-france-samedi-selon-l-interieur-20230709 externer Link; vgl. ferner auch zur Auswertung dieses Samstags: https://www.mediapart.fr/journal/france/080723/d-adama-traore-nahel-la-marche-contre-les-violences-policieres-brave-les-interdits externer Link und https://www.infolibertaire.net/stop-aux-violences-policieres-et-au-racisme-detat-dissolution-de-la-brav-m/ externer Link)

Reaktionen der öff. Meinung auf die Proteste, Revolten, Riots

Die französische öffentliche Meinung reagiert zwar insgesamt gespalten, doch überwiegend mit einem Rechtsruck und einer Zuflucht zu Autoritätswünschen auf die jüngsten Revolten/Riots.

Global zeigen rund zwei Drittel der Befragten (in der französischen Gesamtbevölkerung) mit klarer Ablehnung der Riots, 20 mit 25 Prozent mit Verständnis, ohne die eingesetzten Mittel zu teilen; und nur ein geringer Prozentsatz erklärt eine wie auch immer geartete „Unterstützung“ wohl unter Einschluss jedenfalls eines Teils der gewählten Mittel (dazu zählten Angriffe auf die Polizei aber auch auf Geschäfte, Plünderungen…). (Vgl. dazu: https://www.tf1info.fr/justice-faits-divers/violences-urbaines-mort-de-nahel-plus-d-un-francais-sur-deux-eprouve-de-la-confiance-ou-de-la-sympathie-pour-la-police-2262631.html externer Link (69 % „Verurteilung“, 28 % „Verständnis“ und 03 % „Unterstützung“; anscheinend waren keine Mehrfachnennungen vorgesehen) und https://www.lefigaro.fr/politique/emeutes-les-francais-attribuent-les-violences-a-l-echec-de-la-politique-migratoire-20230706 externer Link (Antworten zu den angebotenen Optionen für Reaktionen, offenkundig waren hier Mehrfachnennungen möglich: 89 % „Angst um die Zukunft Frankreichs“; 84 % „Wut“ über die Riots; 66 % „Angst“; 21 % „Verständnis“; 14 % „Unterstützung“).

Als mehrheitsfähig erweist sich die Unterstützung, bezogen auf die jeweilige Wähler/innen/schaft aller größeren politischen Kräfte/Parteien, ausschließlich in jener der gemischt linkssozialdemokratischen, linksökologischen und linkspatriotischen Wahlplattform LFI („Das unbeugsame Frankreich“); der zuletzt zitierten Umfrage zufolge stößt dort die Option „Verständnis“ auf 60 Prozent Zustimmung. Hingegen bleibt das „Verständnis“ bei allen anderen Parteien – die nicht im Parlament vertretene radikale Linke stand bei der Umfrage nicht zur Auswahl – klar in der Minderheit.

Oberflächlichen politischen Ausdruck fand dies, mittelbar, in jüngsten Umfrageergebnissen im Hinblick auf die nächste frankeichweit stattfindende Wahl, d.h. die regulär am 09. Juni 2024 stattfindende nächste Europaparlamentswahl. Der Block der politischen Rechtskräfte (bestehend aus der konservativen Oppositionspartei Les Républicains – LR, der am Scharnier zwischen Konservativen und Rechtsextremen stehenden Kleinpartei von Nicolas Dupont-Aignan sowie dem neofaschistischen Rassemblement national – RN, „Nationale Sammlung“, und der durch Eric Zemmour gegründete Partei Reconquête!, „Rückeroberung!“) schnellt demnach in den Tagen nach den Unruhen von zuvor 42 % auf nun 48 % der Stimmabsichten hoch. (https://www.lefigaro.fr/politique/europeennes-2024-forte-poussee-du-bloc-de-droite-apres-les-emeutes-selon-un-sondage-20230707 externer Link) Dies entspräche in Deutschland ungefähr einem Spektrum, das durch die CDU/CSU und die AfD (sowie früher die NPD) abgedeckt wird, jedoch ohne die FDP; wobei die ungefähre Entsprechung zur FDP, also das politischer Lager rund um Emmanuel Macron, im französischen Falle derzeit wesentlich stärker ist als die niedergehende konservative Partei LR. Heute kann, anders als noch in jüngerer Vergangenheit, ein Bündnis von LR-Konservativen und Rechtsextremen nicht länger ausgeschlossen werden.

Bei den letzten Europaparlamentswahlen in Frankreich 2019 schnitten der rechtsextreme RN mit gut 23 % und Emmanuel Macrons Partei – damals LREM, jetzt Rennaissance – mit gut 22 % als die beiden stärksten Kräfte ab. Derzeit erhielte hingegen der rechtsextreme RN 26 %, und eine Liste der Macron-Partei Renaissance ihrerseits 20 % der Stimmen. (Vgl. https://www.ifop.com/publication/balise-dopinion-232-les-consequences-politiques-des-emeutes-urbaines-consecutives-a-la-mort-de-nahel-m/ externer Link) Tiefer gehend lässt sich analysieren, wie die französische Gesellschaft (in ihrer Mehrheit, und bei aller Gespaltenheit) inhaltlich auf die jüngsten Ereignisse reagiert.

Zunächst einmal lässt sich festhalten, dass die Pseudoerklärung der Proteste/Revolten/Riots/Gewalt durch „die Immigration“, die Einwanderung/Zuwanderung (inzwischen in Deutschland u.a. durch die BILD-Zeitung und jedenfalls Teile der FDP als Narrativ übernommen, die AfD ohnehin: https://www.bild.de/bild-plus/politik/inland/politik-inland/fdp-warnt-vor-zustaenden-wie-in-frankreich-unkontrollierte-zuwanderung-bedroht-i-84540640.bild.html externer Link) durchaus Zulauf erhält.

Öl ins Feuer goss dazu jüngst auch der frühere französische Nachrichtendienst-Chef Pierre Brochand, welcher zum Ende der abgelaufenen Woche ausführlich im konservativ-reaktionären Figaro Magazine, Wochenendbeilage der Tageszeitung Le Figaro, zu Wort kam. Übertitelt wurde eine Onlinefassung seines Interviews durch die Zeitung mit der, bereits Alles aussagenden, zusammenfassenden Adresszeile: „Pierre Brochand: Wenn wir dahin gekommen sind, dann wegen einer massiven Besiedlungs-Zuwanderung.“ (https://www.lefigaro.fr/actualite-france/pierre-brochand-ex-dgse-si-nous-en-sommes-la-c-est-a-cause-d-une-immigration-de-peuplement-massive-20230706 externer Link) Massiv übernommen wurde dieses Interview, wie kaum anders zu erwarten, bei rechtsextremen Medien; wir fanden es etwa an prominenter Stelle in der Newsletter-Aussendung der rechtsextremen Publikation La Lettre patriotique (…verlinken wir jetzt mal nicht). Brochand beziffert im Übrigen die angebliche Anzahl von Teilnehmer/inne/n an gewalttätigen Riots auf absolut wahnsinnige „100.000 bis 200.000“, wo der bürgerliche Rund-um-die-Uhr-Privatfernsehsender BFM TV wesentlich realistischer von „8.000 bis 12.000“ spricht; und selbst (andere) rechtsextreme Medien, wie das vom Titel her scheinbar wirtschaftsliberal daherkommende entreprendre, von frankreichweit „8.000 bis 15.000“.

Ein solcher Diskurs scheint in Teilen der Öffentlichkeit erheblich zu verfangen. Jedenfalls spricht sich laut einer jüngst publizierten Umfrage des Instituts Odoxa für (wiederum) Le Figaro angeblich, als Antwort auf die Unruhen/Riots, ein Anteil von 71 % für „eine Reduzierung der Einwanderungsströme“ aus, und 75 % für einen Entzug der französischen Staatsangehörigkeit für Riot-Teilnehmer/innen. (Vgl.: https://www.lefigaro.fr/politique/emeutes-les-francais-attribuent-les-violences-a-l-echec-de-la-politique-migratoire-20230706 externer Link (Und 59 % fordern demnach eine „Verschärfung des in Vorbereitung befindlichen nächsten Ausländergesetzes“; dieses kann aber nur kommen, falls Innenminister Gérald Darmanin sich in der Rechtsopposition mindestens mit Le Républicains /LR einigen kann. Was sich als schwierig herausstellen dürfte, da LR wiederum Alles daran setzen dürfte, im verbalen Überbietungswettbewerb mit der extremen Rechten unter Marine Le Pen und Eric Zemmour nicht als „gegenüber der Regierung einknickende Schwächlinge“ dastehen zu müssen.)

Einer anderen Umfrage zufolge zitieren allerdings (wesentlich niedrigere) 34 % die Immigration als „Ursache“. (Vgl. https://elabe.fr/police-emeutes-urbaines/ externer Link) Es kommt eben wohl auch sehr darauf an, wie Fragen gestellt und welche Antwort-Alternativen angeboten werden.

Doch die Realität ist generell widersprüchlicher, komplexer. Denn obwohl die konservativ-reaktionäre Presse, in Gestalt des Figaro, die Ergebnisse der Umfrage in der Überschrift vollständig auf das Thema „Ausländerpolitik“/ Einwanderung lenkt (vgl. dazu oben verlinkten Artikel), finden andere Antworten sogar noch stärkeren Zuspruch. Dies trifft zT. auf repressive Antworten zu – etwa den Wunsch nach der Bestrafung von Eltern bei den Unruhen straffällig werdender Jugendlicher, was ja aktuell auch in der etablierten Politik etabliert wird, seitens der Regierung (vgl. https://www.lefigaro.fr/politique/une-amende-des-la-premiere-connerie-borne-confirmer-reflechir-a-une-sanction-pour-les-parents-de-mineurs-delinquants-20230709 externer Link und https://www.lefigaro.fr/politique/emeutes-pap-ndiaye-ouvert-aux-sanctions-mais-pas-a-la-suppression-des-allocations-20230709 externer Link) und der lautstark fordernd auftretenden Oppositionspartei LR (vgl.: https://www.liberation.fr/idees-et-debats/opinions/la-droite-francaise-encore-une-fois-la-plus-bete-du-monde-20230709_IONZ6KT5RFDTRIEBXMEVOWO2IA externer Link), aber eben nicht nur.

So findet laut der zuvor zitierten Umfrage (vgl. oben) eine eher deseskalierend angelegte Option sogar die stärkste Zustimmung. Es handelt sich um den Wunsch nach einer Rückkehr zur police de proximité, also einer „einwohnernahen“ und eher eskalations-abbauend auftretenden, in der örtlichen Gesellschaft verankerten Polizei in den „sozialen Brennpunkten“, die nicht nur als von außen eindringende Repressionstruppe auftritt. Eine solche police de proximité hatte die sozialdemokratisch/grüne/parteikommunistische Regierungskoalition der Jahre 1997 bis 2002 eingeführt – nein, hat nicht alle Probleme auf einen Schlag gelöst -, doch der konservativ-repressiv auftretende Innenminister der Jahre 2002 ff. und spätere Staatspräsident Nicolas Sarkozy schaffte sie auf einen Schlag wieder ab. (https://www.telepolis.de/features/Erklaerung-des-Ausnahmezustands-als-Antwort-auf-die-Unruhen-3403529.html externer Link)

Auch erklären lt. einer anderen Umfrage (des Instituts Elabe für den Privatfernsehsender BFM TV) wiederum 48 % der Befragten, die Trabantenstädte oder jedenfalls die sozial schlechter gestellten unter ihnen seien „durch die Republik vergessen“, also abgehängt; darauf insistiert wiederum die linksplurale Wahlplattform LFI in ihren Darstellungen, um hier mit Änderungswünschen anzusetzen. (https://linsoumission.fr/2023/07/06/moitie-francais-banlieues-oubliees/ externer Link und https://www.bfmtv.com/police-justice/emeutes-pour-51-des-francais-les-banlieues-sont-des-quartiers-oublies-de-la-republique-sondage-elabe-bfmtv_VN-202307040818.html externer Link)

Alles in allem zeichnet sich also ein widersprüchliches Bild, in dem allerdings repressive Tendenzen durchaus relativ stark den Ton angeben. Insgesamt überwiegt als Reaktion auf die

Die an einem Scharnier zwischen Konservativen und Rechtsextremen angesiedelte Wochenzeitschrift Valeurs Actuelles wertet eine weitere Umfrage für den ähnlich orientierten TV-Sender CNews (im Eigentum von Vincent Bolloré) aus. Demnach treten angeblich 48 % der befragten Franzosen und Französinnen, angeblich überwiegend die jüngeren Generationen, für die Einstellung von Zahlungen an die Trabantenstädte für Sonderprogramme und Sozialinvestitionen ein. (Vgl. https://www.valeursactuelles.com/societe/subventions-des-banlieues-par-letat-pres-de-la-moitie-des-francais-sy-oppose externer Link) In anderen Umfragen hingegen stellt der Anteil derer, die sich gegen die Finanzierung von Sozialprogrammen in Trabantenstädten und „sozialen Brennpunkten“ aussprechen, eher „zwischen einem Viertel und einem Drittel“ dar, „ vor allem in der Wählerschaft von LR und RN“ (vgl. https://www.rtl.fr/actu/politique/emeutes-en-france-77-des-francais-declarent-avoir-une-bonne-image-de-la-police-d-apres-notre-sondage-7900280654 externer Link), während sich derselben (soeben zitierten) Quelle zufolge zwischen 50 und 60 % für bessere Sozialprogramme dort aussprechen. Allerdings macht auch diese, zuletzt zitierte, Meinungsforschung eine erheblich repressive Tendenz aus.

Auch das Regierungslager scheint sich übrigens vor einem solchen Reflex in einem Teil der Mehrheitsgesellschaft in Gestalt eines: „Wir wollen nicht schon wieder zahlen für DIE“ zu fürchten; jedenfalls fällt die regierungsoffizielle Reaktion dieses Mal, im Vergleich zu jener infolge der Unruhen des Herbsts 2005 in vielen banlieues, wesentlich weniger in sozial-integrativem Tonfall aus. Zuvor bereits hatte die Macron-Regierung 2018 den vom früheren Mitte-Rechts-Minister Jean-Louis Borloo ausgearbeiteten Investitionsplan für die Überwindung struktureller Probleme in den Trabantenstädten und für eine Annäherung der Lebensbedingungen – den plan Borloo – schlicht vom Tisch gewischt. Nun wird er freilich wieder öffentlich (an)diskutiert. (Vgl. https://www.huffingtonpost.fr/politique/article/ce-que-contenait-le-plan-borloo-pour-les-banlieues-ecarte-par-macron-en-2018-et-qui-revient-dans-l-actualite-clx1_220197.html externer Link und https://www.ouest-france.fr/faits-divers/emeutes-urbaines/emeutes-apres-la-mort-de-nahel-quest-ce-que-le-plan-borloo-retoque-par-emmanuel-macron-en-2018-a3663d02-1bfb-11ee-be35-b1021cd955a7 externer Link sowie https://www.cnews.fr/france/2023-07-06/emeutes-en-france-quest-ce-que-le-plan-borloo-pour-les-banlieues-mis-de-cote-en externer Link)

Auf ein in der jungen Generation abbröckelndes (bei den unter 34jährigen wuchs demnach eine kritische Position von 19 % Zustimmung im Jahr 2016 auf jetzt 36 %, vgl. nächsten unten stehenden Link), doch nach wie vor mehrheitlich positives Image kann demnach lt. denselben demoskopischen Instituten die Polizei bauen. (Vgl. https://www.rtl.fr/actu/politique/emeutes-en-france-77-des-francais-declarent-avoir-une-bonne-image-de-la-police-d-apres-notre-sondage-7900280654 externer Link (demnach 77 % „positive Meinung“); zum Abgleich auch etwa: https://www.lejdd.fr/Societe/sondage-un-francais-sur-deux-a-confiance-dans-la-police-3912800 externer Link (hier: die Hälfte der Franzosen/Französinnen) und: https://www.lefigaro.fr/politique/nanterre-apres-la-mort-de-nahel-la-confiance-des-francais-dans-la-police-reste-bonne-20230630 externer Link)

„Uns doch wurscht“ im Pariser Stadtrat

Klar ist auch, dass einem Teil der öffentlichen oder veröffentlichten Meinung das Schicksal der banlieue-Bewohner/innen – ebenso wohl wie anderer Menschen, die ihnen (aus ihrer Selbstsicht) nicht ähneln – gleichgültig ist. Und dies vielleicht stärker, als es immer schon war, wobei diese Aussage zum Vergleich zu früher wohl noch einmal auf den Prüfstand müsste.

Sinnfälligen Ausdruck fand dies kürzlich im Pariser Stadtrat, wo eine konservative Stadtverordnete auf eine Erinnerung an die (2005 in der Vorstadt Clichy-sous-Bois unter Mitverantwortung der Polizei zu Tode gekommenen, was Auslöser damaliger Unruhen war) Jugendlichen Ziyed Benna und Bouna Traoré mit den Worten quittiert: „On s’en fout!“ Also: „Das ist uns scheißegal!“ Durch die amtierende, sozialdemokratische Pariser (Ober)bürgermeisterin Anne Hidalgo wurde die werte Dame darauf aus dem Saal gewiesen. (https://www.huffingtonpost.fr/politique/article/au-conseil-de-paris-anne-hidalgo-invite-une-elue-lr-qui-a-lance-on-s-en-fout-a-l-evocation-de-zyed-et-bouna-a-quitter-la-salle_220249.html externer Link)

Kritik aus den Vereinten Nationen

Mehrfach (insgesamt vier mal im laufenden Jahr) musste Frankreich jüngst Kritik seitens von Strukturen der Vereinten Nationen an seiner Sicherheits- und Polizeipolitik hinnehmen. Dabei ging es um die Polizeistrategie und -einsätze im Zusammenhang mit den Protesten gegen die Renten„reform“ dieses Frühjahrs, aber auch um Rassismus im Inneren der Sicherheitsorgane.

Am 07. Juli d.J. kritisierte so das „Komitee…“ oder der „Ausschuss der Vereinten Nationen gegen Rassendiskriminierung“ (gängige deutsche Übersetzung, besser wäre freilich „gegen rassistische Diskriminierung“, da keine menschliche Rassen existieren, es jedoch Rassismus gibt; englische Originalbezeichnung: CERD für Committee on the Elimination of Racial Discrimination) Frankreich und seine Polizeiorange für „überzogene Gewaltanwendung“ und die „überdauernde/fortwährende Praxis des Racial profiling“. Am darauffolgenden Tag reagierte die französische Regierung, und das Außenministerium wies die Vorwürfe zurück, unter Verweis auf die „innere, äußere und gerichtliche Kontrolle der Sicherheitskräfte“. (https://www.lopinion.fr/international/emeutes-la-france-conteste-les-propos-excessifs-sur-sa-police-tenus-par-un-comite-de-lonu externer Link und https://www.lefigaro.fr/flash-actu/emeutes-paris-conteste-les-propos-excessifs-d-un-comite-de-l-onu-20230708 externer Link) Wichtigstes Kontrollorgan für die französische Polizei ist die Allgemeine Dienstinspektion IGPN; diese untersteht zwar nicht unmittelbar der Polizeihierarchie, wohl aber direkt jener des Innenministeriums. Jene politischen und sozialen Kräfte, die derzeit die Proteste von Kritiker/inne/n rassistischer und/oder repressiver Polizeipraxis unterstützen, wie die Wahlplattform LFI fordern derzeit etwa ein Austauschen der IGPN durch eine „unabhängige(re) Kontrollinstanz“.

Am 01.05.2023 war bereits inhaltlich ähnliche Kritik an Frankreich im Menschenrechtsrat der UN laut geworden. Dieser hatte drei Stunden hindurch die Situation im Land untersucht. (https://www.bfmtv.com/international/la-france-epinglee-a-l-onu-pour-les-discriminations-raciales-et-sa-politique-de-maintien-de-l-ordre_AD-202305010350.html externer Link und https://www.lemonde.fr/international/article/2023/05/01/le-conseil-des-droits-de-l-homme-appelle-la-france-a-repenser-ses-politiques-en-matiere-de-maintien-de-l-ordre_6171678_3210.html externer Link)

Und Mitte Juni 2023 hatte ein siebenköpfiges Expert/inn/en-Gremium der UN die Praxis von Polizeieinsätzen bei Protesten, insbesondere jene der Motorradeinheit BRAV-M, sowie „kriminalisierende“ Äußerungen wie die vom französischen Innenminister benutzte Scheißhausparole…, ähm: Formulierung vom „Ökoterrorismus“ (vgl. https://www.labournet.de/internationales/frankreich/lebensbedingungen-frankreich/frankreich-kein-wintermaerchen-rentenreform-und-arbeitslosenversicherung-klimaaktivismus-und-umweltmilitanz-sowie-ein-neues-auslaendergesetz/#Teil2 externer Link). Vgl. dazu: https://www.rfi.fr/fr/france/20230616-pour-les-experts-de-l-onu-la-france-doit-proc%C3%A9der-%C3%A0-un-examen-complet-de-son-maintien-de-l-ordre externer Link)

Zuvor hatte der Sonderberichterstatter der Vereinten Nationalen für das Versammlungsrecht, Clément Voule (vgl. über ihn: https://www.ohchr.org/fr/special-procedures/sr-freedom-of-assembly-and-association/clement-nyaletsossi-voule-special-rapporteur-rights-freedom-peaceful-assembly-and-association externer Link) am 20. März dieses Jahres per Twitter angekündigt: „Ich verfolge sehr genau die laufenden Demonstrationen in Frankreich und erinnere daran, dass friedliches Demonstrationen ein Grundrecht darstellt, welches die Regierenden/Behörden (les autorités) garantieren und schützen müssen.“ (Vgl. https://www.liberation.fr/politique/les-nations-unies-observent-de-pres-la-police-francaise-20230321_AHQJHCAYSVHG7LI76BGZMA52UA/ externer Link und https://twitter.com/cvoule/status/1637792974334468096 externer Link)

An diesem Sonntag erklärte die Fraktionsvorsitzende der linkspluralen Wahlplattform LFI in der Nationalversammlung, Mathilde Panot, im sonntäglichen Politiker/innen/interview – das in weiten Teilen der Teilnahme von LFI an der gestrigen Demonstration gewidmet war (Teilnahme, die die vom Macron-Lager kommende Parlamentspräsidentin als „niederschmetternd“ bezeichnet hat (vgl.: https://www.lefigaro.fr/politique/marche-pour-adama-traore-la-presence-de-deputes-est-une-provocation-selon-aurore-berge-20230709 externer Link), bei seinem jüngsten Besuch in Frankreich sei sie selbst die einzige politische Verantwortliche gewesen, die bereit war, den UN-Sonderberichterstatter Clément Voule zu treffen. (Vgl. https://www.bfmtv.com/politique/mathilde-panot-l-interdiction-de-la-marche-pour-adama-est-une-provocation_VN-202307090199.html externer Link und https://www.bfmtv.com/politique/la-france-insoumise/mathilde-panot-nous-demandons-qu-on-refonde-la-police-de-la-cave-au-grenier_VN-202307090204.html externer Link und https://www.bfmtv.com/politique/mathilde-panot-ce-gouvernement-ne-controle-plus-la-police_VN-202307090206.html externer Link)

Panot verwies auch darauf, bei seinem Besuch in Zimbabwe (in einer astreinen Diktatur) sei Clément Voule durch den zuständigen Minister empfangen worden; in Frankreich nicht. Durch den zimbabwischen Minister sei er dann mit seiner dort vorgetragenen Kritik zum Land selbst darauf verwiesen worden, er solle sich doch lieber erst einmal darum kümmern, was aus seinen an die europäische Großmacht Frankreich gerichteten Kritiken werde.

Wenn Diktatoren über autoritäre Politik schimpfen (in Frankreich)…

Vor diesem Hintergrund ist es kein Wunder, dass eines der übelsten Folterregimes – dasjenige im Iran, das eine „Reisewarnung“ für Frankreich aussprach – sowie hochgradig autoritäre Regierungen wie in der Türkei nun mit dem Daumen auf Frankreich und die dortigen Vorgänge verweisen konnte; im iranischen und türkischen Falle auch, um in demagogischem Tonfall eine „Solidarität unter uns Muslimen“ vorzuspielen. Auch das amtierende Regime in Algerien, ebenfalls kein demokratisches, erklärte sich aus mindestens teilweise durchsichtigen Gründen nach dem Tod des jungen französisch-algerischen Doppelstaatsbürgers Nahel Merzouk „um seine Staatsangehörigen in Frankreich besorgt“. (Vgl. https://www.radiofrance.fr/franceinter/emeutes-l-iran-appelle-la-france-a-mettre-fin-au-traitement-violent-de-sa-population-3418196 externer Link und oder https://www.lefigaro.fr/vox/monde/ils-veulent-montrer-un-islam-opprime-par-l-occident-quand-la-turquie-et-l-iran-font-la-morale-a-la-france-20230707 externer Link und https://www.20minutes.fr/societe/4043859-20230702-emeutes-apres-mort-nahel-iran-appelle-france-mettre-fin-traitement-violent-population externer Link) Ähnliches trug sich bereits infolge der Repression rund um die Renten„reform“ in Frankreich im Frühjahr 2023 zu, auch das Regime in Russland spielte damals mit. Je mehr Mitspieler/innen mitmischen, desto lustiger wird es bekanntlich. (Vgl. https://www.lepoint.fr/societe/quand-la-chine-la-russie-et-l-iran-se-soucient-des-droits-de-l-homme-en-france-02-05-2023-2518535_23.php externer Link)

Inhaltlich ist solche Kritik – von jener Seite – natürlich ein schlechter Witz, und ihre Urheberschaft erlaubt es rechtslastigen französischen Presseorganen wie dem konservativ-hetzerischen Wochenmagazin Le Point, unter Verweis darauf (internationale) Kritik an Frankreich ganz pauschal abzubügeln. Gleichzeitig lässt diese Episode tief blicken. Wäre nicht ein wahrer Kern an der Kritik, die, würde sie von anderer Seite vorgetragen, ja richtig wäre, dann würde die Demagogie der iranischen Diktatur und anderer verdammungswürdiger Gestalten ja gar nicht funktionieren. (Vgl. noch zur wachsenden stiefelfaschistischen Gewalt, die sich als Ausdruck von „Bürgerwehren“ zu verkaufen versucht (wir berichteten in den letzten Tagen bereits): https://www.infolibertaire.net/les-fascistes-sorganisent-en-milice-dans-les-rues-dangers/ externer Link)

Artikel und Fotos von Bernard Schmid (abgeschlossen in der Nacht vom 09. zum 10. Juli 23) – wir danken“

  • Siehe zuvor: Frankreich vor den verbotenen Samstagsdemos in „Trauer und Wut“ in Debatten um rechte Polizeigewerkschaft und das Gesetz zum polizeilichen Schusswaffeneinsatz
    Demonstration am heutigen Samstag (08. Juli 23) im Pariser Umland zu den polizeibedingten Todesfällen von Nahel Merzouk und Adama Traoré wurde verboten; Ersatzdemo in Paris mittlerweile auch – Neben dem in Marseille durch einen Querschläger getöteten Mohammed B. wurde auch Carl Tarade in Französisch-Guyana getötet, und ein weiterer Mensch fiel in Ostfrankreich ins Koma – Die Gewerkschaftsvereinigung UNSA distanziert sich von ihrer am Rad drehenden Polizeigewerkschaft – Die Debatte in Frankreich um das Gesetz von 2017, das den polizeilichen Schusswaffeneinsatz erleichterte und ausdehnte, hält an…“ Artikel von Bernard Schmid vom 8.7.2023 
  • Siehe zum aktuellen Hintergrund auch unser Dossier: Frankreich: Nach dem polizeilichen Todesschuss auf den 17-jährigen Nahel in Nanterre – vor Verhängung des Ausnahmezustands? 
Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=213343
nach oben