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Renten“reform“ in Frankreich an den Grenzen der parlamentarischen Chaotisierungsstrategie und ohne Abstimmung an den Senat verwiesen – alle Welt wartet auf den Streik ab dem 7. März

Frankreich: Streik ab dem 7. März 2023 gegen die Renten"reform"Frankreich: Die erste Lesung des Entwurfs zur Rentenrefom wurde Freitag vor Mitternacht in der Nationalversammlung abgeschlossen – Die rechtsextreme Opposition bleibt mit ihrem Schau-Antrag allein – Heftige Kritik wird zwischen CGT-Chef Philippe Martinez und dem Linkspolitiker Jean-Luc Mélenchon ausgetauscht. Ansonsten wartet alle Welt auf den Streik ab dem 07. März d.J…“ Artikel von Bernard Schmid vom 20.2.2023 – wir danken!

Renten“reform“ in Frankreich an den Grenzen der parlamentarischen Chaotisierungsstrategie
und ohne Abstimmung an den Senat verwiesen – alle Welt wartet auf den Streik ab dem 7. März

Frankreich: Die erste Lesung des Entwurfs zur Rentenrefom wurde Freitag vor Mitternacht in der Nationalversammlung abgeschlossen – Die rechtsextreme Opposition bleibt mit ihrem Schau-Antrag allein – Heftige Kritik wird zwischen CGT-Chef Philippe Martinez und dem Linkspolitiker Jean-Luc Mélenchon ausgetauscht. Ansonsten wartet alle Welt auf den Streik ab dem 07. März d.J.

Geisterstunde: Am Freitag, den 17. Februar d.J. wurde um kurz vor Mitternacht die Debatte über den Gesetzentwurf zur Rentenreform in der Nationalversammlung (dem «Unterhaus» des französischen Parlaments, welches im Konfliktfall mit dem Senat als oberer Kammer – nach Einsetzung eines Vermittlungsausschusses – das letzte Wort behält) eingestellt. Respektive abgebrochen, denn die zwei Sitzungswochen dauernde Debatte hatte wesentliche Teile des Gesetzestextes nicht behandelt. Insbesondere war sie nicht bis zum Kern-Artikel 7 vorgedrungen. Dieser Paragraph beinhaltet die Anhebung des gesetzlichen Rentenmindestalters von bislang 62 auf 64 (doch wie unsere Leser/innen wissen, gibt es eine abschlagsfreie Rente, frei von Abzügen wegen fehlender Beitragsjahre, in Frankreich erst ab 67).

Die Aussprache im Parlament war vorher stehen geblieben. Einer der Gründe dafür waren die Tausende von Änderungsanträgen, die zuvor hätten behandelt werden müssen. Insgesamt waren 20.500 Änderungsanträge eingereicht worden, unter ihnen gut 18.000 allein aus dem Bündnis mehrerer Linksfraktionen, der NUPES. Dadurch wiederholte die Linksopposition die parlamentarische Guerilla- respektive Verzögerungs- und Behinderungsstrategie, die im Jahr 2004 mit einigem Publikumserfolg u.a. durch die Parlamentarier der KP gegen die damals zur Abstimmung gestellte Privatisierung des französischen Elekritizätsversorgers EDF angewandt worden war. (EDF : Electricité de France ; Letzterer wird in Kürze rückverstaatlicht werden, um die geplante Neuauflage eines Atomprogramms staatlich zu finanzieren.) Damals wurden sogar 100.000 Änderungsanträge gestellt, Abgeordnete lasen zur Begründung aus dem Telephonbuch vor – die Liste der Betroffenen, hihihi -, und der Beschluss wurde dadurch über Wochen verschleppt, wenn auch nicht verhindert. Teile des Publikums zeigten sich darüber amüsiert und goutierten die Hinhaltetaktik.

Die Geschichte spielt sich laut Aussagen eines bärtigen Intellektuellen immer zwei mal ab, einmal als Tragödie und einmal als Farce – womit der historische Vordenker vom Sinn her darauf hinweisen wollte, dass die Wiederholung derselben Geste geschichtlich i.d.R. nicht zwei mal dieselben Effekte hervorruft, unter anderem, weil die menschlichen Akteure oder Akteurinnen beim zweiten Mal schon über die Sache vom ersten Mal Bescheid wussten/wissen und sich darauf einstellen. Auch wenn der parlamentarische Zirkus von 2004 gewiss keine Tragödie darstellte, sondern eher eine Art von Widerstandshandlung, so ließen sich die Abläufe im Jahr 2023 nicht mit vergleichbaren Ergebnissen wiederholen. Zum Ersten, weil die bürgerliche Regierungsmehrheit, im Jahr 2004 noch von diesem Vorgehen der Opposition eher überfordert, dieses Mal eben nicht überrascht war, sondern sich längst argumentativ darauf eingestellt hatte – bei ihren Auftritten in Medien warnten Vertreter des Regierungslagers, aber auch anderer (taktisch unterschiedlich vorgehender) Oppositionsparteien schon vorbeugend vor einer zu erwartenden, und dann hieß es: «allzu erwarteten », «Haltung der sinnentleerten Gestikulationen und inhaltslosen Chaos-Strategie» usw.

Und zum Zweiten, weil die Parlamentsdebatte dieses Mal von vornherein zeitlich beschränkt war, dadurch, dass das Regierungslager den Reformentwurf als Haushaltsgesetz (d.h. als Nachtragshaushalt für das Ende 2022 verabschiedete) deklariert hatte. Bei Haushaltsdebatten gibt es nur jeweils eine Lesung in der Nationalversammlung und im Senat statt sonst dreien, und wird die Debatte nicht nach fünfzig Tagen abgeschlossen, darf die Exekutive den fraglichen Text auf dem Verordnungsweg verabschieden.

Die Grenzen der parlamentarischen Chaotisierungsstrategie

Die Taktik des «Chaotisierens» lief sich darum ein Stück tot, auch wenn sie wiederum einen Teil der Öffentlichkeit vielleicht amüsiert hat. Auch das Linksbündnis NUPES zeigte sich tief gespalten. Sozialdemokratie, Grüne und französische KP (drei der vier dieser Allianz angehörenden Parlamentsfraktionen) zogen ihre Anträge zur Wochenmitte überwiegend zurück, weil unter anderem die Vorstände der Gewerkschaftsbünde CGT wie CFDT erklärten, sie wollten die Abstimmung zum Artikel 7 sehen, nämlich um alle Abgeordneten zu zwingen, zur umstrittensten aller Maßnahmen in dem Text Farbe zu bekennen. Da die Regierung seit Juni 2022 nur über eine relative und nicht eine absolute Mehrheit an Sitzen verfügt (und auch das bürgerlich-konservative Segment der Opposition sich gespalten zeigt ; deswegen setzte der Parteichef der konservativen Formation Les Républicains/LR, Eric Ciotti, an diesem Woche seinen eher moderate Positionen zur Rente verteidigenden Vize Aurélien Pradié ab), schien ein knappes Scheitern der Regierung beim Artikel 7 zumindest nicht völlig unmöglich.

Im Laufe der vorigen Woche war bereits der Artikel 2 gescheitert, der ein Messinstrument für «Seniorendiskriminierung» in den Unternehmen vorsieht (zunächst ab 1.000 Beschäftigten; als Zugeständnis für zögernde bürgerliche Abgeordneten soll es laut Bekunden von Regierungschefin Elisabeth Borne später auf Unternehmen ab fünfzig Beschäftigte ausgeweitet werden, ohne verbindliche Sanktionen gegen «Alte» ablehnende Unternehmen jedoch). Dabei waren die Beweggründe allerdings zum Teil unterschiedliche. Die konservative Oppositionspartei beklagte in Teilen unnötige Belastungen für kleinere Unternehmen. Hingegen erklärte die Linksopposition in Gestalt der Parteien der NUPES, die Maßnahme bringe nichts und streue Sand in die Augen ; und der beim Renten-Thema mit sozialer Demagogie auftretende Rassemblement national (RN, rechtsextreme Opposition) tendierte in seinen Aussagen in eine ähnliche Richtung.

Die zahlenmäßig stärkste Einzelfraktion im Linksparteienbündnis (NUPES), also die linkssozialdemokratisch bis linksnationalistisch schillernde Wahlplattform LFI oder «Das unbeugsame Frankreich», war selbst in zwei Hälften gespalten. Ein Teil ihrer Abgeordneten hätten es gerne den übrigen Linksfraktionen gleich getan und die Debatte bis zum besonders strittigen Artikel 7 vorrücken lassen ; am Donnerstag standen von ihrer Einzelfraktion noch immer 13.000 Änderungsanträge im Raum. Doch der faktische Chef der ohne formale Parteistrukturen auskommenden Wahlplattform, der frühere Präsidentschaftskandidat (2012, 2017, 2022) Jean-Luc Mélenchon – er hat formal kein Amt inne und seit Juni 22 auch keinen Abgeordnetensitz mehr, doch dank informeller und dank Untransparenz umso stärkerer Machtstrukturen und -gefälle bleibt er faktisch Chef an Bord, allerdings mit wachsender innerer Kritik konfrontiert – hielt dagegen. Er wies öffentlich den Chef der Französischen KP, Fabien Roussel (einer seiner Rivalen ; Roussel war selbst Präsidentschaftskandidat 2022, mit nicht immer unbedingt sonderlich linken Ärmel-aufkrempeln-und-ordentlich-proletarisch-schuften-Positionen) zurecht : Seine Position zugunsten eines Rückzugs zahlreicher Änderungsanträge sei falsch. Ihr zu folgen, wäre ein verhängnisvoller Fehler; auch Teile der sozialen Bewegungen (im Unterschied zu anderen Teilen, auch zu den Strukturen von CGT und CFDT) waren übrigens der Überzeugung, es wäre eventuell demobilisierend, würde der Artikel 7 debattiert und beschlossen, da dann das Argument der «demokratischen Legitimation» greifen könne.

Die zeitliche Beschränkung der Parlamentsdebatte lässt wahrscheinlich auch nur die Wahl zwischen unterschiedlichen politischen Risiken…

Letztendlich setzte sich faktisch die Position der Nichtbefassung durch, wozu letztlich auch das Regierungslager verhalf, das nun ab Mittwoch/Donnerstag seinerseits selbst die Debatten – über ausführliche Reden zur Begründung von Lappalien – tunlichst verschleppte. Ihm ging es darum, zu verhindern, dass ihre Abgeordneten zum Artikel 7 Farbe bekennen müssten, da zumindest manche zu zögern schienen. Überdies hatten die Gewerkschaften unterdessen an alle Abgeordneten (mit Ausnahme des rechtsextremen RN, welchen sie absichtlich ausklammerten, richtigerweise) geschrieben, um sie just zur Positionierung aufzufordern. Was faktisch bedeutete, ihnen die spätere Nicht-Wiederwahl anzudrohen.

Rechte Demagogie und Misstrauens-Antrag

Auf diesem Hintergrund griff das Argument, die Mélenchon folgende Hälfte von LFI und ihre Abgeordneten seien «nützliche Idioten der Regierung» gewesen. Diese Behauptung konnte man seit Wochen vom rechtsextremen RN hören, welcher zwar inhaltlich nicht irrsinnig viel zum Thema Rentenreform beizusteuern hatte – in seinen weniger als 200 Anträgen wurden überdies an einigen Stellen nebenbei noch Beitragssenkungen für Unternehmen gefordert -, aber im Tonfall laut die Register sozialer Demagogie anschlug. Weniger öffentlich konnte man denselben Ausdruck im Laufe der Woche jedoch auch in Teilen der Linken hören.

Seinerseits stellte der RN seit Beginn voriger Woche einen eigenen Antrag, welcher sich ebenfalls wieder weitaus eher durch Lautstärke in den Medien statt durch inhaltliche Schärfe auszeichnete: Die 88köpfige RN-Fraktion stellte einen Antrag auf ein Misstrauensvotum der Regierung. Hätte dieser die Regierung gestürzt, dann wäre darüber sicherlich auch die Rentenreform vom Tisch gewesen. Nur wollte – und dies war natürlich richtig – keine andere Oppositionsfraktion zusammen mit den Rechtsextremen abstimmen : Ihr Antrag erhielt letztendlich genau 89 Stimmen (also jene der 88 Abgeordneten des RN plus des einen Vertreters der zwischen RN und Konservativen stehenden Kleinpartei Debout la France/DLF oder «Frankreich steh‘ auf», Ex-Präsidentschaftskandidat Nicolas Dupont-Aignan) und damit keine einzige zusätzliche Oppositionsstimme. Doch in den Medien plusterte die Partei sich daraufhin auf: Die übrigen Oppositionskräfte verhielten sich widersprüchlich, verweigerten ihre Mithilfe beim Sturz der Regierung, welche die « Reform » hätte beenden können, usw.

Nach wie vor hat der RN inhaltlich wenig zum Thema zu bieten, mit Ausnahme aufgewärmter Luft. Am frühen Sonntag Abend, den 19. Februar 23 zog der junge Parteichef des RN, Jordan Bardella, im Interview bei den Privatfernsehsendern BFM TV/RMC jedoch seinen Kopf relativ gut aus der Schlinge : Auf die Vorhaltung, nur wenige Änderungsvorschläge seien von seiner Fraktion gekommen, antwortete er (ohne journalistischen Widerspruch zu ernten, obwohl der Interviewer gewiss kein Freund des RN ist), man habe eben Qualität gegenüber Quantität bevorzugt. Und sich auf wenige Änderungswünsche, die aber das Leben « der Franzosen » bei Annahme in wichtiger Weise beeinflusst hätten, konzentriert.

Dabei stimmt nicht einmal das. Der einzige echte Vorschlag seitens dieser Partei, neben dem einer Volksabstimmung zur Reform – die hätte auch Mélenchon gerne – sowie Abgabensenkungen für (v.a. kleinere) Unternehmen, läuft auf einen früheren Rentenanspruch für jene, die zwischen 17 und 20 zu arbeiten anfingen, hinaus. Zum Thema Gesundheitsschädigungen durch Arbeit(sbedingungen) hat die Partei nichts inhaltlich beizusteuern.

Das – also das Recht auf einen früheren Abgang, fing man in der Lebenszeit sehr früh zu arbeiten an – gibt es i.Ü. in anderer Form und mit bestimmten Bedingungen aber auch bei der bürgerlich-konservativen Opposition wie auch im Regierungslager.

Schweres Herumeiern der Regierung beim Ungerechtigkeitssymbol «44»

Bei Letzterem gibt es vier besondere Altersstufen in der Reform – je nachdem, wer vor dem Erreichen der 16, oder zwischen 16 und dem Erreichen der 18, wer zwischen 18 und dem Erreichen der 20, oder wer zwischen 20 und 21 ins Arbeitsleben als abhängig Beschäftigter eintrat -, und für diese Altersgruppen besteht je die Möglichkeit einer vorgezogenen Verrentung, auf der ersten Stufe ab dem Alter von 60. Das betrifft allerdings auf der ersten Stufe nur 300 Personen… (denn die Schulpflicht bis zum Erreichen der 16 wurde bereits in den fünfziger Jahren eingeführt), auf den folgenden Stufen dann etwas mehr. Und sowohl auf der ersten als auch der zweiten Stufe muss der jeweils ältere der beiden betroffenen Jahrgänge lt. den Regierungsplänen je 44 Beitragsjahre leisten, statt 43 für alle übrigen Beschäftigten (es sei denn, sie nehmen Abzüge an der Rente hin oder gehen erst ab 67 oder später in Rente).

Dies nährte im Übrigen ein besonderes Ungerechtigkeitsgefühl. Zu Anfang Februar d.J. war bereits als Zugeständnis für zögernde bürgerlich-konservative Abgeordnete verkündet worden, diese 44 sei nun definitiv vom Tisch, auch wenn Regierungsmitglieder moserten, dies koste dann aber zwei Milliarden (also zwei Milliarden jährlich weniger Einsparungen im Rentensystem durch die Reform) ; wobei die Debatte noch dadurch faktisch chaotisiert wurde, dass später Schätzungen aus dem bürgerlichen Lager und aus Regierungsnähe kamen, die von gut einer Milliarde bis zu zehn Milliarden angeblicher jährlicher « Kosten » reichten… Kurz, wie sich vorigen Donnerstag dank Untersuchungen von Medien in den Regierungsunterlagen herausstellte, basieren diese auch jetzt noch, nach wie vor, auf 44 Beitragsjahren für je einen Teil der untersten Altersgruppen (also jene, die vor 16, respektive vor 18, respektive vor 20 zu arbeiten anfingen und dadurch früher in Rente gehen « dürfen »). Diese mehrfach angekündigte und dann doch nicht erfolgte Änderung trug und trägt zur Zerfaserung der Debatte und einem der Regierung entgegen schlagenden, gigantischen Misstrauen mit bei…

Martinez und Mélenchon tauschen vergiftete Komplimente aus

Am Sonntag mittag wurde unterdessen CGT-Generalsekretär Philippe Martinez ebenfalls bei den Privatsendern BFM und RMC sowie durch die (mit die Journalist/inn/enfragen formulierende) Boulevardzeitung Le Parisien interviewt. Er begründete ausführlich und oft gut die Gründe zur Ablehnung der «Reform»; fand aber auch relativ harsche Worte gegen die parlamentarische Taktik der Wahlplattform LFI. Ihr warf er explizit vor, einen Vertretungsanspruch für die soziale Bewegung – gerne auch anstelle der Gewerkschaften – formulieren zu wollen. Und auf die Interviewfrage, ob LFI eine Verbündete für die soziale Bewegung sei, antwortete Martinez : «Nicht, wenn sie solche Dinge treibt.» Viele Lohnabhängige verstünden nicht, warum man nicht über den Artikel 7 hätte diskutieren sollen oder wollen.

Daraufhin erwiderte deren informeller doch starker Chef Mélenchon auf Twitter, man solle solche «spalterische(n) Äußerungen vergessen», und sich stattdessen auf die Vorbereitung des 07. März d.J. zu konzentrieren, wenn es Frankreich lahmzulegen gelte (wie es auch die Gewerkschaften inzwischen klar in diesen Worten formulieren).

Es bleibt zu hoffen, dass solcherart Hegemoniekämpfe zwischen Apparaten, die im weiteren Sinne zur Arbeiterbewegung gehören, auch weiterhin keine hemmende Wirkung entfalten…

Artikel von Bernard Schmid vom 20.2.2023 – wir danken!

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=209090
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