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Frankreich im Herbst 2022: `Ran an die Rente

Frankreich: Berufsübergreifender Streiktag am 29.9.2022Die Regierungsoffensive zur Wiederaufnahme der Renten„reform“ spitzt sich zu. Gewerkschaftliche Demonstrationen am gestrigen 29.09.2022 hatten zwar einen anderen Anlass, dienten jedoch ebenfalls zum Warmlaufen dagegen (…) Zunächst sollte – so lautete der Stand noch zu Anfang dieser Woche – die jetzt geplante „Reform“ nunmehr schon vor Jahresende 22 durch das Parlament gebracht werden und ab kommenden Sommer 2023 in Kraft treten. Und doch waren noch nicht einmal die Grundzüge bekannt. So blieb bis Mitte dieser Woche noch unbekannt, ob das gesetzliche Renten-Mindestalter auf 64 oder 65 angehoben werden soll, und ob es neben einer höheren Altersgrenze auch weitere, so genannte strukturelle Maßnahmen – wie etwa neue Anrechnungsmodalitäten – geben solle. Es sollte also voraussichtlich sehr schnell gehen. (…) Nun konnte ihre gestrige Mobilisierung in den Augen der Regierung auch als Gradmesser dafür dienen, was sie sich derzeit erlauben kann. Den bisherigen Erfolg, gemessen am gestrigen Tag, darf man als durchwachsen bezeichnen…“ Artikel und Fotos von Bernard Schmid vom 30.9.2022 – wir danken!

Frankreich: `Ran an die Rente

Die Regierungsoffensive zur Wiederaufnahme der Renten„reform“ spitzt sich zu. Gewerkschaftliche Demonstrationen am gestrigen 29.09.2022 hatten zwar einen anderen Anlass, dienten jedoch ebenfalls zum Warmlaufen dagegen

Das nennt man eine gelungene Illustration zum Thema zum Thema Freud’scher Versprecher. Am Montag Vormittag dieser Woche (26.09.22) erklärte die seit Mitte Mai d.J. amtierende französische Premierministerin Elisabeth Borne im Frühstücksinterview bei den Fernsehsendern RMC und BFM TV: „Der Dialog wird nicht von uns ausgehen.“ Den Versprecher wahrnehmend, korrigierte sie lächelnd: „Die Blockade des Dialogs wird nicht von uns ausgehen.“

Borne hatte sich verbal verstolpert, doch wie so oft in solchen Fällen ließ der Fauxpas das durchblicken, was sie sorgfältig zu verbergen suchte. In den Minuten zuvor hatte sie in anderer Hinsicht zur Hälfte verkündet, was nun durchgesetzt werden soll, sei es mit List oder Zwang. Denn so hat es ihr Vorgesetzter, Staatspräsident Emmanuel Macron beschlossen, auch wenn Borne selbst bisher beim Thema Zweifel nachgesagt wurden: Die in jüngerer Zeit mehrfach angekündigte, doch seit 2020 auch von Regierungsseite als inopportun eingestufte und mehrfach aufgeschobene „Rentenreform“ soll nun definitiv kommen. Notfalls – diesbezüglich jedenfalls legte die Regierungschefin, in demselben Interview, gewissermaßen die Karten auf den Tisch – werde man auf den mittlerweile berühmten Verfassungsartikel 49 Absatz 3 zurückgreifen.

Neuer Anlauf nach der Pandemiepause 2020

Demonstration am 29.09.2022 in Paris: Union syndicale Solidaires & Transpis von streikenden Lehrkräften (Foto von Bernard Schmid)

Demonstration am 29.09.2022 in Paris: Union syndicale Solidaires & Transpis von streikenden Lehrkräften (Foto von Bernard Schmid)

Dieser Passus in der Verfassung der 1958 verabschiedeten französischen Fünften Republik erlaubt es, die Diskussion im Parlament zu einem Gesetzestext auszusetzen und stattdessen die Vertrauensfrage für die Regierung zu stellen. Wird diese nicht im Anschluss durch ein Misstrauensvotum der Parlamentsmehrheit gestürzt, gilt der Text dann automatisch und ohne weitere Diskussion als angenommen. Und basta. Der unter Charles de Gaulle ersonnene Mechanismus dient also hauptsächlich dazu, die Sachdebatte zu einem Thema abzuwürgen. Er darf (lt. Verfassung) einmal pro Jahr zu einem Gesetzesverfahren eingesetzt werden. Zuletzt nutzten ihn der rechtssozialdemokratische Premierminister Manuel Valls im Frühjahr 2016 zur Durchsetzung der rabiat regressiven Arbeitsrechtsreform sowie Bornes unmittelbarer Amtsvorgänger, Macrons von den Konservativen kommender Ex-Premier Edouard Philippe, just im letzten Anlauf zur Durchsetzung der geplanten Renten„reform“.

Die Regierung sollte, so kündigte Philippe es anlässlich einer Sondersitzung des Kabinetts am 29. Februar 2020 an, im März jenes Jahres den „49-3“ zum Einsatz bringen und die Vorlage durch das Parlament boxen.

Dieser Episode gingen mehrwöchige Streiks in den öffentlichen Verkehrsbetrieben, wo sie Anfang Dezember 2019 begonnen hatten und ab circa 20. Januar 20 abebbten, aber auch etwa unter Anwält/inn/en und Justizbediensteten oder in manchen privaten Industrieunternehmen voraus. Doch dann kam die Pandemie. Insofern „rettete der Pausengong“ (wie es manche linke Beobachter/innen formulierten) quasi die Protestierenden bzw. ihr Anliegen im Zweikampf mit dem Regierungslager; die Wahrheit gebietet es jedoch, hinzuzufügen, dass Letzteres ansonsten wohl gewonnen und sich durchgesetzt hätte, denn vor dem Beginn der pandemiebedingten Zwangspause hatten sich die Proteste und insbesondere die Streiks objektiv bereits totgelaufen. Am Abend jenes Samstag, den 29. Februar 20, an dem der (damals allgemein seit mehreren Tagen erwartete) Beschluss zum Einsatz des „49-3“ zwecks Durchdrückens der „Reform“ offiziell verkündet wurden, protestierten rund 500 Menschen vor der, natürlich großräumig polizeilich abgesperrten, Nationalversammlung in Paris. Großspurig war zuvor auf manchen Kanälen ein flammender Protest am „Tag X“ angekündigt worden. Objektiv wäre der Ausgang wohl ziemlich klar vorgezeichnet gewesen. Dann kam Corona.

Ab der zweiten Märzwoche 2020 hatte das Parlament deswegen dringendere Themen zu behandeln, und nach Inkrafttreten des „Gesetzes zum gesundheitlichen Notstand“ wechselte die Regierung insofern den Kurs, als einige Monate lang ihre wirtschaftsliberale Strategie einer eher keynesianisch wirkenden Staatsausgabenpolitik wich. Auch die Renten„reform“ erschien dem Regierungslager in jenen Tagen vorübergehend inopportun, da Konflikte schürend.

Da in Frankreich während der ersten Welle der Pandemie weite Teile des Wirtschaftslebens eingefroren bis zu zehn Millionen Beschäftigte in Kurzarbeit geschickt wurden – um Entlassungen zu vermeiden -, rief Macron damals die Devise aus: Quoi qu’il en coûte!, also: „Was es auch kosten möge!“ (vgl. https://www.radiofrance.fr/franceculture/podcasts/la-bulle-economique/quoi-qu-il-en-coute-a-qui-combien-et-quand-5841390 externer Link) Das war nun wirklich nicht besonders neoliberal, sollte allerdings auch nicht von Dauer bleiben.

Im Laufe der vergangene Monate erklärte sein Wirtschafsminister Bruno Le Maire wiederholt, diese Devise sei nun überholt. Erstmals rief der ihr Ende im August 2021 aus (vgl. https://www.europe1.fr/economie/bruno-le-maire-devant-les-patrons-le-quoi-quil-en-coute-cest-fini-4063497 externer Link). Im Februar 2022 erläuterte er, es wäre damals (2020) dem bürgerlichen Staat schlicht teurer gekommen, hätte er die Arbeitslosigkeit im Zuge der ersten Welle der Pandemie unkontrolliert anwachsen lassen. (Vgl. https://www.bfmtv.com/economie/bruno-le-maire-sans-le-quoi-qu-il-en-coute-nous-aurions-126-de-dette-au-lieu-de-115_AN-202202010155.html externer Link) Um dann im Laufe des Vorfrühlings 2022 zu erklären, trotz (am 24. Februar d.J. begonnenen Ukrainekriegs, damit verbundener Lieferengpässe und anziehender Inflation werde es auf jeden Fall „kein zweites Quoi qu’il en coûte“ geben. (Vgl. https://www.latribune.fr/economie/france/face-a-l-inflation-galopante-pas-de-2eme-quoi-qu-il-en-coute-previent-bruno-le-maire-905774.html externer Link) Auch während der Wahlkämpfe im Frühjahr dieses Jahres stand die Ansage klar im Raum, dass das Regierungslager (im Falle seiner Wiederwahl, die dann erfolgte) diese Politik nicht neu auflegen würde.

In einem Interview im Juli 22 – die Wahlkämpfe waren nunmehr vorüber, höhö – brachte der frühere Regierungssprecher und jetzige Staatssekretär im Wirtschaftsministerium, Gabriel Attal, es dann dergestalt auf den Punkt, die neue Parole anstelle der alten laute nunmehr vielmehr: Qu’est-ce que ça coûte? Also: „Was kostet das?“ (vgl. https://rmc.bfmtv.com/actualites/economie/gabriel-attal-nous-sommes-passes-du-quoi-qu-il-en-coute-au-combien-ca-coute_AN-202207100100.html externer Link)

Staats- und andere Sozialausgaben, etwa die von den – paritätisch durch Arbeitgeber und Gewerkschaftsverbände verwalteten – Sozialkassen getätigten, sollen nun gleichermaßen auf den Prüfstand. Und die im ersten Jahr der Pandemie tatsächlich um mehrere Hundert Milliarden gestiegene Staatsverschuldung soll nun als Rechtfertigung für eine Form neuer Austeritätspolitik herhalten, die auch frühere soziale Errungenschaft unter Beschluss nimmt.

Begründungswechsel im Regierungslager

Demonstration am 29.09.2022 in Paris: Die Energiekonzerne betreiben Spekulation & zerstören den Planeten: Enteignet Sie! (Foto von Bernard Schmid)

Demonstration am 29.09.2022 in Paris: Die Energiekonzerne betreiben Spekulation & zerstören den Planeten: Enteignet Sie! (Foto von Bernard Schmid)

In einem Interview, das Emmanuel Macron am 22. September d.J. im Flugzeug zwischen Paris und New York auf dem Rückweg von der UN-Vollversammlung gab (vgl. https://www.bfmtv.com/replay-emissions/90-minutes-aurelie-casse/macron-sur-bfmtv-l-interview-exclusive-22-09_VN-202209220772.html externer Link), kündigte er an, die Ausgaben für das Rentensystem müssten sinken, da man Geld benötige, um die transition énergétique – den Umbau der Energieversorgung – zu finanzieren. Dies klingt zunächst freundlich und nach Entwicklung erneuerbarer Energiequellen. Diese sind allerdings kaum gemeint, auch wenn Macron vorige Woche auch ein neues Offshore-Windkraftanlagenfeld auf dem Atlantik in der Nähe von Nantes einweihte. Überwiegend geht es allerdings um einen drastischen Ausbau der Atomenergie bis in die 2040er Jahre, und dieser benötigt gigantische Mittel. Gewerkschaftsvorständler wie Philippe Martinez von der CGT erklären bereits erzürnt, hier werde geplant, beitragsfinanzierte – und nicht etwa aus staatlichen, also Steuermitteln alimentierte – Sozialkassen finanziell auszutrocknen, um mehr Geld in den allgemeinen Staatshaushalt zu holen. (Dies wiederum wäre nur auf dem Umweg über eine Senkung der Unternehmensbeiträge zu den Sozialkassen, dadurch erweitere finanzielle Spielräume der Firmen, und eventuell dann auf die zuvor finanziell entlasteten Betriebe zu erhebende Steuern möglich.)

Insofern hat sich auch der Regierungsdiskurs spürbar verändert; denn beim letzten Anlauf zur regressiven Reform der Renten vor zwei Jahren ging es jedenfalls offiziell noch darum, das umlagenfinanzierte Rentensystem selbst „zu retten“, indem es auf Jahrzehnte hinaus besser finanziert werde. Damals ging es unter anderem darum, das Mindesteintrittsalter in die Rente – derzeit gesetzlich 62, wobei eine Umfrage des Instituts Elabe für den wirtschaftsliberalen Sender BFM TV vorige Woche ergab, die befragten Französinnen und Franzosen hielten durchschnittlich 61 für ein angemessenes Alter – anzuheben. 2020 sollte aber auch die Berechnung der Rente verändert werden: Bis zur ersten Welle von Rentenreformen, die 1995 infolge von Massenstreiks abgebrochen werden musste, aber 2003 und 2010 durch die Regierungen stückweise wieder aufgenommen wurde, wurde die Altersrente nach dem Lohn oder Gehalt der besten zehn Jahre eines Berufslebens berechnet. Danach wurde die Berechnungsgrundlage auf 25 Jahre ausgedehnt, was natürlich den als Bemessungsgrundlage herangenommenen mittleren Lohn absenkte. Nun sollte der Berechnungsmodus gar auf das ganze Arbeitsleben ausgeweitet werden, was eine weitere drastische Senkung zur Folge hätte.

Was ist (derzeit) geplant?

Zunächst sollte – so lautete der Stand noch zu Anfang dieser Woche – die jetzt geplante „Reform“ nunmehr schon vor Jahresende 22 durch das Parlament gebracht werden und ab kommenden Sommer 2023 in Kraft treten. Und doch waren noch nicht einmal die Grundzüge bekannt. So blieb bis Mitte dieser Woche noch unbekannt, ob das gesetzliche Renten-Mindestalter auf 64 oder 65 angehoben werden soll, und ob es neben einer höheren Altersgrenze auch weitere, so genannte strukturelle Maßnahmen – wie etwa neue Anrechnungsmodalitäten – geben solle.

Linksradikaler Block bei der Demonstration am 29.09.2022 in Paris (Foto von Bernard Schmid)

Linksradikaler Block bei der Demonstration am 29.09.2022 in Paris (Foto von Bernard Schmid)

Es sollte also voraussichtlich sehr schnell gehen. Emmanuel Macron regte dazu an, es brauche ja gar kein eigenes Gesetz zur neuen Rentenreform, es genüge vielmehr, eine Passage in das jährlich zu verabschiedende Gesetz zum Gesamthaushalt der Sozialkassen – über den der Staat seit Reformen von 1967 und 1995 trotz paritätischer Verwaltung mitbestimmt – einzufügen. Diese dürfte in einem solchen Fall verklausuliert ausfallen und eventuell einem neu zu schaffenden Gremium zur Rentenpolitik weitreichende Vollmachten erteilen. Mitglieder des Regierungslagers wie der Rechtsliberale François Bayrou, aber dem Vernehmen nach auch Premierministerin Borne selbst waren über eine solche Vorgehensweise jedoch skeptisch. Sie befürchteten, es könne bei einem solchen „Hauruckverfahren“ (passage en force) zu einer „explosiven sozialen Situation“ kommen, und befürworteten eher einen eigenen, expliziteren und mit den Gewerkschaften zumindest formal diskutierten Entwurf zur Rentenpolitik.

Ansonsten befürchteten sie, die „Reform“ im Schnelldurchlauf (also durch einen Passus in einem allgemeinen Gesetz zum Sozialhaushalt) durchzuwinken könnte war vielleicht funktionieren, doch würde zu derart viel sozialem Zorn führen, dass die Regierung dann auf die kommenden Jahre hinaus kein anderes Vorhaben mehr anpacken kann, weil es sofort rumpeln würde – vielleicht wie unter dem damaligen konservativen Premierminister Alain Juppé, der in den anderthalb Jahren zwischen seinem durch massive Streiks erzwungenen Rückzieher bei der damals unter ihm geplanten Renten„reform“ im November/Dezember 1995 und der Abwahl seines Regierungslagers am 1. Juni 1997 nichts, aber auch gar nichts anfassen konnte, ohne dass es sofort irgendwo knallte und zu massiven Protesten kam.

Mittlerweile beginnt sich der Nebel etwas zu lichten, und zumindest die Strategie des Regierungslagers zeichnet sich deutlicher ab.

Seit Dienstag dieser Woche (27.09.22) fingen zunächst vom Regierungslager früh eingeweihte bürgerliche Medien, am folgenden Tag dann diverse Presseorgane an, über einem „möglichen dritten Weg“ zu spekulieren. (Vgl. https://www.bfmtv.com/politique/gouvernement/reforme-des-retraites-la-troisieme-voie-envisagee-par-le-gouvernement_AN-202209270635.html externer Link) Dieser bestünde laut den allerersten Berichten zum Thema darin, einen „Mittelweg“ zu gehen und zunächst – in den kommenden Wochen – das (allgemeine) Gesetz zum Sozialhaushalt ohne Sonderpassus zur Renten„reform“politik zu verabschieden, dann aber nach einer kurzen Phase der „Konzertierung“ mit Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden einen Monat später (doch so viel) einen „Nachtragshaushalt“ zu verabschieden. Um die „Reform“ dann in diesem kleinen, feinen Zusatzgesetz zu verpacken…

Mittlerweile hat sich das Regierungslager infolge einer Sondersitzung rund um Präsident Macron am Mittwoch Abend (28.09.22) beim Thema, bzw. bei der Methode, näher festgelegt. Jetzt ist eine „Konzertierungsphase“ bis zur Weihnachtspause am Jahresende 2022 geplant – Kommentator/inn/en in denselben Medien, die zuvor die Strategie verkünden durften, merken dazu an (wie etwa der Politik-TV-Journalist Benjamin Duhamel bei BFM TV), die Wortwahl sei wichtig: Es sei von concertation (Konzertierung, Beratung) die Rede, aber keinesfalls von négociation (Verhandlung). Sprich, das Wesentliche steht dabei nicht zur Disposition, es darf nur über das „Wie“ und nicht das „Ob“ diskutiert werden. Abreden sind demnach bei bestimmten Beschäftigtengruppen möglich, es ist etwa denkbar, dass bei Lohnabhängigen mit schwerer körperlicher Tätigkeit oder frühem Beginn der Erwerbsbiographie (aufgrund kurzer Schul- und keiner Studienzeiten) Anrechnungsmodalitäten gefunden werden, aufgrund derer ihnen eine bestimmte Anzahl von Beitragsjahren erlassen wird. Ähnliches hat es ja auch bei früheren Renten„reformen“ gegeben, etwa jener, die der damalige Rechtspräsident Nicolas Sarkozy im November 2010 durchsetzen konnte.

Nach Ablauf der jetzt geplanten „Konzertierungs“periode zu Ende 2022 soll dann, bereits im Januar 23, ein Gesetzestext dazu auf den Weg gebracht werden (unter welchen Umständen, ob als eigener Text oder Passus in einem Nachtrags-Haushaltsgesetz, ist derzeit ungeklärt). Dieses soll dann auf jeden Fall bis „Sommer 2023“ bereits in Kraft treten. Laut Erläuterungen des Regierungssprechers (und früheren Gesundheitsministers) Olivier Véran bei einer Pressekonferenz am Donnerstag, den 29.09.2022 soll „bis 2031“ das gesetzliche Mindestalter für den Renteneintritt dann, infolge sukzessiver Anhebung, bei „65“ ankommen (statt derzeit 62). (Vgl. https://www.bfmtv.com/politique/le-projet-de-loi-sera-adopte-a-l-ete-2023-olivier-veran-precise-le-calendrier-de-la-reforme-des-retraites_AV-202209290715.html externer Link)

Allem Anschein nach dient die Ankündigung, es werde eine „Konzertierungs“phase geben, vorwiegend der Beruhigung und Einbindung der Abgeordneten der konservativen Regierungspartei LR (Les Républicains, ungefähr mit der CDU/CSU in Deutschland vergleichbar). Diese hatten in den vorausgegangenen Tagen bemängelt, die Methode des Hau-Ruck-Verfahrens passe ihnen nicht, da ihre Parlamentsmitglieder dabei gar nicht zu Wort kämen und die Volksvertretung überrumpelt würde. Da es nunmehr zumindest den Anschein eines rund dreimonatigen Diskussions(hähä)prozesses geben wird, dürfte diesem Argument nunmehr der Wind aus den Segeln genommen werden. Die LR-Abgeordneten werden sich also nicht mit Kritik dazu profilieren können. Inhaltich dürften sie kaum gegen einen „Reform“entwurf stimmen, da ihre eigene Partei in den Wahlkämpfen des Jahres 2022 explizit eine in ganz ähnliche Richtung gehende Renten„reform“ forderte. Das Macron-Lager, das seit Juni 22 nur noch über eine relative und nicht länger eine absolute Sitzmehrheit verfügt, bräuchte die Stimmen der konservativen Oppositionspartei.

Gewerkschaftliches Warmlaufen (in der Herbstkälte)

Am gestrigen Donnerstag, den 29. September 22 demonstrierten und protestierten die französischen Gewerkschaften ohnehin – oder jedenfalls ein Teil von ihnen, denn die beiden Dachverbände CFDT (rechtssozialdemokratisch geführt, derzeit stärkster Dachverband) und FO (politisch schillernd, seit langem drittstärkster Dachverband) waren nicht dabei. Ihr „Aktionstag“ war schon seit längerem – zunächst durch die CGT, den zweitstärksten Dachverband – angesetzt und dann im Zusammenspiel mit der Union syndicale Solidaires (Zusammenschluss eher linker Basisgewerkschaften) und der FSU (Zusammenschluss von Bildungsgewerkschaften) organisiert worden.

Es ging ihnen dabei anfänglich vor allem um Forderungen nach höheren Löhnen im Kontext der hohen Inflation; dies war ihr zentrales Thema, wobei die CFDT und FO ihre Verweigerung einer Beteiligung damit begründeten, dass über die Löhne „in den einzelnen Unternehmen und nicht auf der Straße entschieden“ werde. Was eine Form der (durchaus beabsichtigten) Entpolitisierung des Themas Verteilungskämpfe beinhaltet.

Rückblick, Ausblick, Durchblick

Nun konnte ihre gestrige Mobilisierung in den Augen der Regierung auch als Gradmesser dafür dienen, was sie sich derzeit erlauben kann. Den bisherigen Erfolg, gemessen am gestrigen Tag, darf man als durchwachsen bezeichnen. In der Hauptstadt Paris demonstrierten laut Angaben der CGT „40.000“ und laut Zahlen des Innenministeriums insgesamt „13.500“ Menschen. Wie oftmals, dürfte jedenfalls mathematisch auch hier die materielle Wahrheit ungefähr in der Mitte liegen (Veranstalterzahlen wie Polizeiangaben sind meistens „politische Zahlen“); der Verfasser, der bei einem Verweilen auf der Höhe des Eingangs zum Pariser Park Jardin du Luxembourg einen vierzigminütigen Zug zählte, kam auf rund 25.000 Teilnehmende. – Und frankreichweit waren es laut CGT „über 250.000“, lt. Innenministerium „118.500“ Menschen, die in diesem Zusammenhang unterwegs waren. (Vgl. https://www.mediapart.fr/journal/france/290922/mobilisation-pour-les-salaires-pas-de-deferlante-mais-un-premier-avertissement externer Link) Lassen wir es also real irgendwo zwischen 150.000 und 200.000 gewesen sein. Dies waren demzufolge mehr als beim vorjährigen gewerkschaftlichen Aktionstag zum Herbstbeginn am 05. Oktober 21 (damals lt. Innenministerium frankreichweit 85.400 und in Paris 6.400; man durfte damals ruhig von einem realen Flop ausgehen); aber auch erheblich mehr als bei vorigen Protesttagen im Januar und März 2022. (Vgl. https://www.lefigaro.fr/conjoncture/des-manifestations-dans-toute-la-france-pour-les-salaires-et-les-retraites-20220929 externer Link) Doch von einer durchschlagenden, alles überrollenden Mobilisierungsdynamik kann, im gestrigen Stadium, sicherlich nicht gesprochen werden…

Einen anderen, eigenen Aktionstag unter dem Motto „Gegen das teure Leben und klimapolitische Untätigkeit“ – den Begriff vom „teuren Leben“ zur Beschreibung schwer zu tragender Kosten für den Lebensunterhalt übernahmen die Organisator/inn/en aus dem französischsprachigen Afrika, wo es im Zuge der Krise 2008/09 breite Protestbündnisse unter dem Namen „Koalition gegen das teure Leben“ (Coalition contre la vie chère) gab – hat die linkspopulistische, zwischen linker Sozialdemokratie und Linkspatriotismus/Linksnationalismus oszillierende Wahlplattform La France insoumise (LFI) auf den 16. Oktober 22 angesetzt. An jenem Sonntag wollen die Gewerkschaftsvereinigungen jedoch ausdrücklich nicht mitziehen (jedenfalls nicht als Veranstalter/innen), da ihre Vorstände die Auffassung vertreten, es obliege nicht einer politischen Partei, den sozialen Protest zu organisieren. Diese Position vetritt etwa auch die CGT. (Vgl. https://www.humanite.fr/politique/salaires-remunerations/pourquoi-la-cgt-passe-son-tour-pour-la-marche-du-16-octobre-764784 externer Link)

Wie bereits in vorausgegangenen Konflikten zwischen beiden, anlässlich mehrerer Demonstrationen im Jahr 2017, drohen sich Linkspartei und Gewerkschafsapparate dabei Konkurrenz zu machen und in die Quere zu kommen. LFI taumelte jedoch seit dem Wochenende des 17./18. September 22 in eine schwere Krise, nachdem Vorwürfe häuslicher Gewalt gegen ihren jungen Abgeordneten Adrien Quattenens laut wurden. Er nahm als „Koordinator“ der Wahlbewegung LFI seinen Hut, doch ihr Chef Jean-Luc Mélenchon veröffentlichten eine Nachricht über Twitter, die als Unterstützung für den bis dato als möglichen Nachfolger gehandelten Quattenens ausgelegt wurde. LFI steht seitdem in der öffentlichen Meinung eher erkennbar in der Defensive und wird von inneren Konflikten geschüttelt.

Artikel und Fotos von Bernard Schmid vom 30.9.2022 – wir danken!

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=204866
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