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Frankreich: Durchsetzung der Renten“reform“ ohne Abstimmung im Parlament – Regierungsbeschluss könnte nochmals Öl ins Feuer des Sozialprotests kippen

Union syndicale Solidaire: Durchsetzung der Renten“reform“ ohne Abstimmung im Parlament wird nicht akzeptiert!Entscheidung fiel: Durchsetzung der Renten“reform“ ohne Abstimmung im Parlament – Regierungsbeschluss könnte nochmals Öl ins Feuer des Sozialprotests kippen – Gewerkschaftsverbände einig bei Fortsetzung der Protestbewegung – militante „Ausschreitungen“ in mehreren französischen Städten in den Stunden nach Verkündung des Regierungsentscheids – strafbewehrte Dienstverpflichtungen für Müllabfuhrbeschäftigte in Paris – nächster zentraler gewerkschaftlicher „Aktionstag“ am Donnerstag, den 23. März 2023…“ Artikel von Bernard Schmid vom 17.3.2023 – wir danken!

Entscheidung fiel: Durchsetzung der Renten“reform“ ohne Abstimmung im Parlament

Regierungsbeschluss könnte nochmals Öl ins Feuer des Sozialprotests kippen – Gewerkschaftsverbände einig bei Fortsetzung der Protestbewegung – militante „Ausschreitungen“ in mehreren französischen Städten in den Stunden nach Verkündung des Regierungsentscheids – Strafbewehrte Dienstverpflichtungen für Müllabfuhrbeschäftigte in Paris – Nächster zentraler gewerkschaftlichen „Aktionstag“ am Donnerstag, den 23. März 23

Alle Gewerkschaftsverbände in Frankreich, die rechtssozialdemokratisch geführte CFDT und den christlichen Gewerkschaftsdachverband – die CFDT – eingeschlossen, unterstützen eine Fortführung der Sozialproteste. Bislang war gemutmaßt worden, diese beiden Verbände dürften sich aus den Sozialprotesten zurückziehen, wenn die umstrittene und umkämpfte Renten“reform“ einmal verabschiedet sei. Dies bezog sich allerdings auf das Szenario, das damit verbunden gewesen wäre, dass die „Reform“ vom Parlament angenommen worden wäre.

Dazu ist es nicht gekommen. Von der Feststellung ausgehend, dass keine hinreiche Unterstützung im der Nationalversammlung, dem (entscheidenden) Unterhaus des französischen Parlaments vorhanden sei – in der Gesellschaft ohnehin nicht, regelmäßig sprechen sich in Umfragen rund 70 % der Bevölkerung und über 90 % der abhängig Beschäftigten dagegen aus -, gab Staatspräsident Emmanuel Macron bei einer Krisensitzung am gestrigen Donnerstag gegen 14 Uhr seinen Beschluss bekannt: Die Exekutive werde auf Artikel 49 Absatz 3 der französischen Verfassung zurückgreifen. Dieser Passus erlaubt es, einen Gesetzestext ohne Abstimmung durch das Parlament zu drücken, indem die Regierung die Vertrauensfrage stellt; stürzt sie nicht über ein gemeinsames Misstrauensvotum aller Oppositionsfraktionen, von Links bis Rechts, dann gilt die Vorlage automatisch als angenommen.

Staatspräsident Macron begründete dieses Vorgehen damit, das sonst drohende Scheitern der Reform beinhalte „zu hohe ökonomische und finanzielle Risiken“, was die Stellung und Glaubwürdigkeit Frankreichs auf den Finanzmärkten betreffe.  (Am Montag, den 20. März d.J. wird sich nun entscheiden, ob daraufhin ein Misstrauensvotum die Regierung stürzt oder nicht. Derzeit gilt dies als relativ unwahrscheinlich, da dann rund dreißig von insgesamt 61 bürgerlich-konservativen Oppositionsabgeordneten zusammen dem Linksbündnis NUPES sowie der rechtsextremen Oppositionspartei RN abstimmen müsste, wenn auch nicht gänzlich unmöglich. Die tiefe Spaltung der konservativen Oppositionspartei LR hatte es möglich gemacht, dass Macron schließlich davon ausging, am Parlament zu scheitern.)

Am Donnerstag gegen 15.15 Uhr stellte Premierministerin Elisabeth Borne also die Vertrauensfrage für ihre Regierung. Dadurch löste dieselbe jedoch eine verstärkte innenpolitische Krise aus und goss Öl ins Feuer der Proteste, deren Fortgang zu erwarten ist, den Gewerkschaften jedoch möglicherweise aus dem Ruder läuft. Davor, also vor militanteren und durch etablierte Verbände zumindest zum Teil unkontrollierten Aktionen, hatte zuvor bereits der französische Inlandsgeheimdienst in einer öffentlich gewordenen Notiz gewarnt: Eine Durchsetzung mittels Artikel 49-3 werde „das Gefühl eines antidemokratischen Vorgehens verstärken“. Auch der Chef eines der „moderateren“ Gewerkschaftszusammenschlüsse, Laurent Escure von der UNSA („Nationale Union der unabhängigen Gewerkschaften“), warnte zu Wochenbeginn im TV vor einer härteren Gangart. Zwar beklage man gegebenenfalls gewalttätige Auseinandersetzungen oder Ausschreitungen; die Regierung müsse jedoch, falls sie auf die Mechanismen sozialer Demokratie keinerlei Rücksicht nehme und in keiner Weise auf die Gewerkschaften (noch die Abgeordneten) hören, damit rechnen und habe diese dann ihrem Handeln zuzuschreiben. Man könnte dies auch als Mit-dem-Daumen-nach-hinten-verweisende-Verhandlungsstrategie bezeichnen.

Jedenfalls erklärte die am Donnerstag Abend wie bereits am Vorabend erneut, dieses Mal am Zentralsitz der CGT versammelte intersyndicale – der Zusammenschluss von acht Gewerkschaftsdachverbänden und -zusammenschlüssen, dem weitere fünf Jugend- und Studierendenverbände folgen – einstimmig, man werde die Proteste fortsetzen. Keiner der beteiligten Verbände zog sich heraus.

Zur selben Zeit flammten in Paris, Rennes, Nantes, Marseille, Lille und anderen Städten zum Teil auch handfestere Spontanproteste auf.

In der Hauptstadt war zunächst durch die gewerkschaftlichen Dachverbände für 12.30 Uhr zu einer Kundgebung auf dem kleinen Platz unmittelbar hinter der Nationalversammlung aufgerufen worden. Diese war jedoch nicht offiziell als Versammlung angemeldet, sondern lediglich angekündigt. Kurz vor 13 Uhr erfolgte ein behördliches Platzverbot. Nach rund halbstündigem verbalem Gerangel zogen mehrere Hundert Protestierende mit Gewerkschaftsfahnen (CGT, CFDT und Solidaires mischten sich dabei) in rund zwanzigminütige Entfernung zum Invalidenplatz, wo dann noch eine Kundgebung genehmigt worden war.

Am Spätnachmittag versammelten sich mehrere Hundert, nach einiger Zeit ein paar Tausend Menschen – aufgerufen zunächst durch die Union syndicale Solidaires, den vielleicht am weitest links stehenden Gewerkschaftszusammenschluss- auf der dem Parlamentsgebäude gegenüber liegenden Seine-Seite, auf der place de la Concorde. (Den riesigen Platz, welcher auch 100.000 Menschen fassen könnte, füllte dies allerdings nicht.) Am Vorabend vereinigten sich dort dann die protestierenden Menschenmengen vom Invalidenplatz und von der place de la Concorde auf der Letztgenannten.

Im Anschluss ab circa zwanzig Uhr zogen kleinere Gruppen durch das nahe gelegene Nobelviertel, wobei einige Mengen an Müll in Flammen aufgingen – die Menge an auf den Straßen lagernden Abfällen, infolge des seit nunmehr elf Tagen andauernden Streiks der Müllabfuhr, überschritt am heutigen Freitag die 10.000 Tonnen-Marke, obwohl eines der blockierten Müllverbrennungszentren in Ivry-sur-Seine südlich von Paris gestern Mittag polizeilich geräumt worden ist und die Müllfahrzeuge von dort daraufhin ausrücken konnten. Auch eine Baustelle sowie Ladestationen für Elektroautos fingen Feuer.

Am Abend des gestrigen Donnerstag kam es daraufhin allein in Paris zu 217 Festnahmen: frankreichweit waren es 310.:

Am heutigen Freitag fanden zahlreiche Spontanproteste, mehr oder minder vorab organisierter Natur, statt. Bis zum Redaktionsschluss erwies es sich als unmöglich, einen vollständigen Überblick darüber zu gewinnen. In Paris demonstrierten vor acht Uhr früh zunächst rund 200 Angehörige der CGT – ihre Zahl wuchs dann noch leicht – auf dem boulevard périphérique, also der Ringautobahn, die (entlang des vor 1870 existierenden Festungsrings) einmal rund um Paris herumführten, und blockierten auf der Höhe der Pariser Nordausfahrt zwischen porte de Clignancourt und porte de la Chapelle den Verkehr. Über die porte de la Chapelle zogen sie später stadteinwärts.

Im südwestfranzösischen Bordeaux besetzten am Freitag um die Mittagszeit mehrere Hundert Menschen (darunter Mitglieder von CGT, Solidaires, FSU) Geleise im Bahnhof und legten den Verkehr nahe. In Aix-en-Provence besetzten Aktive, unter ihnen die CGT im Bezirk von Marseille, die Müllverbrennungsanlage des Großraums Marseille. In Saint-Nazaire wurde der Atlantikhafen blockiert. Eine Spontandemonstration in Rennes versammelte 5.000 Menschen laut Veranstalter/innen-, und 2.600 Menschen lt. behördlichen Angaben. Auch im nordfranzösischen Lille wurde demonstriert.

Die größte Raffinerie in Frankreich, Feyzin in der Nähe von Lyon, nahm am Freitag früh den ein paar Tage zuvor dort eingestellten Streik (aus der Vorwoche) wieder auf.  Eine Streikversammlung am « Lyoner Bahnhof » in Paris wurde durch die CGT, SUD Rail und die UNSA unterstützte und beschloss, bis mindestens Anfang kommender Woche fortzustreiken.

Unterdessen beschloss Innenminister Gérald Darmanin – wie er am Vortag angekündigt hatte -, in Kürze streikende Müllabfuhrbeschäftigte mit einer réquisition (strafbewehrten Dienstverpflichtungen für Streikende oder Streikwillige ; bei Zuwiderhandlung drohen bis zu sechs Monate Haft) zu belegen. Die Pariser sozialdemokratische regierende Bürgermeisterin Anne Hidalgo lehnte es ab, eine solche Dienstverpflichtung städtischen Personals selbst vorzunehmen – jedenfalls verbal unterstützt sie den laufenden Streik -, übermittelte dem Innenministerium jedoch auf dessen Aufforderung hin eine Liste mit 4.000 Namen und Adressen v. Beschäftigten. Ihnen muss seine Aufforderung, zum Dienst zu erscheinen, persönlich zugestellt werden. Gewerkschaften kündigten jedoch an, sich bei Verwaltungsgerichten um die Erstreitung einer dagegen gerichteten Einstweilige Verfügung zu bemühen.

Unter Lehrkräften umstritten ist derzeit, ob eventuell ab kommende Woche auch die Leistungskurs-Klausuren für die derzeitigen Abiturklassen bestreikt werden sollen (wie die Gewerkschaft SUD Education in den Raum stellte). Da Klausuren inzwischen in PDF-Dateien umgewandelt werden, wäre es für die Schulbehörden jedoch mittlerweile relativ einfach, einem Korrektor/einer Korrektorin die Aufgabe zu entziehen und die zu korrigierende Klausur einer anderen Lehrkraft zu übergeben.

Repressalien gegen Gewerkschaftsaktive

In Marseille wurden am Donnerstag – 16.03.23 – ferner, wie kurz vor Beginn der Parlamentssitzung bekannt wurde, der Generalsekretär der CGT im Energiesektor für die südostfranzösische Region PACA (Provence, Alpen, Côte d’Azur) sowie fünf weitere Mitglieder desselben Branchenverbands der CGT polizeilich vorgeladen. Der Generalsekretär dieser Branchengewerkschaft, Renaud Henry, wurde daraufhin in Polizeigewahrsam genommen. (Vgl. https://www.francebleu.fr/infos/faits-divers-justice/la-cgt-mobilisee-devant-un-commissariat-de-marseille-ou-est-convoque-le-secretaire-general-energie-paca-7678494 externer Link) Die gegen ihn und die weiteren Gewerkschaftskollegen erhobenen Vorwürfe stehen im Zusammenhang mit einer Aktion im Juni 2022. An Zufall , was das Datum der Vorladung betrifft, glaubt jedoch niemand.

Die CGT in Südostfrankreich im Energiesektor ist ziemlich aktiv, was zeitweilige Abschaltungen des Stroms für bestimmte Institutionen, aber auch die günstigere Versorgung von Haushalten etwa zum Nachttarif – als Arbeitskampfformen (wengleich illegalisierte) – betrifft. Im südostfranzösischen Nizza wurden im Zusammenhang der Proteste gegen die Renten’reform’ gar die Einwohner/innen von acht HLM (Wohnblöcken im sozialen Wohnungsbau) einen Monat lang kostenlos mit Gas versorgt, da die Zähler unbrauchbar gemacht worden waren.

Ebenfalls nicht an Zufall, was die Datumswahl einer polizeilichen Vernehmung betrifft, glaubt man im zentral/ostfranzösischen Reims. Dort wurde am 15. März (diesem Mittwoch, dem bislang siebten „Aktionstag“ in Folge seit Januar d.J.) durch Flugblätter der CGT bekannt, am 20. Februar d.J. sei ein Vorstandsmitglied im Ortsverband der CGT, Thomas Rose, vorgeladen und einvernommen worden. Dabei ging es offiziell um eine Aktion mit Krankenhausbeschäftigten im Dezember 2021 vor einem Amtsgebäude. (Vgl. https://france3-regions.francetvinfo.fr/grand-est/marne/reims/reims-un-militant-cgt-convoque-par-la-police-le-syndicat-denonce-des-intimidations-2733138.html externer Link) Auch hier besteht der Verdacht eines Einschüchterungsversuchs in engem zeitlichen Zusammenhang mit den derzeitigen Mobilisierungen.

In den ostfranzösischen Vogesen war es hingegen ein Mitglied der CFDT in der Chemiebranche, das am fünften „Aktionstag“ vom 16. Februar d.J. festgenommen wurde. Den Anlass bot eine Inschrift auf einem Schild, das als „beleidigend für Staatspräsident Emmanuel Macron“ gewertet wurde. (Vgl. https://www.vosgesmatin.fr/faits-divers-justice/2023/03/03/manifestation-contre-la-reforme-des-retraites-la-cfdt-remontee-apres-l-interpellation-d-un-adherent-a-epinal externer Link) Die Aufschrift war zwar wohl geschmacklos und eventuell homophob angetaucht (Macron wurde darin dazu aufgefordert, aufzuhören, die Leute ins Hinterteil zu.., naja), doch die persönliche Beleidigung ist darin wohl kaum zu erkennen, bezieht der Ausspruch sich doch auf ein unterstelltes politisches Verhalten und auf personenbezogene Aspekte.

Artikel von Bernard Schmid vom 17.3.2023 – wir danken!

  • Höre auch: Rentenreform in Frankreich: Macron verabschiedet Rentenreform autoritär und undemokratisch
    Emmanuel Macron hat es wirklich getan. In einem höchst undemokratischen Akt hat er, bzw. seine Premierministerin Elisabeth Borne, am Donnerstag auf den Paragraphen 49.3 zurückgegriffen um die Rentenreform gegen die es seit Monaten heftigen Widerstand insbesondere von den Gewerkschaften gibt ohne Abstimmung in der Nationalversammlung durchzusetzen. In der Nationalversammlung hätte das Gesetz ganz offensichtlich keine Mehrheit gehabt. Wenn die Regierung nun die Misstrauensanträge wie mehrheitlich erwartet wird, überstehen wird, ist das Gesetz verabschiedet. Am Abend gab es in vielen Städten Proteste. Das Renteneintrittsalter (vorher ist keine Verrentung möglich) wird nun ab 2030 von 62 auf 64 Jahre angehoben werden. Um eine volle Rente zu beziehen, müssen die Beschäftigten in Zukunft über 43 Jahre eingezahlt haben. Über die aktuellen Entwicklungen haben wir mit unserem Korrespondenten in Paris, Bernard Schmid gesprochen.“ Interview vom 17.3.2023 im Radio Dreyeckland externer Link
  • Siehe zuletzt: Frankreich: Regierung gewinnt eine Zwischenetappe im Senat, während die Gewerkschaften weiter mobilisieren – nach dem 11. nun am 15. März. Artikel (mit Foto) von Bernard Schmid vom 13.3.2023
  • Siehe weitere Informationen im Dossier: Frankreichs Präsident Macron will »Rentenreform« jetzt aber doch durchboxen – Gewerkschaften geschlossen im Widerstand und darin am 17.3.: Rentenreform ohne Abstimmung: „Eine Schande für die Demokratie“ – Intersyndikale mobilisiert für den 23. März – viele wollen ihren Zorn nicht so lange auskühlen…
Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=209981
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