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Frankreich: Aufruhr auf den französischen Antillen (Karibikinseln) – Soziale und Anti-Impf-Motive: Eine ausgesprochen heikle Mischung

Verlautbarung von Solidaires vom 1.12.2021: Guadeloupe Martinique, ensemble pour l’égalité et la justice sociale! / Guadeloupe Martinique, gemeinsam für Gleichheit und soziale Gerechtigkeit!Die beiden Inseln bzw. Inselgruppen Guadeloupe und La Martinique zählen je rund 400.000 Einwohnerinnen und Einwohner. Da sind die Zahlen durchaus beeindruckend: 2.200 Polizei- und Gendarmerie-Beamte sollten zusätzlich entsandt werden, davon 200 sofort, kündigte Frankreichs Innenminister Gérald Darmanin am vorletzten Samstag, den 20. November an. Hinzu kamen zusätzlich fünfzig Mitglieder der beiden Eliteeinheiten RAID und GIGN, die respektive der Polizei und der Gendarmerie angegliedert – also dem Innen- und dem Verteidigungsministerium unterstellt – sind und in ihren Funktionen ungefähr der GSG9 der deutschen Bundespolizei ähneln. Ihre Aufgabe in den französischen so genannten Überseegebieten lässt sich i.d.R. auf den Nenner „Aufstandsbekämpfung“ bringen. Im Laufe dieser Woche wurde die Zahl nochmals um 70 weitere Gendarmeriebeamte und zehn GIGN-Angehörige erhöht. 118 Festnahmen wurden bis Anfang dieser Woche auf den beiden zu Frankreich zählenden Karibikinseln vorgenommen. Inzwischen sind es um die 150. Darüber hinaus wurde eine Ausgangssperre ab 18 Uhr (Beginn der Dunkelheit in tropischen Breitengraden) bis fünf Uhr früh verhängt, und seitdem bis mindestens kommenden Samstag verlängert…“ Artikel von Bernard Schmid vom 3.12.2021 mit Gründen und Hintergründen – wir danken!

Frankreich: Aufruhr auf den französischen Antillen (Karibikinseln)
– Soziale und Anti-Impf-Motive: Eine ausgesprochen heikle Mischung

Die beiden Inseln bzw. Inselgruppen Guadeloupe und La Martinique [1] zählen je rund 400.000 Einwohnerinnen und Einwohner. Da sind die Zahlen durchaus beeindruckend: 2.200 Polizei- und Gendarmerie-Beamte sollten zusätzlich entsandt werden, davon 200 sofort, kündigte Frankreichs Innenminister Gérald Darmanin am vorletzten Samstag, den 20. November an. Hinzu kamen zusätzlich fünfzig Mitglieder der beiden Eliteeinheiten RAID und GIGN, die respektive der Polizei und der Gendarmerie angegliedert – also dem Innen- und dem Verteidigungsministerium unterstellt – sind und in ihren Funktionen ungefähr der GSG9 der deutschen Bundespolizei ähneln. (Vgl. https://www.bfmtv.com/police-justice/crise-en-guadeloupe-une-cinquantaine-d-agents-du-gign-et-du-raid-envoyes-en-renfort_AV-202111200285.html externer Link und https://www.lindependant.fr/2021/11/20/crise-en-guadeloupe-2200-renforts-dont-50-membres-du-gign-et-du-raid-envoyes-en-renfort-9940339.php externer Link) Ihre Aufgabe in den französischen so genannten Überseegebieten lässt sich i.d.R. auf den Nenner „Aufstandsbekämpfung“ bringen. Im Laufe dieser Woche wurde die Zahl nochmals um 70 weitere Gendarmeriebeamte und zehn GIGN-Angehörige erhöht. (Vgl. https://www.leparisien.fr/faits-divers/crise-en-guadeloupe-70-gendarmes-et-10-membres-du-gign-supplementaires-envoyes-sur-place-30-11-2021-KV6RHYRPKFGP7KGXWKR57VK2UA.php externer Link)

118 Festnahmen wurden bis Anfang dieser Woche auf den beiden zu Frankreich zählenden Karibikinseln vorgenommen. (Vgl. https://www.leparisien.fr/faits-divers/crise-aux-antilles-118-interpellations-au-total-en-guadeloupe-selon-le-ministre-des-outre-mer-29-11-2021-LDOS7BONDFGYJH24UW2XNJSZ3A.php externer Link) Inzwischen sind es um die 150. Darüber hinaus wurde eine Ausgangssperre ab 18 Uhr (Beginn der Dunkelheit in tropischen Breitengraden) bis fünf Uhr früh verhängt, und seitdem bis mindestens kommenden Samstag verlängert.

Auch auf der anderen Seite der Barrikaden, die vielerorts die Verkehrsachsen der französischen Antillen blockieren – deren Räumung zählt zu den Hauptzielen des Einsatzes der Sicherheitskräfte, da die örtliche Geographie es erlaubt, den Verkehr durch Dichtmachen an wenigen Stellen weitgehend lahmzulegen – agierten manche Akteure gewaltförmig. Bis zum vorigen Wochenende wurden zehn Polizisten verletzt, davon zehn aus Schusswaffen mit scharfer Munition. (Vgl. https://www.lefigaro.fr/actualite-france/des-policiers-de-nouveau-vises-par-des-tirs-en-martinique-et-guadeloupe-20211127 externer Link) Vier Journalist(inn?)en der Radio- und Fernsehsender RMC und BFM TV, der Nachrichtenagentur AFP und der Bildagentur Abaca Press wurden ebenfalls beschossen, jedoch nicht getroffen. (Vgl. https://www.lci.fr/justice-faits-divers/video-crise-aux-antilles-des-journalistes-vises-par-des-coups-de-feu-en-martinique-2202995.html externer Link und https://www.bfmtv.com/societe/violences-en-martinique-une-equipe-de-journalistes-de-bfmtv-visee-par-des-tirs-a-balles-reelles_AV-202111260054.html externer Link) In der Stadt Basse-Terre auf Guadeloupe war am Dienstag, den 30. Nov. d.J. am Rande eines Besuchs von „Überseeminister“ Sébastien Lecornu versucht worden, das Rathaus in Brand zu stecken. (Vgl. https://www.lepoint.fr/politique/antilles-situation-toujours-tendue-au-dernier-jour-de-la-visite-de-lecornu-30-11-2021-2454580_20.php externer Link)

Auf der ebenfalls zur Hälfte administrativ/politisch zu Frankreich (und zur anderen Hälfte zu den Niederlanden) zählenden Karibikinsel Saint-Martin wurde am gestrigen Donnerstag, den 02. Dezember 21 ebenfalls ein Gendarm verletzt. (Vgl. https://www.lexpress.fr/actualites/1/societe/antilles-un-gendarme-blesse-a-saint-martin-couvre-feu-prolonge-en-guadeloupe-et-martinique_2163584.html externer Link)

An den Blockadestellen, die durch Gewerkschafter/innen und Aktivist/inn/en von Sozialinitiativen wie LKP (Liyannaj kont pwofitasyon, kreolisch für: „Zusammen gegen Ausbeutung“) gehalten werden, entgleitet ihnen vor allem nächtlich die Kontrolle, die dann durch Angehörige von meist aus jungen Männern bestehenden Gangs übernommen wird.

Die Gewerkschafter/innen agieren ohne Waffen. Unter Zelten, die auf den Verkehrsachsen errichtet wurden und die den Protestierenden als Anlaufstellen und Sammelpunkt dienen, trifft man auf Mitglieder der CGT, von Solidaires oder der Unabhängigkeitsforderungen verpflichteten Guadeloupe-Gewerkschaft UGTG.

Allerdings weigern sie sich auch, wie durch die französische Regierung gewünscht zunächst eine Distanzierung von militanten Jugendlichen, Gangmitgliedern oder Plünderern vorzunehmen, bevor sie sich auf Verhandlungen einlassen.

Am Montag, den 29. November 21 platzten Verhandlungen zwischen dem nach Pointe-à-Pitre auf Guadeloupe angereisten, (bereits oben erwähnten) französischen Überseeminister Lecornu und einem Kollektiv aus Gewerkschaften und Sozialinitiativen unter anderem daran, dass diese sich nicht dem Verlangen beugen mochten, die Distanzierung als zu erfüllende Vorbedingung von Gesprächen vorzunehmen.

Allerdings scheiterten die Gespräche auch daran, dass Lecornu mit zwanzig ausgewählten Vertreter/inne/n von Gewerkschaften und örtlichen Mandatsträger/inne/n reden mochte, die am Kollektiv beteiligten Gruppen und Organisationen dagegen nur gemeinsam empfangen werden wollten. Lecornu flog auf die Nachbarinsel La Martinique weiter und beendete dort am Dienstag, den 30.11.21 seinen zweitätigen Besuch.

Bis dahin klingt das Szenario beinahe wie ein Traum von radikalen Linken der 1970er Jahre, die danach bestrebt waren, eine Spaltung zwischen einem militanten Flügel und denen, die legal agierten oder ihren „Marsch durch die Institutionen“ antraten, zu vermeiden. Der Rest allerdings, wirft man vor allem einen Blick auf die Inhalte, unterscheidet sich doch in wesentlichen Punkten von linken Revolutionsszenarien. Vor allem, wenn man zweierlei Dinge berücksichtigt: die objektive Begünstigung von Impfgegnerschaft sowie die Tatsache, dass es im Verlauf dieser Protestbewegung auch zu einer Serie von Attacken auf Gesundheitsbediensteten kam – und dort hört der Spaß definitiv aufhören.

Die Protestmobilisierungen, die zuerst auf Guadeloupe begannen (im Keim bereits ab Ende August und Anfang September d.J. mit späterer Ausweitung; ab dem 15. November d.J. wurde zu einem „Generalstreik“ aufgerufen, den allerdings nur ein Teilsegment der Bevölkerung befolgt, zumal die Verkehrsblockaden die Mobilisierung etwa zu Kundgebungen eher objektiv verhindern (vgl. https://www.lemonde.fr/politique/article/2021/11/25/a-la-guadeloupe-la-greve-generale-peine-a-mobiliser-une-grande-partie-de-la-population_6103624_823448.html externer Link), griffen ab der zweiten Novemberhälfte auf das gewöhnlich etwas ruhigere französische Nachbardépartement La Martinique über, auch wenn es dort ebenfalls zuvor zu punktuellen Protesten zum Thema Impfpflicht kam (vgl. https://www.lefigaro.fr/faits-divers/martinique-affrontements-entre-soignants-opposes-au-passe-sanitaire-et-forces-de-l-ordre-20211016 externer Link); am 22. November nahmen auf La Martinique rund 1.000 Menschen an einer von Gewerkschaften aufgerufenen Demonstration der Protestbewegung teil.

Soziale Kernforderungen

Ihnen liegt ein Forderungskatalog von insgesamt 32 Punkten zugrunde; er war erstmals am 02. September d.J. vorgelegt worden. (Vgl. bspw.: https://rapportsdeforce.fr/classes-en-lutte/apres-la-guadeloupe-la-martinique-en-greve-generale-nous-lancons-un-appel-aux-travailleurs-francais-112411890 externer Link)

Zwei Drittel davon sind sozialer Natur, und diese Forderungspunkte haben im Laufe der Wochen an Bedeutung gewonnen (vgl. https://www.marianne.net/societe/en-guadeloupe-les-revendications-sociales-prennent-le-pas-sur-la-contestation-vaccinale externer Link); es wird eine etwa eine Festanstellung von prekär beschäftigten Lohnabhängigen, eine Aussetzung der regressiven – in ganz Frankreich, nach mehrfacher Verschiebung, nun am 1. Dezember 21 in Kraft getretenen – so genannten Reform der Arbeitslosenversicherung oder die Eröffnung von Verhandlungen über Lohnerhöhungen gefordert. Auf einer Insel wie Guadeloupe, wo 35 Prozent der jungen Generation erwerbslos sind, ist der Sinn solcher Forderungen sofort eingängig.

Unter den Forderungen findet sich auch der Respekt eines Abkommens betreffend die sozialen Rechte der Feuerwehrleute von Ende 2014, das bis jetzt nicht oder nicht vollständig eingehalten worden ist.

Impfflicht: eine historisch verständlich, doch inhaltlich unsinnige Opposition

Ursprünglich den Stein des Protests ins Rollen brachten jedoch andere Aspekte. Dabei geht es um eine Infragestellung der Impfflicht für bestimme Berufe wie Gesundheitsbedienstete und Feuerwehrleute, die auf den Inseln ab dem 15. November (im Vergleich: im übrigen Frankreich ab dem 15. September) zu greifen begann, infolge des Gesetzes zur sanitären Notlage (vgl. zu ihm: https://www.labournet.de/wp-content/uploads/2021/08/schmid130821.pdf pdf), das – infolge des Urteilsspruchs des Verfassungsgerichts dazu vom 05. August 21 – am 06. August dieses Jahres in Kraft trat.

Auf den Karibikinseln, wie auch in Französisch-Polynesien (wo es am Donerstag, den 25. November 21 ebenfalls einen Streikaufruf dagegen gab, welcher allerdings dort nur schwach befolgt schien, die Rede ist von 1 % der Beschäftigten im öffentlichen Dienst; vgl. https://www.lemonde.fr/politique/article/2021/11/25/a-la-guadeloupe-la-greve-generale-peine-a-mobiliser-une-grande-partie-de-la-population_6103624_823448.html externer Link), wird diese für bestimmte Berufsgruppen geltende Impfflicht sowie die damit zusammenhängende Drohung der zeitweiligen Aussetzung der Arbeitsverträge für Ungeimpfte (während der Dauer des Pandemie-Notstands) weitaus stärker abgelehnt als in Festlandfrankreich. Sind dort inzwischen über 75 Prozent der Wohnbevölkerung und rund 88 Prozent der Volljährigen geimpft, hinkte der Anteil in den Überseegebieten lange Zeit dramatisch hinterher. Ende November d.J. erreichte er in Guadeloupe nunmehr 46 Prozent.

Nicht, dass die Pandemie auf den Inseln nicht übel gewütet hätte. Vor allem im August 21 hatte sie dort dramatische Folgen, in jenem Monat betrug der Inzidenzwert auf Guadeloupe stattliche 2.000 Fälle pro 100.000 Einwohner/innen. (Vgl. https://www.ouest-france.fr/sante/virus/coronavirus/carte-covid-19-plus-de-2-000-cas-pour-100-000-habitants-en-guadeloupe-le-point-par-departement-e516535e-fb87-11eb-b7a9-6ed9c0dc942a externer Link) Dabei handelte es sich dort um die „zweite Welle“, während damals in Festlandfrankreich bereits die „vierte Welle“ grassierte (derzeit handelt es sich dort um die „fünfte Welle“, während in Deutschland und Österreich von der jeweils „vierten“ die Rede ist…).

Auch die Gewerkschaften waren sich in jüngster Vergangenheit der Dramatik der Gesundheitssituation absolut bewusst, so wurde in einer gemeinsamen Erklärung einer Vielzahl von Gewerkschaftsorganisationen auf den Inseln im Oktober 2020 auf einen unzureichenden Schutz vor der Pandemie verwiesen, vor deren Unterschätzung gewarnt und wurden die Behörden für mangelnde Vorsorge kritisiert. Und selbstverständlich auch, und zu Recht, für die mangelnde Ausstattung des Gesundheitswesens auf den Antillen. (Siehe die Erklärung mehrerer fr. Gewerkschaften vom Oktober 2020 externer Link : À propos de pandémie COVID-19 en Guadeloupe)

Doch mit dem Gesetz vom 06. August 2021 und der damit einhergehenden Anordnung einer Impfflicht für bestimmte Berufsgruppen dreht sich der Wind. Nunmehr wurde für deren Ablehnung mobilisiert, doch damit direkt oder indirekt – jedenfalls objektiv – auch gegen das Impfen.

Dabei sorgt eine Mischung aus Motiven für eine heftige Ablehnung in Teilen der Bevölkerung. Dazu zählt das Gewicht der evangelikalen Strömungen, die zu den fundamentalen Impfgegner/inne/n zählen. Aus Prinzip; hätte Gott uns Antikörper gegen Covid-19 geben wollen, hätte er uns ja damit auf die Welt kommen lassen, nicht wahr? (Und stirbst Du an der Pandemie, dann schätze Dich doch glücklich, Du kommst ja ins Paradies… was zählt da da schon solch ein irdisches Leben?)

Aber auch historische Faktoren spielen eine Rolle, und man muss dabei nicht einmal bis auf die Sklaverei (die historische Grundlage der örtlichen Ökonomie!) oder auf das Massaker von einhundert Protestierenden auf Guadeloupe im Jahr 1967 infolge eines Bauarbeiterstreiks zurückgehen. (Vgl. zum Mai 1967 bspw.: https://la1ere.francetvinfo.fr/guadeloupe-mai-1967-massacre-aux-zones-encore-troubles-477125.html externer Link)

Unter den lebenden Einwohner/inne/n sind heute 90 Prozent mit dem giftigen Insektizid Chlordécone kontaminiert. Dieses wurde in den – vor dem historischen Hintergrund der Sklavenhaltungs-Ökonomie bis heute nur wenigen Grundbesitzern gehörende – Bananen-Monokulturen der französischen Inseln bis zu einem Verbot 1993 eingesetzt, während es in den USA aufgrund erwiesener Toxizität bereits 1977 verboten worden war (infolge eines Produktionsunfalls im Jahr 1975, in seiner Bedeutung in Europa ungefähr mit dem Seveso-Unfall in Italien im darauffolgenden Jahr und der daraus resultierenden Dioxin-Debatte vergleichbar) und in Festlandfrankreich ab 1990. Heute sind die Wasserreserven der Insel nachhaltig mit dem Gift, das nur schwer abbaubar ist, verseucht. (Vgl. https://www.santepubliquefrance.fr/les-actualites/2018/chlordecone-et-autres-pesticides-sante-publique-france-presente-aux-antilles-de-nouveaux-resultats externer Link und https://www.medisite.fr/cancer-de-la-prostate-chlordecone-90-de-la-population-des-antilles-contaminee-par-cet-insecticide.5547091.524085.html externer Link oder https://www.lexpress.fr/actualite/sciences/antilles-ce-que-nous-dit-la-science-des-dangers-du-chlordecone-pour-la-sante_2163118.html externer Link)

An diesen riesigen „sanitären Skandal in der jüngeren Geschichte der Republik“ erinnerten vorige Woche erstmals massiv auch bürgerliche Medien in ihrer Berichterstattung über die Proteste in der Karibik.

Vor dem Hintergrund solcher Behandlung der Inselbevölkerung durch die „Metropole“, wie Festlandfrankreich hier genannt wird, glauben breite Kreise nicht daran, dass die Exekutive wirklich um den Gesundheitsschutz besorgt sei – was wiederum leider auch ein Einfallstor für die Rezeption von Verschwörungstheorien, wie sie auch sonst auf der Welt umgehen, abgibt. Besser wird deren Gehalt, gemessen am objektiven Imperativ des Gesundheitsschutzes, dadurch nicht; und an dieser Stelle trifft man leider auch nur auf die üblichen (sensible Leser/innen bitte kurz folgende Passage kurz überspringen) Scheißhausparolen der Impfgegnerszene, die sich weltweit aus Verschwörungsfantasien – in Europa oft völkisch unterlegter Natur, in der Karibik weitaus eher mit religiöser Grundlage -, irrationalen Ängsten und den Behauptungen politischen Abenteurer nährt.

Zwar bleibt die Ablehnung von quasi Allem, was aus der Metropole und „von oben“ angeordnet wird, durch einen Teil der Bevölkerung auf den Antillen-Inseln absolut verständlich. Dennoch bleibt es objektiv unrichtig, anzunehmen, es sei unproblematisch, wenn etwa Krankenpfleger oder Krankenschwester im Umgang mit Patient/inne/n, mit kranken Menschen einfach auf eine – auch zu deren Schutz dienende – Impfung verzichten können. Krankenhausbedienstete, die bettlägerige Menschen heben, waschen oder ihnen Spritzen setzen sollen, können nun mal schwerlich zwei Meter Abstand zu ihnen halten und social distancing praktizieren.

Derzeit sind zwischen 1.200 und 1.300 Beschäftigte auf Guadeloupe (Gesundheitsbedienstete, freiberufliche Krankenschwestern/pfleger, aber auch ebenfalls einer Impflicht unterliegende Feuerwehrleute) vom Dienst suspendiert, d.h. vorübergehend vom Arbeitsplatz ausgeschlossen. Als Zugeständnis der Regierung an ihre Adresse wurde nun diese Woche angekündigt (vgl. bspw. https://www.lefigaro.fr/actualite-france/guadeloupe-une-solution-individuelle-examinee-pour-les-personnels-suspendus-20211126 externer Link):

  • die Impfpflicht bzw. ihr verbindliches Greifen bis zum 31. Dezember 21 zu verschieben, was allerdings de facto auch nur einen Monat Aufschub bedeutet;
  • den Betreffenden die freie Wahl des Impfstoffs zu lassen, also die konkrete Entscheidung darüber, ob der neuartige mRNA-basierte Impfstoff von Pfizer oder Moderna oder aber ein „traditionelleres“ Impfmittel (auf der Basis abgeschwächter oder desaktivierter Viren) verimpft wird; also eine Entscheidungsfreiheit nicht über das „Ob“, aber das „Wie“ einer Schutzimpfung, die Befüchtungen vor den mRNA-Impfsubstanzen entgegen kommen soll, und die man sicherlich inhaltlich begrüßen darf;
  • und diejenigen, die sich definitiv nicht impfen lassen mögen, „individuell zu begleiten“, etwa um eine Umversetzung oder berufliche Umorientierung zu ermöglichen.

Bei all diesen Punkten kann man grundsätzlich kommentieren „warum nicht?“, wobei strikt darauf zu achten wäre, dass kein Präzedenzfall geschaffen werden darf, der dann den oft faschistisch motivierten, fundamentalreligiös verblendeten oder schlicht irren Impfgegnern, „Querdenkern“ und politischen Abenteurern in Festlandfrankreich und sonstwo in Europa dann als Argumentationsstütze dienen könnte.

Gesundheitsbedienstete sind Angriffen ausgesetzt

Man könnte meinen, dass sich dieses Problem objektiv weitgehend gelöst habe, zumal inzwischen auch auf den französischen Antillen 90 % des Gesundheitspersonals – ob freiwillig oder widersträubend – geimpft sind. (Vgl. https://www.france24.com/fr/france/20211126-crise-aux-antilles-le-gouvernement-repousse-l-obligation-vaccinale externer Link)

Doch aus den Reihen des heterogen motivierten Protestmilieus kommt es inzwischen auch zu direkten Angriffen auf (infolge eigener Impfung als „Kollaborateure“ geschmähten) Gesundheitsbedienstete, zu Blockaden von Krankentransporten und zu Attacken auf Privatfahrzeuge. (Vgl. https://www.guadeloupe.franceantilles.fr/actualite/faits-divers/https-www-guadeloupe-franceantilles-fr-actualite-faits-divers-l-ars-alerte-sur-les-agressions-physiques-des-professionnels-de-sante-604784-php-604784.php externer Link und https://www.leparisien.fr/societe/on-ma-etrangle-a-lentree-du-chu-en-guadeloupe-les-agressions-se-multiplient-contre-les-soignants-24-11-2021-W4TEZMKLVBHQHNSHNH7CEH22NM.php externer Link sowie https://www.francetvinfo.fr/france/guadeloupe/guadeloupe-le-calvaire-des-soignants-vaccines_4862517.html externer Link) Bei allem Verständnis für den historischen und politischen Kontext: Wer sich an solchen Aktivitäten beteiligt, hat mitnichten Solidarität verdienst, sondern „einen Fuß in den Nacken und die Fresse in den Staub“. Gewerkschaften und Andere täten verdammt gut daran, sich jedenfalls von solchem Gesocks spürbar zu distanzieren.

Ein Pakt für Elendsverwaltung unter der Tropensonne?

Minister Lecornu bietet den Protestierenden nun als angebliches Entgegenkommen, in seinen Worten formuliert, „weniger Gleichheit mit der Metropole und mehr Autonomie /mehr Gestaltungsfreiheit“ an. (Vgl. bspw.: https://www.lesechos.fr/politique-societe/regions/antilles-le-gouvernement-pret-a-parler-de-lautonomie-de-la-guadeloupe-1367511 externer Link) Dabei ist jedoch Vorsicht geboten, deutet doch eine Formulierung vom Typ „weniger Gleichheit und mehr Spielräume (… für Flexibilität“) jedenfalls in diesen Zeiten i.d.R. an, dass es unter dem Strich um weniger Rechte gehen soll. Inzwischen hat auch Staatspräsident Emmanuel Macron bekräftigt, dass gerne auch in diese Richtung nachgedacht werden könne. (Vgl. https://www.lefigaro.fr/politique/crise-aux-antilles-macron-valide-le-debat-sur-l-autonomie-de-la-guadeloupe-20211201 externer Link)

De facto wird dies jedoch ohne tiefgreifende Änderung der wirtschaftlichen Beziehungen zu Festlandfrankreich vor allem Elendsverwaltung unter Palmen bedeuten, bei der die Regierung in Paris sich die Hände wäscht, wenn die örtlichen Entscheidungsträger/innen dann qua Haushaltshoheit für Gesundheit und Bildung selbst verantwortlich wären.

Zu den strukturellen Problemen der Inseln und ihrer Ökonomien zählt ihre historische begründete, nach wie vor tief verwurzelte Abhängigkeit von Frankreich. Diese basiert heute u.a. auf einem „Konsumkorridor“ (couloir de consommation), über den die – zumindest an Agrarprodukten und Fischereierzeugnissen, wenn auch nicht an mineralischen Rohstoffen, potenziell reichen – Inseln zum Großteil aus der „Metropole“, also aus dem europäischen Frankreich beliefert werden. Einige der Folgen: Ein Biohühnchen, das in einem Supermarktregal in der „französischen Karibik“ ausliegt, kostet dort… fünfzig Euro. Welcher Anteil der Bevölkerung sich das leisten kann, darf man sich getrost ausmalen. Und ein Packen Mineralwasserflaschen kostet lautet einer Reportage des französischen Privatfernsehsenders BFM TV vom heutigen Freitag früh in einem Supermarkt auf den Antillen stolze 8,33 Euros, drei mal so viel wie in Festlandfrankreich.

Abhilfe könnte einzig und allein eine Einbindung in die und Verflechtung mit den Ökonomien in der umliegenden Region (warum nicht im Rahmen einer Art Karibik-Föderation?); von den „französischen Antillen“ aus betrachtet liegt etwa Venezuela nur in 400 Kilometern Entfernung. (Gut, OK, dieses Land ist im Augenblick nicht das Paradebeispiel einer funktionierenden Ökonomie; aber es hätte anders laufen können, hätte etwa die linksnationalistische Regierung zeitig auf eine Reduzierung der Abhängigkeit vom Ölexport statt auf eine Finanzierung von Sozialausgaben durch „Extraktivismus auf Teufel komm‘ raus“ gesetzt…) Und in diesem Zusammenhang könnte auch die politische Unabhängigkeitsforderung ihren voll Sinn ergeben, gekoppelt an eine ökonomische Vision. Doch ohne jegliche Verbindung mit der Suche nach einer ökonomischen Alternative verliert die Vorstellung von Autonomie, ja Unabhängigkeit ihren progressiven Inhalt. Denn es gibt auch eine rechte Variante einer solchen Vorstellung, und die lautet im Kern schlicht: „Sollen die sich doch um ihre Probleme gefälligst selber kümmern…“ So lautet jedenfalls die Quintessenz daraus, wenn in Reaktion auf die Massenproteste von Anfang 2009 und den damaligen Generalstreik auf Guadeloupe (in dessen Schlussphase auch auf La Martinique) besonders eine Mehrheit in der ganz rechten Wählerschaft sich, jedenfalls laut einer Umfrage, plötzlich für die Idee einer Unabhängigkeit für Guadeloupe erwärmen konnte… (Vgl. dazu
http://www.valeursactuelles.com/public/valeurs-actuelles/html/fr/articles.php?article_id=4237 externer Link) Wobei es zu deren Übernahme aus geostrategischen Motiven nicht kommen dürfte, da der Großmachtstatus Frankreichs unter anderem auch an seinem maritimen Territorium (das zweitgrößte der Welt) hängt.

Artikel von Bernard Schmid vom 3.12.2021 – wir danken!

Zur jüngeren Vergangenheit, d.h. zum damaligen Generalstreik von Anfang 2009 auf Guadeloupe und La Martinique, welcher damals auch zu Solidarisierungseffekte in der „Metropole“ (d.h. in Festlandfrankreich) führte, vgl. unsere damalige Berichterstattung bei Labournet:

Fussnoten:

1) La Martinique ist eine Insel vulkanischen Ursprungs. Guadeloupe hingegen bildet einen Archipel, bestehend aus zwei fast zusammenhängenden (nur durch einen schmalen Meeresarm voneinander getrennten) gebirgigen Hauptinseln und kleineren Eilanden. Insgesamt besteht Guadeloupe aus fünf bewohnten Inseln.

  • Siehe auch die Verlautbarung von Solidaires vom 1.12.2021 externer Link: Guadeloupe Martinique, ensemble pour l’égalité et la justice sociale! / Guadeloupe Martinique, gemeinsam für Gleichheit und soziale Gerechtigkeit!
    Die Impfpflicht und die Auferlegung des Gesundheitspasses haben einmal mehr offenbart, wie diese Gebiete vom französischen Staat betrachtet und behandelt werden.
    Diese Regierung zeigt Autoritarismus und Verachtung als Antwort auf die Grundbedürfnisse der Bevölkerung und greift dabei auf die alten kolonialen Reflexe der Schuldzuweisung und Infantilisierung zurück, wie in der jüngsten Mitteilung der Präfektur von Guadeloupe! All dies geschieht, obwohl die grundlegendsten Bedürfnisse in diesen Gebieten nicht gewährleistet sind.
    Angefangen beim Zugang zu sauberem Trinkwasser aufgrund einer weitgehend mangelhaften öffentlichen Wasserversorgung. Es wird nichts unternommen, um die Allgegenwart von Chlordecon in der Umwelt zu bekämpfen, einem Pestizid, das weltweit verboten, aber in Guadeloupe und Martinique bis 1993 zugelassen war und seit Jahren die gesamte Bevölkerung krank macht, mit dramatischen Folgen! Aber auch der öffentliche Gesundheitsdienst mit einem ausgebluteten öffentlichen Krankenhaus, das (übrigens im wahrsten Sinne des Wortes) überall Wasser zieht, in diesem Zusammenhang des Covid mit den bekannten Folgen. (…)
    Die neoliberale Politik der aufeinanderfolgenden Regierungen, darunter auch die aktuelle, verschärft die Situation auf den Antillen immer weiter: Angriffe auf den öffentlichen Dienst, die Reform der Arbeitslosenversicherung und die Profitgier auf Kosten der Gesundheit und der Umwelt lassen die legitime Wut der Bevölkerung wachsen.
    In Wirklichkeit sind der Kampf der LKP in Guadeloupe, einem Kollektiv aus Vereinen, Organisationen und Gewerkschaften, und die Revolte in Martinique die Pendants der sozialen Bewegung und der Gelbwestenbewegung in Frankreich. Die Regierung muss die Wut hören und die sozialen Forderungen der Bevölkerung auf den Antillen wie in allen von ihr verwalteten Gebieten erfüllen. Soziale und ökologische Gerechtigkeit duldet keine Ausnahmen, ebenso wenig wie ein wirklicher Kampf gegen Diskriminierung: Sie muss das einzige Ziel der Regierenden sein, um eine unbeschwerte Zukunft für alle zu gewährleisten.
    IHRE AUFSTÄNDE GEGEN IHRE UNSOZIALE UND UNGLEICHE POLITIK SIND UNSERE AUFSTÄNDE, UND WIR UNTERSTÜTZEN SIE ZU 100 %.“ (Maschinenübersetzung, siehe auch unsere Grafik zum Artikel)
Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=195742
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