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Proteste und Arbeitskonflikte in Frankreich gehen weiter: Um Bedingungen im Gesundheitswesen und Schließungspläne bei Renault

Proteste in Frankreich im Mai 2020 - Foto von Bernard SchmidBeginn der Verhandlungen um die Bedingungen im Gesundheitswesen – Eine Personalie lässt aufhorchen: Die frühere CFDT-Fürstin und Rechtsdrall-Gewerkschafterin Nicole Notat soll vermitteln (Hilfe!) – Proteste und Strafzettel vor Pariser Krankenhäusern – Renault öffnet das Werk Sandouville nach gerichtlicher Verurteilung wieder… und droht gleichzeitig damit, vier Standorte in Frankreich aufzugeben (um Druck auf den Staat zu entfalten)…“ Artikel von Bernard Schmid vom 25. Mai 2020 mit einigen Fotos des Autors- wir danken!

Proteste und Arbeitskonflikte in Frankreich gehen weiter:
Um Bedingungen im Gesundheitswesen und Schließungspläne bei Renault

Beginn der Verhandlungen um die Bedingungen im Gesundheitswesen – Eine Personalie lässt aufhorchen: Die frühere CFDT-Fürstin und Rechtsdrall-Gewerkschafterin Nicole Notat soll vermitteln (Hilfe!) – Proteste und Strafzettel vor Pariser Krankenhäusern – Renault öffnet das Werk Sandouville nach gerichtlicher Verurteilung wieder… und droht gleichzeitig damit, vier Standorte in Frankreich aufzugeben (um Druck auf den Staat zu entfalten)

Proteste in Frankreich im Mai 2020 - Foto von Bernard SchmidWie wir mehrfach berichteten, bildet die Lage im französischen Gesundheitswesen aktuell einen Kristallisationspunkt für Protest in Frankreich nach dem déconfinement, also der Aufhebung der (im Vergleich zu Deutschland relativ strengen) Ausgangsbeschränkungen, die vom 17. März bis 10. Mai dieses Jahres in Kraft waren.

Ab dem heutigen Montag, den 25.05.2020 soll deswegen eine Konzertierungsrunde zwischen Regierung und Beschäftigtenvertreter/inne/n sowie solchen des Gesundheitsapparats beginnen. Diese soll von siebenwöchiger Dauer sein und wurde unter den Namen Ségur de la Santé (Ségur-Runde der Gesundheit) gestellte. Ein solcher Neologismus, also eine solche Begriffs-Neuschöpfung, soll Anklänge an den seit längerem gebräuchlichen Begriff Grenelle de… erwecken; in beiden Fällen handelt es sich um Pariser Straßennamen. Letzterer hat sich als Bezeichnung für größere Verhandlungsrunden eingebürgert, in Anlehnung an die Accords de Grenelle (Vereinbarungen von Grenelle) vom 27. Mai 1968, die dem Generalstreik im Frühjahr 1968 ein Ende setzten sollten, was allerdings erst im Laufe mehrerer Wochen auch erreicht wurde. (Die Vereinbarungen enthielten u.a. eine Anhebung des gesetzlichen Mindestlohns, damals SMIG, um + 35 %, sonstige Lohnerhöhungen und die erstmalige Schaffung des Rechts auf Bildung einer Gewerkschaft innerhalb des Unternehmens, und nicht nur außerhalb als externe Verhandlungsinstanz; dieses Gewerkschaftsbildungsrecht wurde danach mit dem Gesetz zur section syndicale, also Gewerkschaft im Betrieb, vom 27. Dezember 1968 umgesetzt.) In Anlehnung daran hielt etwa der damalige Präsident Nicolas Sarkozy im Herbst 2007 ein Grenelle de l’environnement oder „Grenelle der Umwelt“, also einen mehrwöchigen Riesenkongress zur ökologischen Modernisierung des Kapitalismus, ab. Der boulevard de Grenelle im 15. Pariser Bezirk ist der Sitz des französischen Arbeits- & Sozialministeriums. Die Avenue de Ségur, die das 7. und 15. Pariser Arrondissement durchquert, ist wiederum der Sitz des Gesundheitsministeriums. Im Gegensatz zum mittlerweile geflügelten Begriff Grenelle de… wird die Eigenbezeichnung Ségur de… in dieser Form erstmals für ein gesellschafspolitisches Ereignisse verwendet.

Eine Personalie lässt dabei aufhorchen: Am Freitag Spätnachmittag (22.05.20) wurde durch eine AFP-Meldung bekannt, dass die französische Regierung als Vermittlerin und als „Koordinatorin“ für diese sozialpolitische Verhandlungsrunde den Drachen, pardon: die frühere Vorsitzende des Gewerkschaftsdachverbands CFDT (an der Spitze rechtssozialdemokratisch) in den Jahren 1992 bis 2002 ernannt hat: Nicole Notat. Die erste Reaktion des Autors dieser Zeilen auf einer WhatsApp-Gruppe, auf der klassenkämpferische Gewerkschafter/innen und einige „Gelbwesten“ vom fortschrittlichen Flügel der so bezeichneten Protestbewegung stehen, lautete: Au secours! (Hilfe!) Eine im Wortlaut identische, gleichlautende Reaktion wurde in derselben Minute durch eine andere Teilnehmerin gepostet…

Proteste in Frankreich im Mai 2020 - Foto von Bernard SchmidUm wen handelt es sich? Nicole Notat steht mit ihrem Namen wie kaum eine andere für den Rechtsruck in einem Teilsegment der französischen Gewerkschaftslandschaft. In ihren Amtsjahren als Generalsekretärin der CFDT seit dem chaotisch verlaufenen Kongress in Montpellier (1992), ihr Spitzname in dieser Funktion lautete übrigens La tsarine (Zarin), führte die Dame die CFDT erstmals in dieser Eindeutigkeit an die Seite von Regierung und Kapital, als sie im November 1995 – gegen alle andere bedeutenden französischen Gewerkschaften – den plan Juppé des damaligen konservativ-wirtschaftsliberalen Premierministers Alain Juppé befürwortete (jener beinhaltete u.a. einen Sparplan für das öffentliche Gesundheitswesen, eine Anhebung des Rentenalters in den öffentlichen Diensten und die Stilllegung von 11.000 km Eisenbahnstrecken). Es kam daraufhin zum Bruch in Teilen der CFDT, einer Austritts- und Ausschlusswelle, aus welcher viele der Basisgewerkschaften SUD hervorgingen; Nicole Notat wurde bei einer Demonstration mehrerer Gewerkschaften am 24. November 1995 auf handfeste Weise hinausgeworfen. Nochmals ereignete sich dies am 17. Oktober 1996 bei einer gewerkschaftlichen Demonstration in Paris zum Thema öffentliche Dienste – der Verfasser, damals Studierender, war dabei und behält den Tag in guter Erinnerung… Nach ihrem Abtritt von der CFDT-Spitze 2002, abgelöst durch François Chérèque, wurde Nicole Notat zur Unternehmensberaterin an der Spitze der Beratergesellschaft für „soziale und ökologische Unternehmensführung“ (eher: zur Zertifizierung eines guten Gewissens…?) unter dem Namen Vigeo, inzwischen Vigeo EIRIS.

Auf Nicole Notat sollten die Gesundheitsbediensteten, welche sich über unzumutbare Arbeitsbedingungen beklagen, also vielleicht nicht unbedingten bauen, auch nicht als „Vermittlerin“.

Vgl. zur Aktualität:

Rückblick (und weiterhin aktuell): Proteste von Gesundheitsbediensteten

Emmanuel Macrons Versuche um Sympathiewerbung bei denen, die in den vergangenen Wochen vielfach von den Balkonen als „Heldinnen und Helden der Nation“ gefeiert wurden, von Ärztinnen bis zu Krankenpflegern, schlugen fehl.

Proteste in Frankreich im Mai 2020 - Foto von Bernard SchmidWir erinnern uns: Am 09. April d.J. besuchte er ein Krankenhaus in der Pariser Vorstadt Kremlin-Bicêtre. Die Presse war nicht zugelassen, stattdessen filmte das Team des Elysée-Palasts den Auftritt und stellte danach Bilder von dem Besuch ins Internet. Darauf wirkte die Szene so, als ernte Macron Applaus. Kurz darauf stellten jedoch auch Mitglieder der Gewerkschaften CGT und SUD eigene Aufnahmen ins Netz. Daraus ergab sich, dass es sich ganz anders verhielt: Der Beifall brandete für eine Krankenschwester mit CGT-Mitgliedschaft auf, die Macron bei seinem Eintreffen hart kritisiert hatte. Eine neuerliche Visite am Freitag, den 15. Mai 20 im Pariser Großkrankenhaus La Pitié-Salpétrière lief nicht allzu viel besser für ihn. Dieses Mal wählte Emmanuel Macron den Weg der scheinbaren Selbstkritik und räumte ein, es sei für ihn angeblich eine „bittere Erfahrung“ gewesen, erkennen zu müssen, dass man „nicht genug zugunsten der Krankenhäuser verändert“ habe.

Zu ihren Gunsten verändert wurde bislang, genau betrachtet, gar nichts – sieht man von verbalen Ankündigungen ab. In Frankreich wurden im Zeitraum von 1998 bis im vorigen Jahr über 100.000 von zuvor 500.000 Krankenhausbetten gestrichen. Und zu Beginn der Corona-Krise wies das Land 5.000 Betten in Intensivstationen auf – die auf der Spitze des Krisenverlaufs vorübergehend mehr als verdoppelt werden konnten -, im Vergleich zu 28.000 in der Bundesrepublik zu ihrem Beginn. Die Pariser Ärztin Béhija (Nachname ist der Redaktion bekannt) berichtet, dass just in diesen Tagen dazu übergangen werde, nunmehr Krankenhausplätze, die während der akuten Phase der Krise in „Coronabetten“ umgewandelt wurden, nun nicht ihrer vorherigen Bestimmung wieder zuzuführen, sondern gleich ganz wegzustreichen. Sie ist eine von 175 Unterzeichner/inne/n einer ausschließlich von Angehörigen ihres Berufs getragenen Strafanzeige gegen Regierungsmitglieder wegen Fremdgefährdung bei Ausbruch der Krise.

Man erinnert sich an Fernsehreportagen aus Notaufnahmen von Krankenhäusern zu Jahresbeginn, als SARS Cov-2 noch eine innere Angelegenheit Chinas zu sein schien, in denen Beschäftigte berichteten, man riskiere in einen Teufelskreis einzutreten, weil immer mehr Kolleginnen und Kollegen von den bis zu drei mal besser bezahlenden Privatkliniken abgeworben würden. Auch die Bestgewillten könnten der Versuchung aufgrund unerträglicher Zustände im öffentlichen Krankenhauswesen oft nicht länger widerstehen. Dadurch wiederum drohe sich die Spirale weiterzudrehen, da der sich verschärfende Personalmangel, zusätzlich zu sich mehrenden Ausfallzeiten wegen Krankheit des Personals – in der Corona-Krise sanken diese allerdings radikal – zu vermehrtem Arbeitsdruck auf die Verbleibenden führe.

Mehrmals, Ende März d.J. bei einem Auftritt im Feldlazarett der Armee vor den Toren des Krankenhauses von Mulhouse – die südelsässische Stadt war in Frankreich die am stärksten von Covid-19 betroffene – wie zuletzt vorige Woche in La Pitié-Salpétrière, versprach Macron Besserungen. Eine „Aufwertung“ der Gesundheitsberufe, verbesserte Arbeitsbedingungen. Zu Anfang voriger Woche koppelt seine Gesundheitsminister Olivier Véran dies allerdings mit einer Frage zusammen, jener der Arbeitszeitregelung, indem er ein „Aufweichen“ der angeblich starren 35-Stunden-Woche im Gesundheitswesen versprach. Eine gesetzliche Regelarbeitszeit von 35 Stunden wöchentlich gilt in Frankreich seit einem sozialdemokratischen Gesetz aus dem Januar 2000. Schon immer ließ es jedoch Arbeitgebern viel Spielraum für Flexibilität, denn die Durchschnittsdauer von 35 Stunden wöchentlich muss lediglich im Mittelwert eines Ausgleichszeitraums erreicht werden. Dieser betrug damals ein Jahr, seit der „Arbeitsrechtsreform“ unter François Hollande 2016 kann er auf bis zu drei Jahre ausgedehnt werden. Was Olivier Véran im Kern verspricht, ist nichts Anderes, als dass der Verdienst am Monatsende durch Mehrarbeit und Überstunden verbessert werden könnte.

Proteste vor Krankenhäusern

Seit der Aufhebung der generellen Ausgangsbeschränkungen am 11. Mai gilt nun ein Verbot von Versammlungen ab elf Personen bis in den Juli dieses Jahres hinein. (Zuvor lag die Obergrenze rein theoretisch seit Ende März und bis zum 10. Mai dieses Jahres bei einhundert Personen; doch dadurch, dass eine Versammlungsteilnahme nicht zu den – auf einem vorgedruckten Passierschein aufgelisteten – zum Ausgang berechtigenden Gründen zählte und nicht auf dem im Internet herunterzuladenden Wisch aufgeführt war, konnte diese Möglichkeit nicht rechtsgültig ausgeschöpft werden.)

Doch an jenem Montag, den 11. Mai kamen an den Eingängen von fünf Krankenhäusern in Toulouse über 1.000 externe Personen zusammen, die – dieses Mal ohne polizeiliche Sanktionen – zusammen mit dort Beschäftigten protestierten.

Proteste in Frankreich im Mai 2020 - Foto von Bernard SchmidDies wiederholte sich nun vorige Woche in Paris: Zu ähnlichen Aktionen kam bzw. kommt es am Donnerstag voriger, am Mittwoch und Donnerstag, den 20. und 21. Mai 20 vor den Pariser Krankenhäusern Tenon und Robert Debré. Vgl. dazu UNSERE PHOTOS vom Eingang des (u.a. als gutes Kinderkrankenhaus, aber auch als Klinik für Schwangerschaftsabbrüche bekannten) Hôpital Robert Debré vom Donnerstag, den 21.05.20 nebenstehend. An der Aktion dort nahmen mehrere Hundert Personen teil; die Nachrichtenagentur AFP sprach von „400“, doch dürfte diese Zahl unterschätzt sein, und durch die Sperrung der in der Nähe vorbeiführenden Straßenbahnlinie trafen viele Teilnehmenden zeitverzögert (so auch der Autor dieser Zeilen, abgehetzt im Dauerlauf und mit gut halbstündiger Verspätung, jedoch noch rechtzeitig vor Beendigung der Kundgebung…). Neben vielen Krankenhausbediensteten waren zu dazu mehrere Hundert Menschen gekommen, einerseits viele aktive Linke und radikale Linken, andererseits Menschen aus dem progressiveren Teil der „Gelbwesten“bewegung (an der Farbe ihrer Kittel durchaus erkennbar). Die Polizei ließ es zunächst gewähren, doch als es zu dem Versuch eines Teils der Menge kam, zu einer Spontandemonstration aufzubrechen, kam es zur Absperrung. Und am Ende wurden fünfzig Strafzettel zu je 135 Euro wegen Überschreitung der Corona-bedingten Versammlungsverbote (bzw. Abstandsgebot?) verteilt und drei Festnahmen durchgeführt (vgl. https://www.francetvinfo.fr/sante/hopital/paris-une-cinquantaine-de-personnes-verbalisees-et-trois-personnes-interpellees-pour-avoir-refuse-de-se-disperser-apres-une-manifestation_3974907.html externer Link)

WAS AKTUELL SONST NOCH LOS IST

Renault hat sein Werk in Sandouville seit der Nachtschicht vom vergangenen Freitag (22.05.20) früh wieder geöffnet, nachdem es dieses infolge gerichtlicher Verurteilung schließen musste… und droht just gleichzeitig damit, vier Standorte in Frankreich aufzugeben (um maximalen Druck auf den Staat zu entfalten). Dagegen richten sich derzeit bereits erste Arbeitsniederlegungen, namentlich in der Bretagne. Ausführlicheres dazu folgt im Laufe der Woche; vgl. einstweilen zur aktuellen Entwicklung:

Und zu sonstigen Hintergründen betreffend Renault in Sandouville:

Darüber hinaus ist dasselbe Renault-Werk nun auch noch, nachträglich, im Visier der Justiz wegen rechtsmissbräuchlicher Praktiken bei der Leiharbeit: https://www.lefigaro.fr/flash-eco/renault-sandouville-une-enquete-en-cours-pour-recours-abusif-a-l-interim-20200515 externer Link

Und ferner (mit Blick, neben Renault, ebenfalls auf den ebenfalls verurteilten Amazon-Konzern und andere Unternehmen): https://www.humanite.fr/apres-renault-et-amazon-la-justice-demande-au-coursier-de-lyon-de-revenir-dans-les-clous-689079 externer Link

Arbeitskampf im Altersheim

Und in einem Altenheime betreibenden Konzern kommt es derzeit zu Arbeitskämpfen, weil auch die dort Beschäftigten – die zum Gesundheitssektor zählen und in der Covid19-Pandemie erheblichen Ansteckungsrisiken ausgesetzt waren – ein Anrecht auf Ausschüttung von Lohnprämie für Risikoarbeit im „sanitären Ausnahmezustand“ (sowie eine Aufwertung ihrer Löhne) fordern (vgl. dazu: https://www.lefigaro.fr/flash-eco/coronavirus-mouvement-de-greve-dans-les-ehpad-korian-lundi-20200524 externer Link)

Artikel von Bernard Schmid vom 25. Mai 2020 mit einigen Fotos des Autors – wir danken!

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=172969
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