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Chile: Eine anhaltende Rebellion

Dossier

Grund zum Feiern in Chile: Rund 80% für eine neue Verfassung – und genau so viele für einen Verfassungskonvent ohne bisherige AbgeordneteEs schien, dass sich nie etwas in diesem Land ändern würde. Pinochets Diktatur, die bei weitem gerissenste, berechnendste und effizienteste von allen, versuchte nicht nur Linke und alle Andersdenkenden zu bekämpfen, sondern auch die Seele Chiles neu zu formatieren, mit einer kalkulierten faschistischen Ordentlichkeit und einer systematischen Eliminierung von allem Menschlichen aus dem nationalen Alltagsleben. (…) Der Unmut entflammte erneut am 18. Oktober 2019 zum Leben, als Millionen Chilen*innenen in einem – auch für sie selbst – unerwarteten psychosozialen Phänomen auf die Straßen und Plätze im ganzen Land gingen, um Nein zu sagen zum brutalen Neoliberalismus, der in Chile seine Ursprung und sein Markenzeichen hat. (…) Das ist der Grund, warum die Autoritäten sich so fürchten und mit zunehmender Gewalt und Irrationalität reagieren…“ Artikel von Oleg Yasinsky, Santiago de Chile, vom 8.4.2021 in pressenza externer Link in der Übersetzung aus dem Englischen durch Jonas Jancke. Siehe zum Thema:

  • Ernüchternde Bilanz vier Jahre nach der sozialen Revolte in Chile New
    Vier Jahre, nachdem Millionen Chilenen auf der Straße soziale Reformen einforderten, ist alles beim Alten. Die Verfassung schreiben rechte und ultrarechte Politiker und die Opfer der Polizeiübergriffe warten auf gerechte Entschädigung. Am 18. Oktober 2019 übersprangen Schüler die U-Bahneingänge, um gegen die Fahrpreiserhöhung von 30 Pesos zu protestieren. Sie lösten damit eine Protestwelle aus, wie sie Chile seit der Rückkehr zur Demokratie nicht gesehen hatte. Schnell ging es nicht länger nur um die Fahrpreise. Soziale Forderungen wie nach kostenloser Bildung und Gesundheitsfürsorge, sicheren Renten und erschwinglichem Wohnraum rückten in den Vordergrund und gipfelten in die Forderung nach einer neuen Verfassung. Darin sollten diese Rechte verankert und die Verfassung aus der Zeit der Diktatur unter Augusto Pinochet überwunden werden. Vier Jahre später ist nichts davon Wirklichkeit geworden und auf Chiles Straßen ist es still. Nur in Santiago kam es zu einigen kleinen, spontanen Demonstrationen, die die Polizei sehr schnell auflöste. (…)Während in der ersten verfassungsgebenden Versammlung die indigenen Minderheiten und parteiunabhängige Personen aus allen sozialen Bereichen vertreten waren, wurden jetzt nur Vertreter der im Parlament vertretenen Parteien zugelassen. Da bei der Wahl der Vertreter Wahlpflicht bestand, konnten sich rechte und ultrarechte Parteien nach einem aufwendigen und rechtspopulistischen Wahlkampf eine Dreiviertelmehrheit sichern und bestimmen heute den Inhalt des Verfassungsentwurfes, der Anfang Dezember zur Abstimmung kommt. In den Medien werden die damaligen Ereignisse kaum kommentiert. (…)
    Während der Proteste kam es zu massiven Polizeiübergriffen mit schwerwiegenden Folgen. Amnesty International (AI) kritisiert, dass von den 10.568 klagenden Betroffenen nur wenige eine Wiedergutmachung erstreiten konnten. Laut Regierungsangaben bekommen 418 Geschädigte eine lebenslange Rente. Im höchsten Fall, etwa beim bleibenden Verlust des Augenlichtes, sind es jedoch nur 516.000 Pesos, etwas mehr als der gesetzliche Mindestlohn. Auf der Ebene der Strafverfolgung wurden gerade einmal 27 Uniformierte wegen Gewaltanwendung verurteilt…“ Beitrag von Michael Roth vom 21.10.2023 bei amerika21 externer Link

  • Chile am Jahrestag der Revolte vom 18. Oktober 2019: Tausende Menschen gingen auf die Straße. Mitte-links Regierung geht auf Distanz und schickt Carabineros 
    In den Medien dominiert die Darstellung von Gewalt (…) Nur wenige tausend Menschen trafen nach stundenlangen Straßenkämpfen mit der Polizei auf dem Platz ein. Es wurde gefeiert und demonstriert. Unweit des Platzes kam es in unmittelbarer Präsenz der Bereitschaftspolizei zu einzelnen Plünderungen. Auch in anderen Städten gingen die Menschen auf die Straße. In der Nacht gab es dezentrale Kundgebungen und Gedenkveranstaltungen. Am Ende des Tages zog der Subsekretär des Inneren, Manuel Monsalve, Bilanz: „Ungefähr 700 Personen sind auf die Straße gegangen, nicht um an etwas zu erinnern, nicht um für irgendetwas zu kämpfen, sondern um Straftaten zu begehen“, sagte er vor versammelten Medien. Insgesamt sollen im ganzen Land 195 Personen festgenommen worden sein. Die Regierung hatte 25.000 Carabineros im Land gegen die Proteste eingesetzt.
    Noch am Vormittag hielt Präsident Gabriel Boric eine Rede. Er erinnerte daran, dass am 18. Oktober die Menschen für mehr soziale Rechte auf die Straße gegangen und diese Forderungen zum Großteil bis heute nicht umgesetzt seien. Er unterstrich, dass es sich bei diesem Tag „weder um eine antikapitalistische Revolution, noch um eine Welle der Kriminalität“ gehandelt habe. Vielmehr sei es „ein Ausdruck der Schmerzen einer gebrochenen Gesellschaft“. Der 18. Oktober sei ein schmerzhafter Moment für die Menschenrechte gewesen. Die Polizei habe Grenzen überschritten und es sei zu unannehmbaren Gewalttaten gekommen. Diese Verbrechen dürfen sich nicht wiederholen und die Verantwortlichen müssten zur Rechenschaft gezogen werden, so Boric. (…)
    Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International kritisierte zum Jahrestag, dass eben diese Aufarbeitung bislang kaum vorangeschritten sei. Von mehr als 10.000 Klagen wegen Menschenrechtsverletzungen durch die Ordnungskräfte während der soziale Revolte sei es zu gerade einmal 16 Verurteilungen gekommen. Zudem dürften nicht nur jene belangt werden, „die den Abzug gedrückt“ sondern auch jene, die den Befehl gegeben hätten, so der Direktor von Amnesty in Chile, Rodrigo Bustos. (…) Die Senatorin und Überlebende von Polizeigewalt Fabiola Campillai forderte von Boric, die Gefangenen der Revolte per Präsidialbegnadigung aus freilassen. Derzeit sind um die 200 Personen wegen angeblicher Delikte während der Proteste in Haft. Menschenrechtsorganisationen kritisieren fadenscheinige Beweise und überzogene Strafen. Boric reagierte nicht auf die Forderung. Derweil dominiert in Chile die Geschichtsinterpretation der rechten Sektoren…“ Bericht von Malte Seiwerth, Santiago de Chile, am 20.10.2022 in amerika21 externer Link

    • Siehe unsere Dokumentation der Proteste in der Rubrik Soziale Konflikte in Chile (bitte scrollen, es waren 2019 sehr viele Berichte)
  • Reisebericht aus Chile: Revolution der Maulwürfe 
    „Mit der Wahl einer neuen Regierung und einem Verfassungskonvent ereignet sich eine umfassende Transformation. Woher kommen der Ungehorsam und die Mehrheiten für Veränderung? Erster Teil eines Reiseberichts.
    Eigentlich stand die Organisation CODEPU im Jahr 2019 kurz davor, ihre Arbeit einzustellen und sich nur noch als Archiv des langen und verloren geglaubten Kampfes um die Aufarbeitung von Menschenrechtsverletzungen zu verstehen. Doch dann klingelte es. Eine Ärztin sei zu ihnen ins Büro gekommen und habe eine Behandlungsliege mitgebracht, erzählt Geschäftsführer Raúl Flores, Journalist und Überlebender der Diktatur. Von nun an war an Aufhören nicht zu denken und in den Archivräumen begann die Geschichte von vorne. Flores lächelt, wenn er von dieser Zeit erzählt. Überhaupt hat der Mann in den sechziger Lebensjahren ein überaus freundliches Gesicht, wie alle hier bei dem Wiedersehen mit medico, einer Organisation, mit der manche schon in Zeiten der Militärdiktatur zusammengearbeitet haben. Am Paseo Bulnes in Santiago de Chile, in der hintersten Ecke des fünften Stocks eines Bürogebäudes, liegen die bescheidenen Räumlichkeiten von CODEPU. Der Paseo Bulnes, benannt nach einem chilenischen Präsidenten des 19. Jahrhunderts, ist einer dieser traditionellen Boulevards für Fußgänger, die vom Aufstreben der lateinamerikanischen Städte in der Zeit des Zweiten Weltkrieges künden. Städte, die eben nicht aus kleinen Dörfern und Handelszentren über Jahrhunderte entstanden sind, sondern seit ihrer Gründung die Moderne in kolonialer Ausprägung in sich tragen. Der Paseo läuft auf die Moneda zu, die während des Militärputsches 1973 mit Raketen beschossen wurde, wo Salvador Allende starb und in die in wenigen Tagen nach unserem Besuch bei CODEPU der neu gewählte Präsident Gabriel Boric mit seinem Kabinett aus 14 Ministerinnen und 10 Ministern einziehen wird. (…) Heute begleitet CODEPU etwa 200 Klagen, u.a. eine Klage gegen die oberste Führung der Carabineros – der chilenischen Militärpolizei. Sie wird zum Beispiel dafür verantwortlich gemacht, dass mindestens 395 Menschen schwere Augenverletzungen durch Tränengasgranaten oder Gummigeschosse erlitten haben. Die Neugründung der Carabineros, ihre Verwandlung in eine zivile und zivilisierte Polizei, ist eine der wichtigsten Aufgaben der neuen Regierung und eine Altlast der offiziell abgeschafften, doch nie wirklich zu Ende gegangenen politischen Tradition der Diktatur. Gerade die junge Generation will das nicht mehr hinnehmen. Bereits im Jahr 2011 veranstalteten protestierende Studierende, deren wichtigste Repräsentant:innen heute fast alle der Regierung angehören, einen Besotón, einen Kussmarathon unter Wasserwerfern mit der Losung „Wir haben keine Angst“. 2019 führte die Primera Linea, ausgerüstet mit Schutzmasken und Helmen, einen regelrechten Straßenkampf gegen die Polizei, die den Ruf eines politischen Feindes hat. Und das zu Recht: Denn die Carabineros und die Militärs führen seit fast 50 Jahren einen Krieg gegen einen „inneren Feind“. (…) Einen Tag nach Putins Überfall auf die Ukraine sind wir nach Chile gereist. Wir haben ein Land angetroffen, in dem für alle, mit denen wir sprachen, Politik wie ein Lebenselixier betrieben wird. Hier ist man und frau Mitglied, und zwar nicht Mitglied in einer Partei, sondern Mitglied in einer von vielen Bewegungen, die seit vielen Jahren, wenn nicht Jahrzehnten um einen anderen politischen Entwurf des Landes ringen und das auch weiterhin tun werden. An einen „Marsch durch die Institutionen“ scheint nicht nur in Araucanía niemand zu glauben. Wunderwerke erwartet niemand – und in Aussicht stellt sie auch niemand. Vielmehr sind die politischen Mehrheiten, die es nach dem Estallido Social für eine neue Verfassung und für eine neue Regierung gab, ein weiterer Schritt, um auch auf der Ebene der Institutionen die längst angebrochene Transformation weiterzutreiben. Ein langer Marsch, nun auch mit den Institutionen. Eine Insel gut begründeter Hoffnung, für uns alle.“ Reisebericht von Mario Neumann und Katja Maurer vom 29. März 2022 bei medico international externer Link
  • Die Rolle der Frauen und Queers in der chilenischen Rebellion 
    „… Ich werde über die Rebellion in Chile 2019 reden, warum sie so plötzlich ausbrach und wie sie ihre Kraft entfaltet hat. Die Frauenbewegung beziehe ich als zentrale Akteurin in die Überlegungen ein, denn es wäre sehr schwierig, den Klassenkampf in Chile als ein von der Frauenbewegung losgelöstes Phänomen zu betrachten. (…) Ende 2018 ermordete der chilenische Staat den Mapuche-Führer Camilo Catrillanca, was zu landesweiten Protesten führte und die zweite Piñera-Regierung schwächte. Die Bewegung der Frauen und Queers unter der Führung der Coordinadora Feminista 8 de marzo nahm die Forderungen der arbeitenden Frauen, der Mapuche und der Migrant:innen in ihr Programm auf. Der Frauenstreik am 8. März 2019 war im ganzen Land massiv. Mitte 2019 gingen Lehrkräfte und Beschäftigte im Bildungswesen erneut auf die Straße, um zu kämpfen. In diesem Kampf war die Geschlechterfrage nicht nur wegen der weiblichen Zusammensetzung des Bildungssektors präsent: eine der Hauptforderungen der Mobilisierung betraf das Lohngefälle zwischen Männern und Frauen. Auch die Schüler:innen der Sekundarstufe mobilisierten gegen das „Gesetz über den sicheren Klassenraum“, mit dem Jugendliche kriminalisiert werden sollten. Die Rebellion hat die Frauen, die Arbeiter:innen und die armen Massen in den Kampf einbezogen, genauso aber auch eine härtere, lautstarke Rechte aktiviert. Die Migrationskrise und die Krise in Wallmapu (dort hatte das chilenische Militär indigene Aktivist:innen des Volkes der Mapuche angegriffen und eine Person ermordet, A.d.Ü.) bringen diese Sektoren zum Ausdruck: Der Aufstieg des Rechtsextremisten José Antonio Kast in den Umfragen ist beunruhigend. In Zeiten sich verschärfender Widersprüche ist unsere Macht die Politik des Notwendigen, nicht das Elend des Möglichen. Wir von Brot und Rosen schlagen vor, die soziale Kraft der Arbeiter:innenklasse und ihrer strategischen Sektoren zu fördern, um die Säulen des kapitalistischen, patriarchalen und rassistischen Staates zu bekämpfen. Wir bleiben nicht stehen. Wir haben das Recht, uns einen Horizont des Sieges zu setzen, um diesem System der Unterdrückung und Ausbeutung ein Ende zu setzen, auf der Suche nach einer neuen Welt.“ Vortrag von Alejandra Decap in der Übersetzung von Marius Rautenberg bei Klasse gegen Klasse am 20. Dezember 2021 externer Link (Dieser Vortrag wurde auf dem Podium „Strategien in einer Welt in der Krise“ im Rahmen der IV. internationalen Marxismus-Feminismus-Konferenz vom 11. bis 13. November 2021 gehalten)
  • UN-Report deckt schwere Menschenrechtsverletzungen während Protesten in Chile auf
    Das Büro des Hochkommissariats der Vereinten Nationen für Menschenrechte (OHCHR) hat einen zweiten, abschließenden Bericht externer Link zu den Menschenrechtsverletzungen vorgelegt, die in Chile während der sozialen Unruhen seit Oktober 2019 begangen wurden. Auf der einen Seite gesteht der Bericht zu, dass der Einsatz nicht-tödlicher Waffen wie Gummigeschosse, die zu schweren Augenverletzungen und Erblindungen geführt haben, zurückgegangen ist. Weiterhin würden aber ohne Rechtfertigung und unter Umgehung des Prinzips der Verhältnismäßigkeit Tränengasgranaten aus Gewehren oder von Hand direkt auf Körper und Köpfe von Demonstranten abgefeuert. (…) Der Bericht bemängelt auch, dass nach zwei Jahren immer noch dutzende Menschen, meist Jugendliche, ohne Anklage in Untersuchungshaft sitzen, was einer Verurteilung gleichkommt. Ihre Haftsituation ist besonders hart, weil der Staat in vielen Fällen das Antiterrorgesetz anwendet und so, neben vielen anderen Schikanen, zum Beispiel das Besuchsrecht einschränkt. Die massiven sozialen Proteste haben in Chile zur Einrichtung der Verfassungsgebenden Versammlung geführt. Aber Hunderte, wenn nicht Tausende Demonstranten haben dafür teuer bezahlt, manche mit dem Leben, andere mit bleibenden Schäden.“ Artikel von Michael Roth vom 29.10.2021 bei amerika21 externer Link
  • Proteste in Chile erinnern an zweiten Jahrestag des sozialen Aufstands
    „In ganz Chile ist mit Demonstrationen und politischen Aktionen an den Beginn des sozialen Aufstands, des „estallido social“, am 18. Oktober 2019 erinnert worden. Zehntausende nahmen nach Angaben der Polizei an den Protesten teil, die mehrheitlich friedlich verliefen. Der Aufstand entzündete sich an der Erhöhung der Fahrpreise für die Metro und fand seinen Höhepunkt am 25. Oktober 2019, als 1,5 Millionen Menschen allein in der Hauptstadt Santiago gegen die rechte Regierung und das neoliberale Wirtschaftssystem demonstrierten. Wie schon 2019 gingen vor allem junge Menschen auf die Straße, um ihren Unmut über die Politik des Präsidenten Sebastián Piñera Luft zu machen. Verschiedene soziale Bewegungen, wie die Bewegung zur Reform des Rentensystems, die Kampagne gegen die Privatisierung des Wassers oder feministische Gruppen, hatten zu den Protesten aufgerufen, auch linke Parteien und Gewerkschaften schlossen sich an. Zahlreiche Plakate und Transparente zeigten das Motto: „Der einzige Weg ist, dem Beispiel des Oktobers zu folgen.“ Nach offiziellen Angaben gab es zwei tote Demonstranten und 450 Festnahmen im Zusammenhang mit den jüngsten Protesten. Menschenrechtsorganisationen beklagen schon seit Beginn des Aufstands die übermäßige Anwendung von Gewalt durch Sicherheitskräfte, die mindestens 34 Menschen das Leben gekostet hat. (…) Am vergangenen Montag hat die Erarbeitung der neuen Verfassung durch den Verfassungskonvent angefangen. Dieser Prozess soll bis 2022 andauern. In einem Referendum soll die Bevölkerung dann über die Änderungen abstimmen. Damit könnte die aktuelle Verfassung, die noch aus Zeiten der Militärdiktatur von Augusto Pinochet stammt, bald Geschichte sein.“ Beitrag von Robert Kohl Parra vom 28. Oktober 2021 bei amerika21 externer Link
  • Chile kämpft weiter. Zwei Jahre nach Ausbruch der sozialen Revolte: Zehntausende auf der Straße, Verfassungskonvent nimmt Arbeit auf
    Das Signal ist deutlich: Auch auf den Tag genau zwei Jahre nach Beginn der »sozialen Revolte« ist die Protestbewegung in Chile quicklebendig. Das zeigten am Montag (Ortszeit) einmal mehr Zehntausende, die sich landesweit an 50 Orten zu Demonstrationen versammelten. Allein in der Hauptstadt Santiago demonstrierten laut üblicherweise zu niedriger Polizeischätzung 10.000 Menschen unter dem Motto »Der einzige Weg nach vorne ist das Beispiel vom Oktober«. Neben der raschen Ausarbeitung einer neuen Verfassung forderten sie die Freilassung der noch immer zu Hunderten inhaftierten politischen Gefangenen. Auch am Montag versuchte die Regierung, Stärke zu zeigen. Laut Medienberichten waren 5.000 Polizisten im Einsatz, mit Tränengas und Wasserwerfern gingen sie gegen Demonstrierende vor. Trotz der starken Polizeipräsenz kam es teilweise zu Auseinandersetzungen zwischen Protestierenden und den Einsatzkräften. Laut der spanischen Nachrichtenagentur Efe starben zwei Personen, rund 450 Menschen wurden festgenommen. Der 18. Oktober 2019 gilt als die Geburtsstunde der Revolte, die Chile wie kein anderes Ereignis seit dem offiziellen Ende der Militärdiktatur unter Augusto Pinochet (1973–1990) verändert hat...“ Artikel von Frederic Schnatterer in der jungen Welt vom 20.10.2021 externer Link
  • Kampf um soziale Gerechtigkeit in Chile: Demos zum 2. Jahrestag der Proteste
    Die vor zwei Jahren geforderte Versammlung zur Ausarbeitung einer neuen Verfassung ist gestartet. Die Proteste gegen Piñera dauern an. In Chile haben am Montag landesweit zehntausende Menschen mit zahlreichen Kundgebungen und Protestversammlungen an den Beginn der sozialen Revolte vor zwei Jahren erinnert. In der Hauptstadt Santiago waren die Menschen auf der Plaza Italia zusammengekommen, dem traditionellen Versammlungsort für politische und soziale Proteste. In Sprechchören forderten sie unter anderem die Absetzung von Präsident Sebastián Piñera, der für die damaligen brutalen Übergriffe der uniformierten Einsatzkräfte mitverantwortlich gemacht wird. Mehrfach kam es auch diesmal wieder zu Rangeleien zwischen Protestierenden und uniformierten Einsatzkräften. Einige Geschäfte wurden geplündert, vereinzelt Barrikaden errichtet. Die befürchteten großen Auseinandersetzungen blieben jedoch aus…“ Artikel von Jürgen Vogt vom 19.10.2021 in der taz online externer Link

    • Was für Bilder aus #Santiago de #Chile am zweiten Jahrestag der Revolte in #Chile.  Die Pinochet Verfassung ist Geschichte, aber keiner der Toten, Verletzten und Gefangenen ist vergessen und vergeben. Es wird weitergehen…“ Tweet von @JohnnyKreuzberg vom 19.10.21 externer Link mit Video aus Santiago
  • [18. Oktober 2021, zweiter Jahrestag des Beginns der Oktoberrevolte] Der Feminismus als Taktgeber der Revolte in Chile 
    Das neoliberale Staatsmodell in Chile gerät zunehmenend ins Wanken, daran können auch die Menschenrechtsverletzungen durch die Regierung nichts ändern. Massgeblich dazu beigetragen hat die feministische Bewegung – vereint unter der Dachorganisation Coordinadora Feminista 8M. Gastautorin Karina Nohales über die Erfolge und Herausforderungen dieses Kampfes.
    Am 18. Oktober 2021, dem zweiten Jahrestag des Beginns der Oktoberrevolte in Chile, debattiert der Verfassungskonvent zum ersten Mal über den Inhalt der neuen Verfassung. Im Herzen der Veränderungen sind Perspektiven der Plurinationalität, der Ökologie und des Feminismus. Es ist der erste verfassungsgebende Prozess weltweit, in dessen zentralem Organ gleich viele Männer und Frauen sitzen, und die erste Institution des Landes mit Quoten für die indigenen Völker. Auch wir, die Coordinadora feminista 8M, sind mit der Delegierten Alondra Carillo im Konvent vertreten. Sie wird in der Arbeitskommission 1 über die zukünftige Staats- und Regierungsform Chiles debattieren und erste Vorlagen an den Konvent zur Abstimmung übergeben. Für uns als soziale Bewegung ist das eine enorme Herausforderung. Bislang waren wir darauf konzentriert, soziale Forderungen aufzustellen, heute sind wir daran beteiligt, den Kern des zukünftigen politischen Systems neu zu definieren. In diesem Prozess werden die historisch ausgeschlossenen Gruppen eine Stimme erhalten, Initiativen aufstellen und über wichtige Themen wie Grundrechte und politische Teilnahme entscheiden können. In einem Klima der politischen Polarisierung werden die politischen Kräfte von unten eine der kraftvollsten Sprüche der Revolte wahr machen müssen: „Der Neoliberalismus wurde in Chile geboren und wird in Chile sterben.“ Wie ist es dazu gekommen? (…) Die Repression ist Teil des Alltags geworden und scheint die einzige Form zu sein, in der die Regierung auf soziale Forderungen reagiert. Mit historisch tiefen Zustimmungswerten erwartet den Präsidenten derzeit eine Verfassungsklage vonseiten des Parlaments, nachdem die Pandora Papers Korruptionsvorwürfe gegen ihn bekannt machten und die Staatsanwaltschaft angekündigt hat, zu ermitteln. Am 21. November finden die entscheidenden Präsidentschaftswahlen für die Zukunft des Landes statt. Während auf der linken Seite der ehemalige Studierendenführer Gabriel Boric gute Chancen hat, gewählt zu werden, versammelt sich die politische Rechte um den Neofaschisten José Antonio Kast. Der Sohn von Nazis, die nach dem Zweiten Weltkrieg vor der Justiz der Alliierten nach Chile flohen, hat zwar keine realistischen Erfolgsaussichten, aber wird nach der Wahl wohl eine Führungsposition in der politischen Rechten übernehmen und mit seinen antidemokratischen Vorstellungen die linken Kräfte vor einige Herausforderungen stellen.“ Artikel von Karina Nohales vom 18.10.2021 bei daslamm.ch externer Link, siehe zur Lage zuletzt am 14.10.: Regierung in Chile schickt erneut Militär in Mapuche-Gebiet – Ausnahmezustand in drei Provinzen des Wallmapu verhängt
  • Diskussion um „politische Gefangene“ neu entfacht. Mutmaßlich aus politischen Gründen Inhaftierte werden in Chile zum Politikum. Linke fordern sofortige Freilassung. Fabrik aus Protest besetzt 
    Noch immer befinden sich zahlreiche Protestierende der großen Revolte 2019 in Haft. Vergangenen Donnerstag führten Familienangehörige und politische Aktivist:innen deshalb eine symbolische Besetzung eines alten Industriegeländes bei Santiago durch, um für die Freilassung der ihres Erachtens „politischen Gefangenen“ zu protestieren. Es ist nicht die einzige Aktion in diesem Zusammenhang: Seit Tagen finden im ganzem Land Solidaritätsbekundungen statt. Auftrieb bekam die Diskussion, nachdem nach der Wahl der verfassungsgebenden Versammlung am 16. Mai die „Lista del Pueblo“ (LP/Liste des Volkes) verkündete, sie würden ohne die Freilassung der politischen Gefangenen nicht beginnen, die neue Verfassung zu schreiben. Camila Zarate, Mitglied des Verfassungskonvent und der LP, sagt, „es wäre unethisch und ein Verrat, diejenigen zu vergessen, die es ermöglichten, dass wir heute eine neue Verfassung schreiben“. Gleichzeitig wird derzeit in beiden Parlamentskammern über ein Gesetzesprojekt diskutiert, welches die meisten Gefangenen aus der sozialen Revolte freilassen soll. Innerhalb der Opposition genießt das Projekt allgemeinen Zuspruch, während die Regierung die These der politischen Gefangenen zurückweist…“ Artikel von Malte Seiwerth, Santiago de Chile, vom 29.06.2021 bei amerika21 externer Link

  • Was wurde aus der Revolte in Chile? 
    Pandemie, Verfassung, Repression – 2019 wurde Chile von einer landesweiten Revolte gegen die neoliberalen und autoritären Zustände im Land erfasst. (…) Die sogenannte «Coronavirus-Krise» in Chile ist in einen breiteren Krisenprozess innerhalb der historischen Entwicklung des globalisierten Kapitalismus eingebettet. Letzterer gerät zunehmend an interne Grenzen: Verknappung der lebendigen Arbeit und damit Entwertung des Wertes. Aber auch an externe: Wachsende Bedrohung durch den Klimawandel, Artensterben, Erschöpfung von Ressourcen wie Süsswasser und die Gefahr eines ökologischen Zusammenbruchs. All diese Faktoren haben sich in Chile durch die Pandemie weiter verschärft: Massenarbeitslosigkeit, eine riesige Anzahl Menschen – schätzungsweise 30 % der Bevölkerung – die durch informelle Arbeit oder als Strassenverkäufer:innen überleben, Verschlimmerung der anhaltenden Dürre aufgrund des zunehmenden Drucks, den die Infrastruktur der kapitalistischen Verwüstung auf das Land und den Grundwasserspiegel ausübt, weil das Exportvolumen erhöht werden muss und auch ein psychologischer Zusammenbruch der Bevölkerung durch langes Eingesperrtsein unter immer härteren Überlebensbedingungen (bereits vor dem Aufstand gab es eine hohe Depressions- und Stressrate). Andererseits gingen die nötigen Bewegungseinschränkungen, um die Ausbreitung des Virus zu verhindern mit Ausgangssperren, Überwachung und repressiven Kontrollmassnahmen einher. Es kommt zu einer Verschmelzung zwischen Ausnahmezustand und Normalität. Die soziale Gewalt nimmt in allen Bereichen des alltäglichen Lebens kontinuierlich zu und es ist eine autoritäre Aufrüstung der Demokratie auszumachen. Zur Zeit ist zudem ein Aufschwung der organisierten Kriminalität und des Drogenhandels zu beobachten und es gibt sogar eine öffentlich bekannte Beziehung zwischen kriminellen Organisationen und aktiven Mitgliedern der Carabineros de Chile (so wird die Polizei in Chile genannt, Anm. d. Ü), der PDI (Kriminalpolizei, Anm. d. Ü.) und der Armee. Chile folgt damit dem globalen Trend dieser Krise, in der die Grenze zwischen Gesetz und Verbrechen verschwimmt, so dass die Trennlinie zwischen Staat und Mafia praktisch nicht mehr erkennbar ist…“ Interview von M. Lautrèamont und Ernesto Kessler vom 6. Juni 2021 beim untergrundblättle mit der Gruppe «Vamos hacia la vida»externer Link (Auf in Richtung Leben) aus Santiago de Chile zur aktuellen politischen Lage in Chile

Siehe auch unser Dossier: Nach der Volksabstimmung in Chile: Winkt den Pinochet-Erben endlich der „Müllhaufen der Geschichte“ durch eine neue Verfassung?

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=188995
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