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Für die Straße oder für das System – wer bestimmt den Prozess einer verfassungsgebenden Versammlung in Chile?

Die Primera Linea in Chile steht weiterhin fest - auch im Februar 2020Am 26. April 2020 soll in Chile gewählt werden: Für eine verfassungsgebende Versammlung. So hat es die Rechtsregierung mitsamt ihren politischen Verbündeten aus der Opposition bestimmt. Inklusive, versteht sich, die Bedingungen, unter denen diese Wahl stattfinden soll. Innerhalb der massenhaften Demokratiebewegung, die das Land seit Monaten endlich in Bewegung gesetzt hat – auf dem Weg zur Überwindung des Erbes der faschistisch-neoliberalen Pinochet-Diktatur, das seit 30 Jahren auf den Menschen lastet – führt dies zu wachsenden Debatten, wie man sich zum „26. April“ verhalten soll. Nicht sehr intensiv bei den Hunderttausenden junger Menschen, die in der ganzen Zeit „die Straße“ verkörpern – dafür weitaus mehr bei der eher traditionellen Opposition, einschließlich linker Parteien, Gewerkschaften und sozialen Organisationen. Während eine Strömung vertritt, eine neue Verfassung, demokratischer als die bisherige, sei sozusagen das Maximum des Erreichbaren, weswegen man sich an dieser Wahl unbedingt (oder auch zögernd) beteiligen müsse, wird dem entgegen gehalten, dass es, wie sie auch immer aussehe, eine Verfassung sein werde, die von den Bedingungen und den Akteuren des Regimes bestimmt würde, demnach rundweg abzulehnen. Und während also „die Straße“ weiter massiven Druck macht, gerät diese Strömung der Opposition unter diesen Druck – von allen Seiten. Siehe dazu unsere aktuelle kommentierte Materialsammlung „Für die Straße oder für das System – eine verfassungsgebende Versammlung in Chile“ vom 09. Februar 2020 mit Beiträgen zur Debatte um das Verhalten zum „26.April“ sowie zu Bedingungen des Widerstandes, seiner Ausweitung – und den Reaktionen der Profitteure des Systems

„Für die Straße oder für das System –
eine verfassungsgebende Versammlung in Chile“

„Protestbewegung in Chile: Noch lange nicht vorbei“ von Susanne Brust am 07. Februar 2020 bei amerika21.de externer Link zum aktuellen „Stand der Dinge“ unter anderem: „… Wie jeden Freitag versammeln sich die Menschen auch am 17. Januar wieder am von ihnen umbenannten „Platz der Würde“ im Zentrum von Santiago. Diesmal aber, am Tag vor dem vierteljährigen Bestehen der Proteste, füllt sich der Platz schneller als in den vorangegangenen Wochen. Unter tosendem Jubel zieht die reparierte, riesige schwarze Pappfigur des Hundes Matapacos, langjähriges Symbol der Proteste gegen das neoliberale System in Chile, durch die Menge zurück auf ihren ursprünglichen Platz – eine Woche zuvor hatten Unbekannte die Figur dort wieder einmal beschädigt. Tausende Demonstrierende verfolgen Livemusik – ein Rage Against The Machine-Protestcover der Band Arauco Rock – und die Tanzperformance des feministischen Kollektivs Capuchas Salvajes. Nachrichten über Demonstrationen in anderen Städten des Landes, wie Concepción und Antofagasta, machen die Runde. „Ich bin zur Demo gekommen, weil ich all das, was im Land passiert, unterstützen möchte“, erzählt die gerade einmal 12-jährige Matilde. Seit drei Monaten versammeln sich jüngere wie ältere Menschen zu Demonstrationen, klopfen auf ihre Töpfe, tanzen, machen Musik, rufen und schwenken ihre Forderungen nach tiefgreifendem Wandel auf riesigen Transparenten durch die Städte. Ihre Forderungen sind seit dem sogenannten estallido social, dem „gesellschaftlichen Knall“ Mitte Oktober, präsent. Jeden Freitag gibt es Demonstrationen in Santiago. Jeden Freitag ist auch die primera línea (erste Reihe) da, schützt die Demonstration so gut wie möglich vor der Repression der Carabineros und setzt sich dabei Wasserwerfern, (Tränen-) Gas, Gummigeschossen, Tritten und Schlägen aus. Während sich die Proteste seit einigen Wochen vor allem in Santiago abspielten, sorgten die Schüler Anfang des Jahres für ein neues landesweites Anfachen der Proteste: In 160 Schulen boykottierten sie die Zulassungstests für die Universitäten (kurz PSU), besetzten Schulen, blockierten die Eingänge mit Demonstrationen, verbreiteten Fotos der Prüfungspapiere über soziale Netzwerke oder stellten ihre Klassenzimmer während der Prüfungen auf den Kopf. Am 6. und 7. Januar hätten 300.000 Schüler die Tests ablegen sollen. Diese sind umstritten, weil sie, so die Begründung der Koordinierenden Versammlung der Sekundarschüler (ACES), die bestehenden Ungerechtigkeiten des chilenischen Bildungssystems noch verschärfen: Wessen Familie Geld hat und sich die entsprechende Schulbildung leisten kann, besteht und kann studieren; wer dagegen eine öffentliche Schule besucht: meist nicht. ACES rief auch für die Wiederholungstermine der PSU Ende Januar zu Demonstrationen auf und fordert von der Regierung die Entwicklung einer Ersatzlösung, die sich den Dynamiken des privatisierten Bildungssystems entgegenstellt…“

„30 Pesos, 30 Jahre“ von Francesca Borri am 05. Februar 2020 in der taz online externer Link über die Autoren der Misere und ihre Verteidigungslinie: „… Rolf Lüders, 85, kennt das heutige Chile genau. Er ist einer seiner Vordenker. Finanzminister unter Pinochet, einer der Chicago Boys – Studenten des seeligen Ökonomomieprofessors Milton Friedman. Die haben Chile in den 1970er Jahren zum Testlabor für seine Theorien gemacht, daran glaubend, dass der Markt alles von selbst regelt. Und dass er sich am besten entwickelt ohne staatliche Eingriffe. Ein halbes Jahrhundert später macht Rolf Lüders in seinem Büro in der Katholischen Universität noch die gleiche gute Figur. Und hat die gleichen Ideen. Weil die Statistiken, sagt er, jeden Zweifel ausräumen. „Wir sind die Besten.“ Chile hat ein Pro-Kopf-Einkommen von 25.798 Dollar. Das höchste in Südamerika. In den letzten Jahren sei nicht nur die Armut zurückgegangen, sagt er, auch die Ungleichheit. Was draußen passiere, habe nichts mit Ökonomie zu tun, sagt er. „Das Einkommen der ärmsten 10 Prozent der Bevölkerung ist um 145 Prozent gestiegen. Von 20.000 auf 50.000 Pesos. Während das Einkommen der reichsten 10 Prozent des Landes zwischen 2000 und 2015 nur um 30 Prozent zunahm. Das bedeutet: Die Ungleichheit ist geringer geworden.“ Aber, sagst du, das Einkommen der Reichsten stieg von 800.000 auf eine Million. „Das ist der Fehler“, sagt er, „dass auf diese 200.000 Pesos geguckt wird. Und dass gedacht wird, das ist mehr als 30.000. Wichtig ist doch, dass du nicht mehr so arm bist. Dass 50.000 mehr ist als 20.000. Ich meine, das ist doch eine Frage der Logik“, sagt er. „Der Mathematik.“ Er sagt: „Sie verstehen mich, right?“ „Das Wachstum in Chile war atemberaubend. Gerade hat es sich etwas verlangsamt. Und schon gehen alle auf die Straße. Aber unsere Wirtschaft funktio­niert. Natürlich muss es ein paar Anpassungen geben. Das Steuerregime. Das Kreditsystem. Unser Ziel war es, Wohlstand zu schaffen: Und das haben wir“, sagt er. Weil Armut das Problem sei. Nicht Ungleichheit. „Ungleichheit schafft Vergleichbarkeit. Und damit Verbesserungen. Das ist gut. Die Linken wollen, dass alle gleich sind. Wie in Kuba. Wo sie alle gleich sind: alle gleich hungrig.“…“

„Chile: Die tausenden Gefangenen des Aufstands“ von Regine Antiyuta am 07. Februar 2020 beim Lower Class Magazine externer Link über die Vorgehensweise des Regimes, wenn solche „Argumente“ wie zuvor angeführt, nicht wirken: „… Bis zum 30.1.2020 starben im Zuge der Proteste 31 Menschen; 3.746 wurden verwundet; 427 erlitten Verletzungen an den Augen und 268 wurden durch Tränengaskanister verletzt. 418 Fälle von Folter und 192 Fälle von sexualisierter Gewalt durch die Polizei wurden dokumentiert. Die Repression wird ausgeführt von den Agenten des Staates, die totale Straflosigkeit genießen. Mehr als lächerliche Urteile gibt es für ihre Verbrechen nicht. So muss Muricio Carillo, der kriminelle Bulle, der den Demonstranten Oscar Perez am 20. Dezember mit seinem Polizeitruck überfuhr, sich einmal mi Monat zum Unterschreiben melden – bis die 150 Tage der Ermittlung des Falles abgeschlossen sind. Carlos Martinez, der Cop, der am 28. Januar einen Fußballfan überfuhr und tötete, muss sich einmal im Monat für 90 Tage zum Unterschreiben melden.  Ganz anders sieht die Sache aus, wenn es um die Bestrafung der Kämpfer*innen der sozialen Revolte geht. Den meisten von ihnen droht schon im Vorfeld eines eventuellen Prozesses Haft. Diese Untersuchungshaft wird länger und länger, die Ausrede lautet stets, dass man mehr Zeit brauche, um richtig ermitteln zu können. Im Normalfall sollte der Gewahrsam nicht länger als 45 Tage dauern – dochsind die Behörden nicht willens das einzuhalten. Die Untersuchungshaft wird ausgedehnt, oft monatelang. In einigen Fällen könnten es Jahre der Einkerkerung ohne Prozess werden, wie das in der Vergangenheit in verschiedenen Fällen politischer Gefangener des Mapuche-Widerstands war. Im Knast und rund um die Ingewahrsamnahmen gibt es eine große Anzahl von Unregelmäßigkeiten. Vielen Demonstrant*innen wurden von der Polizei gefälschte Beweise untergeschoben. Eines der Opfer dieser Praxis ist Diego Ulloa, ein Student, der in den Demonstrationen die Aufgabe übernahm, Tränengas mit einer Mischung aus Wasser und Backpulver unschädlich zu machen. Am 3. Dezember wurde er verhaftet. Er leistete keinen Widerstand und wurde dennoch brutal zusammengeschlagen. Ihm wird vorgeworfen, Molotow-Cocktails transportiert zu haben. Die Cops schoben ihm „Beweise“ unter, nutzten auch seinen Wasserkanister, der zum Neutralisieren der Tränengasgranaten diente, als Beweis…“

„Sindicatos de Chile anuncian movilizaciones y una posible huelga nacional“ am 04. Februar 2020 bei IndustriAll externer Link berichtet von der Haltung des Gewerkschaftsbundes CUT (wie sie unter anderem auf dem gerade stattgefunden Gewerkschaftstag unterstrichen wurde) dass es darum gehe, an dem Prozess des 26. April beteiligt zu werden, ohne die Gewerkschaften und die sozialen Organisationen werde es, wie bisher, keine Antwort auf die Forderungen der breitesten Teile der Bevölkerung geben.

„Asamblea Popular de Barrio Norte denuncia la “farsa constituyente” de abril“ am 06. Februar 2020 bei Diario Venceremos externer Link ist eine der zahlreichen Stellungnahmen aus den Reihen der selbstorganisierten Stadtteilversammlungen zur „Verfassungswahl“ am 26. April. Die darin prinzipiell als Farce bezeichnet wird. Aus dem Pakt der Regierung mit den staatstragenden Parteien entstanden und nicht zu trennen von den gleichzeitig verabschiedeten sogenannten Sicherheitsgesetzen ist dies nach Auffassung der Asemblea eines Stadtteils von Concepcion ein Versuch, die Volksbewegung wieder unter die Knute des Systems zu zwingen, weswegen sie bekannt machen, dass sie diesen Prozess absolut boykottieren werden.

„Declaración Pública: Asambleas de Arica ante el ”Proceso constituyente” del 26 de Abril“ am 05. Februar 2020 beim Diario Venceremos externer Link ist die gemeinsame Erklärung der Versammlungen der Stadt Arica, in der auch ausdrücklich die verschiedenen Vorschläge, sich negativ an der Wahl vom 26. April zu beteiligen, kritisiert werden und unterstrichen wird, dass es lediglich die Haltung gebe, sich an dieser Farce nicht zu beteiligen.

„¡Viva la Primera Línea!: en marzo a profundizar el levantamiento para acabar con el régimen“ am 05. Februar 2020 bei Werken Rojo externer Link dokumentiert eine Stellungnahme aus der Bewegungszeitung El Porteno, in der die „Mesa de Unidad Social“ (zusammen gesetzt aus Gewerkschaften und sozialen Organisationen rund um den Gewerkschaftsbund CUT) kritisiert wird für ihren nach langem Schweigen ergangenen Aufruf, sich sozusagen alternativ an der Wahlfarce des 26. April zu beteiligen, indem man auf dem Wahlzettel deutlich machen soll, dass man für eine wirkliche verfassungsgebende Versammlung sei. Dagegen wird gehalten, dass eine wirklich demokratische Abstimmung ohnehin nur unter Bedingungen stattfinden könnte, die zumindest das Abtreten der Regierung als Voraussetzung beinhalten. Statt taktischer Überlegungen der einen oder anderen Art müsse es zunächst darum gehen, den Kampf gegen Pinera und seine Mordbanden in Uniform erfolgreich zu beenden.

„División en Unidad Social por Plebiscito Constituyente“ von Antonio Paez am 06. Februar 2020 bei La Izquierda Diario externer Link ist ein Beitrag des  Gewerkschaftssprechers der Betriebsgewerkschaft der Starbucks-Kette, der darauf hinweist, dass die Widersprüche innerhalb der Unidad Social zunehmend sichtbar werden, auch wenn sie noch nicht offen politisch ausgetragen werden. Die Stellungnahmen zum 26. April seien gegensätzlich, was aber bisher noch mit Argumenten wie „missverständlich“ versucht werde, bedeckt zu halten.

„Chile. Aportes para el debate sobre el alzamiento popular y la asamblea constituyente“ von Catalina Rojas am 07. Februar 2020 bei kaosenlared externer Link dokumentiert ist eine Stellungnahme der vor einigen Monaten gegründeten Klassengewerkschaftszentrale CCT in der vor allem unterstrichen wird, dass es innerhalb der gewerkschaftlich organisierten Beschäftigten und Erwerbslosen einen zunehmenden Kampf um die Orientierung gebe – bei der die CCT alle ihre Kräfte dafür einsetzen werde, die Einheit des Kampfes gegen die Wahlfarce des Regimes so stark wie möglich zu organisieren.

„Entre el neoliberalismo y la socialdemocracía o cómo caer del fuego a las brasas“ von Cristián Cepeda (Colectivo Chile Despertó) am 07. Februar 2020 bei Rebelion.org externer Link ist ein ausführlicher Beitrag eines der Kollektive von AktivistInnen, die sich im Verlaufe der Monate gebildet haben. Dabei wird davon ausgegangen, dass die Massenproteste der letzten Monate in Chile eine ganz neue Situation geschaffen haben, auf die das Bürgertum reagieren müsse. Was geschehe indem zum einen jene politischen und sozialen Fraktionen, die am meisten vom bisherigen System profitierten, immer hemmungsloser die Verteidigung um jeden Preis einforderten. Diesen Preis sollen selbstverständlich vor allem die Protestierenden bezahlen. Während die Strömungen um die Wahlverlierer von 2017 – also im wesentlichen die Sozialdemokratie – zurück gehen würden zu jenen „sozialen Positionen“, die sie zu Beginn der Nach-Diktaturzeit eingenommen hätten, also einen Block zu bilden mit Gewerkschaften, KP und der heutigen Frente Amplio, die die Regierung ändern wollen, aber nicht das System.

„Fussballfans schließen sich nach weiteren Toten in Chile zusammen“ von David Rojas-Kienzle am 07. Februar 2020 bei amerika21.de externer Link über spezielle Schichten, die sich den Protesten anschließen: „.. Für weitere Empörung sorgten zum einen die mittlerweile fast zur Normalität gewordene Gewalt gegen Demonstranten, zum anderen die Entscheidung der Justiz, den Polizisten, der Mora überfahren hat, auf freien Fuß zu setzen. Vor allem abfällige Äußerungen über organisierte Fußballfans der Untersuchungsrichterin, die den Fall bearbeitete, brachten die Demonstrationen auf. Neben tagtäglichen Demonstrationen, Plünderungen und Angriffen auf Polizeistationen kommt auch der Fußballbetrieb nicht zur Ruhe. Bei einem Platzsturm während eines Fußballspiels zeigten Vermummte ein Transparent auf dem stand: „Straßen voll mit Blut, Plätze ohne Fußball“. Bei mehreren Spielen der chilenischen Fußballiga kam es zu Ausschreitungen; ein Spiel musste unterbrochen werden, nachdem einzelne Spieler wegen des von der Polizei verschossenen Tränengases Atemprobleme bekamen. Die sogenannten „hinchas“, organisierte Fußballfans der verschiedenen Fußballvereine in Chile, vergleichbar mit den Ultras deutscher Stadien, haben sich im Laufe des Aufstandes immer wieder an den Protesten beteiligt…

„RADIO KVRRUF“ ist der Twitter-Kanal von Radio-AktivistInnen der Mapuche-Bewegung externer Link aus dessen Tweets deutlich wird, wie verschiedene gesellschaftliche Sektoren im Protest zusammenwachsen. Die Mapuche, seit langem – eigentlich fast schon immer – die vielleicht politisch profilierteste indigene Bewegung des ganzen Kontinents solidarisieren sich hier mit den Fußballfans gegen die Hetze der chilenischen Klassenjustiz.

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=162620
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