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Die Massenproteste in Chile gehen weiter – und werfen immer deutlicher die Frage auf: „Straße oder politische Vertretung“?

Millionendemonstration Santiago de Chile am 25.10.2019„… Kann die angekündigte „Verfassunggebende Versammlung“, die bei allen gutherzigen Rechtsfetischist*innen und Sozialdemokrat*innen so viel Begeisterung hervorruft, die Energien des Aufstands eindämmen und kanalisieren? Kann sie die Anarchie zähmen und in demokratische Bahnen lenken? Wir glauben, dass es nicht so einfach sein wird. Alles wird von der Art und Weise abhängen, wie wir ab heute die auf den Straßen spontan hervorgebrachte Gegenmacht organisieren und was für Ziele wir uns als Klasse/Spezies setzen. Und zwar außerhalb der Institutionen und gegen jegliche Form der „getrennten Macht“. Was uns auf jeden Fall klar ist, ist, dass die territorialen Vollversammlungen Strukturen sind, die seit dem 18. Oktober von der auf der Straße kämpfenden Gemeinschaft errichtet wurden. Dort ist unser Platz. Wir werden offen mit denen diskutieren müssen, die mehr oder weniger bewusst institutionelle und sozialdemokratische Positionen vertreten und sich bisher mehrheitlich für eine neue Verfassung ausgesprochen haben. Aber das ist noch nicht alles: Das größte Potenzial der territorialen Vollversammlungen, soweit sie ihre Autonomie gegenüber den Staat wahren können, liegt in den praktischen Aufgaben, die angegangen werden sollten (Selbstverteidigung, Ernährung, Kommunikation, Betreuung von Kindern und älteren Erwachsenen). Diese Strukturen mitsamt ihren praktischen Aufgaben müssten bis an ihre Grenzen ausgedehnt werden, um von ihnen aus die Kommunisierung voranzutreiben. Aus den territorialen Vollversammlungen können neue Formen sozialer Beziehungen entstehen, die die kapitalistischen sozialen Beziehungen überwinden und auf den Müllhaufen der Geschichte werfen. Es ist notwendig, dass sich alle territoriale Vollversammlung vernetzen und koordinieren…“ aus dem Diskussionsbeitrag „Verfassungsgebende Versammlung oder autonome Territorialversammlungen?“ am 20. Dezember 2019 bei Emrawi externer Link dokumentiert, der sich eben mit einer der bestehenden Grundfragen der Bewegung befasst. Siehe dazu drei weitere aktuelle Beiträge über die Auseinandersetzung zwischen „Straße und Repräsentation“, wobei sowohl AktivistInnen zu Wort kommen, als auch gewesene Repräsentanten der Bewegung, sowie einen Beitrag zur aktuellen Polizeihilfe der EU für die reaktionäre Regierung Chiles und den Hinweis auf den bisher letzten unserer zahlreichen Beiträge zu den Protesten in Chile (ein Erlebnisbericht):

  • „“Chile als Beispiel des sozialen Aufstands in Lateinamerika““ von Sophia Boddenberg am 19. Dezember 2019 beim Spiegel online externer Link lässt AktvistInnen der Volksversammlungen zu Wort kommen, die über ihre Erfahrungen und Meinungen unter anderem ausführen – hier eine Lehrerin aus Vicuna: „… Als der Ausnahmezustand ausgerufen wurde, haben wir uns auf dem Plaza in Vicuña getroffen, weil wir Angst hatten und wütend waren. Seitdem treffen wir uns jede Woche. Endlich haben wir die Möglichkeit eines Wandels. Das spüre ich in den Blicken der Menschen, in den Begrüßungen, in den Gesprächen. Ich habe so lange auf diesen Moment gewartet. Der Aufstand hat zwar in Santiago begonnen, aber sich sehr schnell aufs gesamte Land ausgebreitet. Hier im Elqui-Tal haben wir Probleme wegen der Monokulturen, der Pestizide und der Wasserverschmutzung. Hier werden vor allem Trauben angebaut. Viele Kinder haben Allergien und viele Plantagenarbeiter sind krebskrank. Hier auf dem Land gibt es außerdem viel Machismo, Gewalt gegen Frauen und Vergewaltigungen. Junge Mädchen werden mit alten Männern verheiratet. Deshalb haben wir auch eine feministische Asamblea gegründet. Die neue Verfassung ist eine Sache, aber wir brauchen einen gesellschaftlichen Wandel...“
  • „Von Chile lernen“ von Jakob Graf am 18. Dezember 2019 in neues deutschland online externer Link zum Thema „selber machen oder (bessere) Vertretung suchen“ unter anderem: „… Einen solchen Bruch mit dem Alltäglichen gab es im Oktober in Chile. Ein Land, das jahrelang dem Konsum frönte und in dem heute die meisten Privathaushalte hoch verschuldet sind. Doch damit ist nun Schluss. Nicht nur die U-Bahnhöfe in der Hauptstadt Santiago brannten im Oktober. Auch Supermärkte und Shoppingmalls gingen in Flammen auf. Bewusstsein ändert sich nicht allmählich – wie der italienische Kommunist Antonio Gramsci sagte -, sondern häufig in Sprüngen. Und mit einem derartigen Sprung waren plötzlich über eine Million Menschen auf den Straßen des lateinamerikanischen Landes, das kaum 18 Millionen Einwohner zählt. Dass so viele Bürger gegen den rechtskonservativen Präsidenten Sebastián Piñera auf die Straße gingen, kommt nicht aus dem Nichts. Das Land leidet unter einer ökologischen und sozialen Krise. Chile ist eines der vom Klimawandel weltweit am stärksten betroffenen Länder. Zudem sind die Kosten für Wohnen, Gesundheit und Bildung extrem hoch, Löhne und Renten aber niedrig. Seit Mitte der 2000er Jahre demonstrieren Schüler, Studierende und Rentner massenhaft auf den Straßen. Das Ausmaß der Proteste war so groß, dass der Präsident binnen weniger Stunden das Militär mit Gewehren und Panzern auf die Straße schickte. (…) Wir können von sozial-ökologischen Bewegungen wie der in Chile lernen. Nicht der Klimagipfel COP25, der dort dieses Jahr hätte stattfinden sollen, hat das südamerikanische Land mit seinen enormen Umweltzerstörungen umgekrempelt, sondern der Aufstand. Nicht von Staats wegen kam der Wandel, sondern von der Straße…“
  • „Auge y caída del Frente Amplio“ von Felipe Portales am 18. Dezember 2019 bei rebelion.org externer Link ist ein Beitrag, der einen anderen Aspekt dieser Debatte und Auseinandersetzung innerhalb der Bewegung behandelt: Aufstieg und Fall des linken Wahlbündnisses Frente Amplio, dessen Popularität durch die Selbstorganisation ohnehin im Absinken begriffen war – ein Prozess, der durch die Zustimmung von FA-Abgeordneten zu den diktatorischen neuen sogenannten Sicherheitsgesetzen Pineras massiv beschleunigt wurde…
  • „Europäische Repressionshilfe für chilenische Polizei“ am 19. Dezember 2019 beim NPLA externer Link berichtet von „der anderen Seite“: „… Im Zuge dieses Treffens wurde eine Reihe von Maßnahmen angekündigt, die die ‚öffentliche Ordnung‘ wiederherstellten sollten. Dazu zählt die professionelle Beratung durch europäische Polizeikräfte und ein Gesetzesentwurf, der den Militäreinsatz auf den Straßen Chiles erlaubt, „ohne dass der Ausnahmezustand ausgerufen werden muss“. Ausführungen des stellvertretenden Innenministers Rodrigo Ubilla zufolge sei das Ziel herauszufinden, wie in Konfliktsituationen mit hohem Gewaltanteil, besonders bei Demonstrationen mit Ausschreitungen, das Bewahren der öffentlichen Ordnung optimiert werden könne. Außerdem sei „eine Analyse des Vorgehens, der Taktiken und Strategien vorzunehmen, die derzeit bei der Kontrolle der öffentlichen Ordnung angewendet werden“. Ubilla fügte hinzu, dass diese Kooperation mithilfe der Unterstützung durch die Interamerikanische Entwicklungsbank BID (Banco Interamericano de Desarrollo) realisiert werden soll und die Möglichkeit bestünde, dass europäische Polizeikräfte spezielle Trainings für die chilenischen Spezialeinheiten abhalten könnten. Diese internationale Kooperation ist keineswegs überraschend. Im Falle von Frankreich klingt die Ankündigung wie eine schmerzhafte Erinnerung an die Geschichte: Als General Augusto Pinochet 1973 seine Diktatur errichtete, kamen französische Soldaten und zeigten den chilenischen Behörden die Techniken der Aufstandsbekämpfung, die sie während des Algerienkrieges (1954-1962) entwickelt hatten. Zudem trugen sie zur Stärkung der berühmten Geheimpolizei der chilenischen Diktatur bei, des Nationalen Geheimdienstes DINA (Dirección de Inteligencia Nacional). Hier ist zu erwähnen, dass die französischen Führungskräfte Pioniere in der Entwicklung von Strategien zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung sind und seit Jahrzehnten weltweit Polizeikräfte beraten. Frankreich zählt auch zu den größten Waffenexporteuren für die Niederschlagung von Massenprotesten. Kürzlich schickte das europäische Land Wasserwerfer an die Regierung von Hongkong, um die seit Juni anhaltenden regierungskritischen Demonstrationen zu bekämpfen…“
Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=159688
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