[Buch] Die Welt nach Corona. Von den Risiken des Kapitalismus, den Nebenwirkungen des Ausnahmezustands und der kommenden Gesellschaft

Buch: Die Welt nach Corona. Von den Risiken des Kapitalismus, den Nebenwirkungen des Ausnahmezustands und der kommenden GesellschaftAuch im Jahr zwei der Corona-Pandemie bestimmt das Virus in weiten Teilen der Welt die politische, ökonomische und gesellschaftliche Realität. Nicht weniger gravierend ist die von den Lockdowns ausgelöste Weltwirtschaftskrise. Dabei stellt sich die Situation sehr unterschiedlich dar: In manchen Ländern Asiens und Afrikas konnte das Virus erfolgreich gestoppt werden, oftmals zu einem hohen Preis. Europa und die USA versuchen die zweiten Infektionswellen mit massiven Notfallmaßnahmen unter Kontrolle zu bekommen, während in manchen Staaten Lateinamerikas COVID-19 nahezu unbegrenzt wütet. Zugleich wächst die Hoffnung, dass Impfstoffe den Anfang vom Ende der Pandemie einläuten könnten – auch wenn hier Zweifel angebracht sind, nicht nur, was deren globale Zugänglichkeit angeht. Sicher ist hingegen: »Welt nach Corona« wird sich tiefgreifend verändert haben. Die mehr als 50 Beiträge des Buches – das sich als pluralistischer, vielstimmiger Diskussionsband versteht – leuchten wichtige Facetten der Corona-Krise in vier thematischen Blöcken aus…“ Aus der Info des Verlags Bertz + Fischer zum vom D.F. Bertz herausgegebenen Sammelband, der im Januar 2021 erschienen ist. Siehe weitere Informationen zum Buch und die Rezension von Armin Kammrad für das LabourNet Germany – wir danken!

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„Die Welt nach Corona: Von den Risiken des Kapitalismus, den Nebenwirkungen des Ausnahmezustands
und der kommenden Gesellschaft“


Rezension von Armin Kammrad vom 5. April 2021

Mit diesem Titel erschien im Januar 2021 bei Bertz und Fischer Berlin ein von D. F. Bertz herausgegebenes voluminöses Taschenbuch mit Beiträgen von über 50 Autor*innen auf 732 Seiten zum Preis von 24 Euro. Niemand weiß, wie die Welt nach Corona (…), aussehen wird“, dämpft jedoch Bertz gleich am Anfang zu hohe Erwartungen aufgrund des Titels: „Es ist nicht mal klar, ob es eine Welt danach in absehbarer Zeit überhaupt geben wird“ (S.11). Während leider selbst früher eindeutig antikapitalistisch orientierte Linke gegenwärtig versuchen, den – bereits von rechts bekannten – Nachweis zu führen, dass das mit der Coronapandemie epidemiologisch und virologisch betrachtet, angeblich gar nicht so schlimm, sondern vor allem Propaganda sei[1], betont Bertz das, was besonders Mike Davis[2] und Rob Wallace[3] schon seit Jahren analysiert und vor dem sie gewarnt haben: Nämlich dass das Coronavirus ein Produkt der globalen kapitalistischen Ordnung“ ist (S.12). Bertz geht deshalb davon aus, dass „Nach der Pandemie (…) vor der Pandemie“ ist (S.13), wobei Covid-19 nur ein Aspekt der menschengemachten Bedrohungen sei, „begünstigt durch die kapitalistische Produktions- und Lebensweise. SARSCoV-2 ist an der Schnittstelle von Natur und Ökonomie entstanden“ – und ist sofern mit der Klimaproblematik eng verbunden, zumindest was den Systemzusammenhang betrifft, aber auch bezüglich der Fragen dieser Veröffentlichung, wie der nach einer linken Gegenposition zum von oben verordneten Ausnahmezustand.

Dieser Problematik widmet sich dann auch der erste Teil, „Ausnahmezustand & Gesundheitsnotstand“ (S.85-190), dieser vierteiligen Veröffentlichung. Trotz durchaus unterschiedlicher Betrachtungsweisen in den sieben Beiträgen, ist doch allen Autor*innen klar, dass eine linke staatsrechtliche Debatte nur realitätsbezogen geführt werden kann, also jegliches Leugnung der epidemiologischen und gesundheitlichen Gefahren unangebracht ist und in die Irre, wenn nicht gar in verschwörungstheoretische Gefilde, führt. So setzt sich zunächst Jens Kastner damit auseinander, warum Giorgio Agambens Philosophie vom Ausnahmezustand anbetracht der Pandemie „wenig hilfreich ist und was wir daraus lernen können“. Axel Gehring weist daraufhin, dass die verbreitete Vorstellung von einem „starken Corona-Staat“ ein Mythos ist. „Diese Debatte leidet leider noch immer und immer wieder unter Angst, Einseitigkeit und Konformitätsdruck, auch unter Diffamierung und Ausgrenzung“, stellt danach Rolf Gössner fest; er versucht mit „skeptischen Gedanken und zuspitzenden Thesen“ dazu beizutragen, „die komplexe und unübersichtliche Problematik einigermaßen in den Griff zu bekommen und bürgerrechtliche Orientierung zu bieten für eine offene und kontroverse Debatte.“ Denn bei „so viel Angst und seltener Eintracht sind Skepsis und kritisches Hinterfragen vermeintlicher Gewissheiten und autoritärer Verordnungen nicht nur angezeigt, sondern dringend geboten.“ Dem widmet sich auch die CILIP-Redaktion im Corona-Gespräch mit der Feststellung: »Politik wird diskutiert wie selten«, wobei ausführlich die gesamte Rechtssituation (inkl. des Infektionsschutzgesetzes) kritisch beleuchtet wird. Stephan Lessenich kritisiert schließlich noch den herrschenden „Corona-Nationalismus“, und Johannes Hauer beschäftigt sich mit der „Konjunktur militärischer Rhetorik und ihre Bedeutung“ in der Corona-Krise. Lia Becker und Alex Demirović geht es in ihren „kritischen Rückblick“ auf ein Jahr Corona vor allem um eine tragbare Alternative „zwischen Lockdown und Exit“.

Der zweite, thematisch sehr weitgefasste Teil ist mit „Corona-Kapitalismus & Sozialepidemiologie“ überschrieben (S.191-346). Hier werden auch die vielfältigen sozialen Aspekte angesprochen. So analysieren Silke van Dyk, Stefanie Graefe und Tine Haubner in „Das Überleben der »Anderen«“ die sehr widersprüchliche Situation der älteren Menschen in der Pandemie. „Die Corona-Krise, die Krankenhäuser und die Zukunft der Gesundheitsversorgung“ untersucht Julia Dück. Carolin Wiedemann beschäftigt sich unter der Überschrift „Nach der Pandemie: Smash Patriarchy. Jetzt erst recht“ mit der häuslichen und sonstigen Zunahme von Gewalt gegen Frauen (nicht nur in Deutschland); sie ist überzeugt: „In Krisenzeiten zeigen sich Probleme wie unter dem Brennglas“. Mit dem Slogan »Geld oder Leben« spitzt Sabine Nuss die besondere Verwundbarkeit der Eigentumslosen“ unter Shutdown-Bedingungen zu, während Thomas Sablowski unter der Überschrift Klassenkämpfe in der Corona-Krise“ die Auseinandersetzung um die wirtschaftspolitischen Maßnahmen der Bundesregierung“ problematisiert. Mit Asyl statt Corona“ untersucht Carolin Wiedemann die oft völlig vernachlässigte Pandemie-Situation in den Ankerzentren und Timo Stukenberg zeigt, wie sich das Gefängnis in der Corona-Krise selbst erhält – auf Kosten der Gefangenen“. Am „Beispiel Bayer“ kritisiert Jan Pehrke schließlich das Prinzip: „Profit first“ als typisch für „Big Pharma & das Virus“. Natascha Strobl kritisiert die „Rechtsextreme Antworten auf die Corona-Krise“, Ingar Solty und Velten Schäfer erklären wie „Verschwörungstheorien funktionieren, wann sie florieren – und wie man ihnen begegnet“. Theodor Schaarschmidt kritisiert anschließend die herrschende Propaganda vom „pandemischen Wir-Gefühl“ mit dem gegenteiligen Nachweis: „Das Virus wirkte an vielen Stellen wie ein Kontrastverstärker für bestehende Machtgefälle.“ Georg Seeßlen schließt mit Sex mit Mindestabstand – Liebe und Begehren in Zeiten der Pandemie“ den zweiten Teil stilvoll ab.

Der dritte Teil, „Globale Seuche & globale Krise“ (S.347-604), ist sehr umfangreichsten ausgefallen und enthält viele informative Leckerbissen zu Themen, die im national beschränkten Gesichtskreis oft völlig untergehen. Stephan Kaufmann und Antonella Muzzupappa beginnen den globalen Rundgang mit der Darstellung, wie ein Virus „die Weltwirtschaft ins Wanken“ bringt. Christian Stock zeigt wie sich in der Corona-Krise, z.B. in Kenia, Südafrika, Nigeria, Indien oder auf den Philippinen, „ein autoritärer Politikmodus“ brutal durchsetzt. Ramona Lenz kritisiert Grenzschutz statt Flüchtlingsschutz in Zeiten von Corona“. Ansonsten gibt es ausführliche länderbezogene Berichte und Analysen, beginnend mit Bernard Schmid zu Frankreich, Christian Bunke zu Großbritannien und Andrea Seliger zu Schweden, dem Land ohne Corona-Lockdown“. Jens Renner stellt das systematische Versagen von Regierung, Kapital und Politik in Italien dar, während für Carmela Negrete in Spanien ein harter Lockdown auf eine befangene Linke trifft, was dazu führt, dass sich viele Menschen „von Podemos wie von der Politik überhaupt enttäuscht“ abgewendeten. In Ungarn registriert Aert van Riel den für Orban typischen Demokratieabbau, nun mit dem Vorwand der Pandemie; aber auch in Russland spitzen sich für Lutz Brangsch die sozialen und wirtschaftlichen Widersprüche zu und wird die Pandemie für die Unternehmen – „seien sie private, staatliche oder kommunale“ – zu einer guten Gelegenheit für den Abbau von Sozial- und Arbeitsrechten. Und natürlich „trifft SARS-CoV-2 auch in der Türkei die Schwächsten“ und wird zum weiteren Mittel autoritärer Staatsführung, wie Alp Kayserilioğlu berichtet. Harald Etzbach stellt ein Jahr Corona-Pandemie in Syrien und Miriam Younes im Libanon dar. Für Asien berichtet Natalie Mayroth über den Umgang der hindu-nationalistischen Regierung in Indien mit der Pandemie, Marina Mai zeigt den Umgang damit in Vietnam, während Stefan Schmalz China eng in den globalen wirtschaftlichen Zusammenhang stellt mit der Folge, „dass sich der Konflikt zwischen den US und China weiter zuspitzt“. Was Afrika betrifft, zeigt zunächst Simone Schlindwein, wie „die Pandemie die Krisen auf dem Kontinent verstärkt“, wobei Demba Sanoh zeigt, dass und wie „COVID-19 das Bild Afrikas im Globalen Norden infrage stellt“; für Christian Selz ist Südafrika zu „arm für den Lockdown“. Für Lateinamerika verfolgen Otto König und Richard Detje den Weg von „der Corona- in die Wirtschaftskrise“ und sehen eine soziale „und gesundheitliche Zeitbombe“, was besonders Brasilien aufgrund neoliberale „Ideologie, religiöser Fanatismus und Antikommunismus“ einschließt, wie Niklas Franzen aufzeigt, während sich für Chile, wie Jakob Graf und Anna Landherr herausarbeiten, das interessante Problem eines „Volksaufstand[s] unter Ausgangssperre“ stellte. Den Abschluss des dritten Teils bildet Moritz Wichmann bezüglich USA und das „»China-Virus« in Trump-Country“.

Der vierte Teil geht mit „Neue Normalität & Post-Corona“ (S.605-712) nun tatsächlich abschließend etwas in die Richtung der ersten Aussage des Buchtitels, wobei sich zunächst Andreas Wulf mit dem aktuellem Problem des „Impfstoff-Nationalismus“ und „den Auseinandersetzungen über den Zugang zu COVID-19-Vakzinen“ beschäftigt. „Schlaglichter auf die Lage der Beschäftigten in »systemrelevanten Berufen«“ werfen Sebastian Friedrich und Nina Scholz in ihrem Beitrag „Klassenkämpfe während Corona – und Perspektiven für die Zeit danach“, während Lia Becker und Alex Demirović eine „Sozialistische Rationalität und solidarische Praxen“ als das betrachten, was „aus der Krise gelernt werden kann“ und sollte; ähnlich Ingar Solty, der darstellt, wie „aus dem Elend der Gegenwart eine neue, demokratischere, sozialere und ökologischere Produktions- und Lebensweise entstehen könnte“. Nicole Mayer-Ahuja ist der Ansicht: Denkverbote fallen, Konfliktlinien vertiefen sich“. Ein Grund für Mayer-Ahuja festzustellen: Der Streit um das künftige Verhältnis zwischen Wirtschaft und Staat nimmt also Fahrt auf – und dies eröffnet Spielräume für linke Politik“. Doch wenn „man die Gesundheitsversorgung dem »freien Spiel der Marktkräfte« überlässt, sterben Menschen“. Lukas Oberndorfer untersucht die EU-Pläne für einen »grünen« Aufbauplan zur Bewältigung der Corona-Krise“ und sieht, was den Neoliberalismus betrifft, eher die Gefahr, dass der austarierte Aufbauplan, nur „mit neoliberalen Dogmen“ bricht, „um sicherzustellen, dass die neoliberale Globalisierung in ihrer europäischen Form als solche fortgesetzt werden kann“. Thomas Rudhof-Seibert geht schließlich davon aus, dass die Regierenden gar keine besondere Absicht verfolgt, sondern schlicht »biopolitisch« gehandelt haben“ und stellt dem seine Forderung nach einer echten Revolution der Menschenrechte“ entgegen. Den letzten Teil schließt Julia Fritzsche mit Abhängig und frei!“ ab, und erklärt diesen Widerspruch damit, dass die „individualistische Denkweise (…) nicht nur patriarchal, sondern auch spezifisch westlich“ ist. Statt Abhängigkeit zu fürchten, zu leugnen oder abzuwehren, sollten wir sie anerkennen (sie ist einfach da) und daraus politische Schlüsse ziehen. Feministinnen betonen schon lange unsere Abhängigkeit von gegenseitiger Fürsorge, Umweltaktivist*innen unsere Abhängigkeit von der Natur, Globalisierungskritiker*innen unsere Abhängigkeit von Menschen anderen Orts auf der Welt.“

Insgesamt muss dieses Veröffentlichung zum Thema „Corona-Welt“ wohl als gelungen bezeichnet werden, auch wenn sich hier zur Thematik sicher noch mehr sagen lässt und die Auseinandersetzung um linke Politik in der Corona-Krise sicher weitergeht. Ein seltenes Highlight bildet eindeutig der internationalistische und globale Teil. Was den Bereich „Sozialepidemiologie“ betrifft, ist die Problematik sicher noch umfangreicher und werden sich wohl bereits in Bälde die Hauptauseinandersetzungen um die Frage drehen: „Wer gewinnt, wer verliert“. Dies tangiert unmittelbar auch den rechtlichen Bereich: Wenn die Notstandsmaßnahmen erst soziale Not erzeugen, wie sich dann gegen diese Not erfolgreich unter epidemiologischen Bedingungen wehren, die man tatsächlich unmöglich leugnen kann? Die zum Teil unterschiedlichen Sichtweise im ersten Teil sind in sofern kein Zufall. Die Pandemie stellt hohe Erwartungen auch an eine linke Politik, die ihren Namen auch verdient. So bedeutet Gesundheitsschutz nicht automatisch das, was Legislative, Exekutive, aber u.U. auch die Judikative darunter verstehen. In sofern lässt sich zu einer „Welt nach Corona“ zweifellos noch viel mehr sagen. Insgesamt ist aber festzustellen, dass diese Veröffentlichung mit dieser Problematik recht gut umgeht. Und letztlich geht es vor allem um Praxis, um Widerstand, der sich weder hinter einen epidemiologischen und virologischen Verharmlosung, oder gar Leugnung verstecken kann, noch sich damit zufrieden geben kann, alles am Schreibtisch zu lösen. Was jedoch die theoretische Seite betrifft, ist diese Veröffentlichung sicher ein brauchbares Instrument für Information, Orientierung und auch Anregung zum Weitermachen.

Anmerkungen:

  • [1] In eine besonders bedenkliche Richtung gingen hier die Klartext-Autoren Reinhard Frankl, Rainer Roth und Tobias Weißert. Nach ihrer bereits kritikwürdigen Streitschrift „LOCKDOWN? – nicht nochmal“ vom Juli 2020, behaupten die drei in ihrer Veröffentlichung vom März 2021, „Die Schockstrategie geht weiter“, nun sogar, dass Verweise auf die Corona-Mutationen nur als „Drohkulisse“ dienen würden, und Inzidenzwerte „wertlos“ seien, da „die Testpositiven, die den Inzidenzwerten zugrunde liegen, (…) zu einem bedeutenden Teil gar nicht infektiös“ seien (S.35).
  • [2] vgl. Mike Davis „The monster at our door: the global threat of avian flu“, The Mew Press, New York, 2005. Deutsch: „Vogelgrippe: Zur gesellschaftlichen Produktion von Epidemien“, Assaziation A. 2006
  • [3] vgl. Rob Wallace „Was Covid-19 mit der ökologischen Krise, dem Raubbau an der Natur und dem Agrobusiness zu tun hat“, PapyRossa, 2020

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Siehe auch aus dem Buch:

  • Feinde finden. Corona und die Rechte
    „… Krankheit kommt in der extremen Rechten dann vor, wenn sie als von außen hereingeschleppt dargestellt werden kann, wie es die FPÖ auch noch zu Beginn der Coronakrise tat. Krankheit und Seuche werden auch als Metaphern für unliebsame Menschengruppen verwendet. In beiden Fällen geht es nicht um den medizinischen Hintergrund einer Krankheit, sie dient vielmehr als Leinwand oder Sprachbild für Rassismus oder Verschwörungstheorien. Beides erleben wir auch in der aktuellen Krise. Das ist nicht neu, sondern Teil rassistischer und antisemitischer Agitation seit vielen Jahrhunderten. Es gibt noch einen dritten Diskussionsstrang, bei dem die medizinische Realität zumindest anerkannt wird. Statt die Krise zu bekämpfen, wird sie affirmiert: Hier stirbt das Schwache, und das Starke behauptet sich. (…) Die parallele Entwicklung zweier verschiedener sozialdarwinistischer Stränge (eines völkischen und eines wirtschaftsliberalen) ist nur eine scheinbare. Vielmehr ist Sozialdarwinismus dort populär, wo diese beiden Spektren aufeinandertreffen: Wirtschaftsliberale, die völkisch denken. Sie unterscheiden sich somit sowohl von gesellschaftsliberalen Wirtschaftsliberalen als auch von wirtschaftsprotektionistischen Faschisten. Dieses Spektrum hat im deutschsprachigen Raum seinen publizistischen Ausdruck vor allem in der Zeitschrift Eigentümlich frei. Es ist kein Zufall, dass Thilo Sarrazin im dazugehörigen Verlag publiziert. Dort wird Covid-19 verharmlost und in den Coronamaßnahmen ein Generalangriff auf kapitalistische Freiheiten vermutet. Die Ehrlichen und Starken (Vermieter, Arbeitende, Unternehmer) würden zugunsten der Schwachen (der Mieter, die keine Miete zahlen möchten, der Arbeitslosen) geschröpft. Dieser Umstand müsse beendet werden. Einen völkischen Sozialdarwinismus propagiert hingegen das Zentralorgan der Neuen Rechten, die Sezession. Dort spotten die Autoren über den verwöhnten, modernen Menschen, der an allerlei Unverträglichkeiten leide und nichts mehr aushalte und sich zudem im Angesicht des Todes würdelos verhalte. Wenn der Tod einen ereile, so habe man ihn gelassen und würdevoll zu ertragen. Auch hier spricht sich der Autor, im Glauben an die eigene Unverwundbarkeit, für ein Durchlaufen des Virus aus. Wen es erwischt, den erwischt es eben. Man muss aber gar kein extremes rechtes Nischenblatt lesen, denn fast wortgleich tönt es während der ersten Welle auch aus der reputablen NZZ, wenn nicht weniger als der »Seuchensozialismus« herbeiphantasiert wird oder der Grünen-Politiker Boris Palmer meint, dass wir zuviel Aufwand in Leute stecken, die ohnehin bald gestorben wären. (…) In Zeiten einer starken Klimaschutzbewegung und einer (vermeintlichen) Aneignung ihrer Ziele quer durch alle ideologischen Lager ist es wichtig, ökofaschistische Regungen nicht aus dem Blick zu verlieren. Ihre Logik dringt oft unbemerkt bis weit in progressive Kreise vor beziehungsweise man spielt und agitiert mit ihr, wie Sticker mit dem Spruch »Humans are the disease, Corona is the cure« zeigen, die von extremen Rechten angefertigt wurden, die sich als »XR Rebellion« ausgaben. Bilder mit den Stickern wurden viral in den sozialen Medien verbreitet, »XR Rebellion« distanzierte sich, aber bei vielen Menschen war die mögliche Verbindung schon hergestellt. In politischen Krisenzeiten haben Verschwörungsideologien Hochkonjunktur. (…) Es gibt vielfältige Antworten rechter und extrem rechter Akteure auf die Coronakrise. Auffällig ist, dass zu Beginn eine große Sprachlosigkeit vorherrschte. Eine medizinische Krise gehört nicht zum Konzept dieser Ideologien. Auffällig ist auch, dass eine rasche Bereitschaft zur Adaption und Inkorporation zu erkennen war. Bestehende Muster, Ideologien und Konzepte wurden angepasst. Dabei reichte die Bandbreite von Leugnung bis zu der Idee, dass es eigentlich in Ordnung ist, wenn Schwache und Alte sterben. Die autoritären Antworten auf die Krise sind also widersprüchlich und stehen durchaus in Konflikt miteinander. Sie docken aber alle an Spektren an, die weit über das je eigene hinausgehen…“ Artikel von Natascha Strobl in der jungen Welt vom 08.01.2021 als Vorabdruck aus dem Buch externer Link, dort unter dem Titel „Sozialdarwinismus – Ökofaschismus – Verschwörungsideologien. Die extreme Rechte reagiert in verschiedener Weise auf die Coronakrise“

Siehe unter vielen zum Thema im LabourNet Germany die Dossiers:

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=188728
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