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„Wer jetzt den LKW-Streik in Brasilien fortsetzt, das sind nicht mehr die Transport-Unternehmen, sondern die sog. selbstständigen Fahrer, die ganz andere Forderungen haben“

Eine von über 500 LKW-Blockaden in Brasilien im Mai 2018Seit neun Tagen blockieren Zehntausende LKWs die Autobahnen, Stadtautobahnen und Raffinerien in ganz Brasilien, fast alle wichtigen Städte des Landes sind betroffen  – eine Bewegung, die sich immer mehr ausgeweitet hat. Auch, manche sagen: Erst recht, nachdem die brasilianische Regierung mit dem Einsatz des Militärs gedroht und diesen auch beschlossen hat. Am 24. Mai 2018 hatte die Regierung mit den Verbänden der Logistikwirtschaft eine Art Waffenstillstands-Abkommen beschlossen, das von den meisten Verbänden – eben außer dem der autonomen Fahrer – akzeptiert worden war. Ein Abkommen, das ganz offensichtlich den Forderungen eben dieser Autonomen nicht entgegen kam, weswegen diese ihre Streik- und Blockade-Bewegung sogar noch weiter verstärkten, ohne sich von der Drohung mit der Armee einschüchtern zu lassen. Auch weitere Zugeständnisse, die die Regierung am 27. Mai bekannt gab, führten nicht zum Ende der Blockaden – weil sie, wie unser Gesprächspartner sagt, eben am Kern der Forderungen der Fahrer vorbei gehen. Wer welche Forderungen vertritt, wie diese Situation zustande gekommen ist, welche politischen Kräfte in dieser Bewegung wirken und wie die Perspektiven aussehen, darüber sprach LabourNet Germany am 29. Mai 2018 am Telefon mit Pedro Otoni, Sprecher des autonomen Netzwerkes Volksbrigaden und Akivist des Gewerkschaftsbundes Intersindical in São Paulo:

[Interview, 29. Mai 2018]

„Wer jetzt den LKW-Streik in Brasilien fortsetzt, das sind nicht mehr die Transport-Unternehmen, sondern die sogenannten selbstständigen Fahrer, die ganz andere Forderungen haben“ vom 29. Mai 2018

Lass uns mit den grundlegenden Fragen beginnen: Wie viele LKW Fahrer sind denn nun tatsächlich im Streik, und welche Forderungen haben sie?

Also, die Zahlen kann man nur schätzen, weil natürlich niemand wirklich in der Lage ist, das alles zu zählen. Aber Du kannst davon ausgehen, dass es so knapp über 500 Blockadepunkte im ganzen Land gibt, die etwa so im Durchschnitt aus jeweils 150 LKW bestehen. Was jetzt nur ein Versuch ist, zu klären, welchen Umfang die Bewegung hat, denn es ist natürlich zum einen so, dass es immer auch einen Teil der blockierenden LKW gibt, deren Fahrer das im Wechsel machen – und zum anderen ist es vor allem so, dass man das gar nicht genau trennen kann, denn es fahren ja kaum LKW, eben wegen der Blockaden kann gar niemand fahren. Insgesamt kannst Du also schon davon ausgehen, dass es eine Bewegung ist, die Hunderttausende umfasst.

Und wie viele LKW Fahrer gibt es denn eigentlich in Brasilien?

Gute Frage, wir sind in Brasilien. Da es hier für alles und jedes eine Behörde gibt, kann man die Zahlen der ANTT (Nationale Agentur für erdgebundenen Transport – wie der Name nahe legt, gibt es auch eine entsprechende Agentur etwa für die Luftfahrt) benutzen – als Orientierungswert. Die besagen beispielsweise, dass es rund anderthalb Millionen LKWs gibt, die für Lasten über eine halbe Tonne ausgelegt sind und etwas über eine Million Fahrer, die eine entsprechende Zulassung haben. Wenn ich sage, wir sind in Brasilien, soll das bedeuten: Es gibt natürlich keine Zahlen dazu, wie viele ohne diese Lizenz fahren, das sind aber grob geschätzt bestimmt nochmal über 100.000.

„Es begann faktisch als Aussperrung – die nach brasilianischem Gesetz verboten ist“

Die Regierung Temer hat faktisch zwei Mal Zugeständnisse gemacht, am Donnerstag, 24. Mai in den Verhandlungen mit den Verbänden und am Sonntag, 27. Mai per Fernsehansprache des sogenannten Präsidenten. Warum „steht die Streikfront“ dennoch, warum wurden diese Angebote nicht angenommen?

Da muss ich ein bisschen ausholen. Die ganze Bewegung begann faktisch als eine Aktion der Transport-Unternehmen. Die haben öffentlich verkündet, sie würden die Transporte einstellen – was faktisch einer Aussperrung gleich kam, die ja in Brasilien gesetzlich verboten ist. Das sind die großen Unternehmen der Logistikbranche, da sind auch global agierende Konzerne dabei, die Tausende von Fahrern beschäftigen – plus einer enormen „Manövriermasse“ von Vertragsfahrern, die sie ziemlich regelmäßig beschäftigen, ohne dass ihnen dabei soziale Kosten entstehen, das Geschäftsprinzip ist ja auch in anderen Branchen und Ländern bekannt. Diesen Unternehmen ging es vor allem um eines: Um niedrigere Steuern, die Regierung wollte die bestehenden Ausnahmeregelungen verändern, nicht ganz aufheben, aber einschränken. Die Beibehaltung dieser steuerlichen Ausnahmereglungen war faktisch das Angebot vom letzten Donnerstag gewesen, weswegen ja auch einige der Verbände das vorläufige Abkommen, das damit erreicht werden sollte, unterzeichnet haben. Und da kommt natürlich dann der Augenblick, an dem daraus etwas ganz anderes wird, dass nämlich die ganzen Autonomen davon gar nichts haben, die haben ganz andere Probleme und Forderungen und deswegen hatten sie auch keinen einzigen Grund, diesem Abkommen zuzustimmen. Es sollte ja, lass mich dies ergänzen, eine Art Waffenstillstand sein, also mit Absprachen, die etwa für einen Monat gegolten hätten, um eben die Blockaden zu beenden, was nicht gelang.

Wenn Du sagst, die autonomen Fahrer hätten ganz andere Forderungen – wie sehen die aus, was sind die anderen Bedingungen dieses Teils der Fahrer im Vergleich zu den Transport-Unternehmen?

Nun, die wesentliche andere Problematik ist natürlich die, welchen Kostenfaktor die Dieselpreise in der jeweiligen Kalkulation darstellen. Für einen autonomen Fahrer stellen die Spritpreise so grob kalkuliert etwa 70% seiner Kosten dar, das ist für die Unternehmen weitaus geringer. Gut, jetzt musst Du auch daran denken, dass es natürlich autonome Fahrer gibt, die ihrerseits mehrere LKW haben und einen Teil ihrer Aufträge „outsourcen“ ganz, wie die „Großen“. Aber die große Masse der Autonomen hat eben vor allem das Problem des Dieselpreises und, und das ist auch ganz wichtig, das Problem der Zahlstellen.

Was bedeutet das nun wieder?

Nun, hierzulande sind die Autobahnen ja weitgehend privatisiert, was eben Zahlstellen bedeutet, das kennt ihr ja aus Frankreich, oder? Und hier müssen die LKW nach Achsen bezahlt werden, daraus ergibt sich offiziell eben die Straßenbelastung. Der Streitpunkt sind dabei die „Leerfahrten“, das heißt, in der Regel die Rückfahrten, ein in jedem Falle hoher Prozentsatz der Fahrten, denn es passiert halt nicht so oft, dass es einen passenden Transport für die Rückfahrt gibt. Wobei die Fahrer in der Regel Achsen sozusagen hochklappen, die es mangels Ladung nicht braucht. Für diese hochgeklappten Achsen aber müssen sie trotzdem bezahlen und genau das ist es, was sie nicht wollen.

Womit wir bereits in der Privatisierungspolitik brasilianischer Regierungen angekommen wären…

Ja, aber darum geht es in Wirklichkeit die ganze Zeit – auch, keineswegs nur, aber auch. Das hat ja eine ganze Geschichte, die im übrigen damit beginnt, dass die Militärdiktatur in den 60er Jahren faktisch das gesamte Eisenbahnnetz beseitigt hat, nicht nur für den Personenverkehr, das ist einigermaßen bekannt – und das geschah aufgrund des Wunsches von Unternehmen, die nicht zuletzt auch aus Eurem Land kommen – sondern auch für den Warentransport, da gibt es eigentlich, als wichtigen Faktor jedenfalls, nur noch die Erz-Züge aus bestimmten Abbauregionen. Und mit dem, was die Kapitalisten eine moderne Wirtschaft nennen, hat der Warentransport eben enorm zugenommen: Wir haben ja im eigenen Land Regionen mit sehr deutlich niedrigeren Lohnkosten beispielsweise als etwa im Bundesstaat São Paulo. Da lohnt es sich dann, im Irrsinn der kapitalistischen Rationalität, die eine oder andere Produktionsstufe nach „weit weg“ zu verlagern, was natürlich das Transportaufkommen wesentlich erhöht und eben aber auch die Wichtigkeit dieser Zwischenstufe. Bei den größeren Bundesstaaten, wie etwa meiner Heimat Minas Gerais, lohnt sich solche Auslagerung auch innerhalb des Bundesstaates und da gibt es weitaus weniger Kontrollen, als an den Grenzen zwischen den Bundesstaaten, wo die Autobahnpolizei allgegenwärtig ist.

„Der Kernpunkt der Privatisierungspolitik ist die Petrobras – deren neue Preispolitik ist ein Schritt dahin“

Wenn Du jetzt schon zum Stichwort Privatisierungspolitik gesprochen hast: Zumindest bei der politischen Linken und den Gewerkschaften wird die Preispolitik der Petrobras zum einen für die aktuelle Auseinandersetzung verantwortlich gemacht, und zum anderen als ein Bestandteil der Privatisierungspolitik bewertet – warum das?

Nun, ihre Preispolitik wird vor allem von den Fahrern für die Auseinandersetzung verantwortlich gemacht. Und die ist ja auch unglaublich. Als Temer die Regierung Rousseff gestürzt hatte, war eine der ersten getroffenen Maßnahmen, einen neuen Topmanager für die Petrobras zu ernennen, die ja gerade von den Auswirkungen des großen Korruptionsskandals geschüttelt wurde, der als „Lava Jato“ (Schnellwäsche für Autos – als Indiz für Geldwäsche) bekannt geworden ist. Und dieses neue Management erhielt die Leitlinie, die Preise an den jeweiligen internationalen Preisen zu orientieren, was natürlich bereits ein offener Angriff auf die Leitgedanken eines staatlichen Unternehmens ist, die ja einst gegründet worden waren, um die nationale Souveränität zu stärken. Zu einer Zeit übrigens, als es noch so etwas gab wie eine nationale Rechte, eine politische Strömung, die heute weitgehend ausgestorben ist, da die Rechte nicht nur in Brasilien dem neoliberalen Bankrott huldigt. Und dafür haben sie mit Pedro Parente auch noch einen Mann nominiert, der als Person bereits eine Beleidigung ist. Lange Jahre als Manager in verschiedenen Bereichen der Energiewirtschaft tätig, gilt er in der Öffentlichkeit als „Meister des Stromausfalls“ (Apagão – war vor einigen Jahren ein großes Thema, weil dauernd an der Tagesordnung, als Parente eine wesentliche Rolle in der Stromwirtschaft spielte). Und diese von der Regierung vorgegebene Preispolitik hat nun im letzten Jahr zu ganz massiven Preissteigerungen geführt, verstärkt noch dadurch, dass die Politik darauf ausgerichtet ist, den Importanteil von Fertigprodukten kontinuierlich zu erhöhen – die einheimischen Raffinerien sind nur noch zu 70% ausgelastet. Das ist jetzt je nach Region ein bisschen verschieden, aber im Durchschnitt spricht man offiziell davon, dass der Dieselpreis seit Juli 2017 um rund 50% gestiegen ist. Der Benzinpreis übrigens noch mehr und erst recht der Preis für die Gasflaschen der Privathaushalte (Gasleitungen gibt es nur für die Industrie und in einigen Modellorten), für Letzteres brauch ich gar keine offiziellen Zahlen, sondern sehe das selbst: Als ich im letzten Jahr hierher gezogen bin, hat meine erste Gasflasche 50 Reais gekostet (aktueller Wechselkurs grob: 1 Euro sind 4,25 Reais), jetzt, für die letzte, habe ich 83 bezahlt. Aber das ist eben vor allem der Kern des Protestes und des Widerstandes der LKW-Fahrer: Sie wollen billigeres Diesel, sie brauchen es, weil sie sonst einfach nicht mehr in der Lage sind, den Unterhalt ihrer Familien zu sichern. Jedes andere „Angebot“ ist für sie uninteressant, zeitlich begrenzte Beschränkungen, wie am Sonntag verkündet, helfen nicht weiter. Und schon gar nicht eine Maßnahme wie, die Preise nur noch monatlich anzupassen – sprich erhöhen – weil das natürlich eine weitere kontinuierliche Teuerung bedeutet.

Wenn wir schon dabei sind: Kannst Du Menschen in der BRD, die das lesen, kurz erläutern, welche Bedeutung die Petrobras für Brasilien hat?

Die kann man eigentlich gar nicht hoch genug bewerten. Zum Einen, weil sie der größte staatliche Betrieb des Landes ist und eben einen sogenannten „strategischen Rohstoff“ bearbeitet. Die Petrobras beschäftigt rund eine viertel Million Menschen – wovon etwa 75% bei Subunternehmen angestellt sind. Sie war – zusammen mit der bereits vor fast 20 Jahren von Cardoso privatisierten Vale do Rio Doce, die den Bergbau umfasste – sozusagen der Kern dessen, was ich vorhin erwähnt habe, einer eigenständigen nationalen Wirtschaft. Die zunehmende Privatisierung, gerade nach der Entdeckung der großen Ölvorräte im Meer, die sich ausdrückt in Joint Ventures bei der Ausbeutung neuer Vorkommen, in der Zulassung von privatem Aktienkapital als Anteilseigner, im kontinuierlichen Ausbau der eigesetzten Subunternehmen – all das hat erst dazu geführt, dass es einen Spielraum gab für die Korruption, wenn Geld für die Erteilung von Aufträgen fließt. Und es ist ein absoluter Hightech-Betrieb, dessen Forschungsarbeiten oft ganz an der Spitze der internationalen Ölunternehmen lagen.

„Der Streik bei Petrobras könnte eine politische Wende darstellen“

Nun ist es ja so, dass die FUP, (die Föderation der Ölarbeitergewerkschaften in der CUT) ab Mittwoch, also ab morgen, 30. Mai 2018, einen dreitägigen landesweiten Warnstreik gegen die Privatisierung ausgerufen hat. Wie sieht der Zusammenhang, die Auswirkung auf den Kampf der LKW-Fahrer aus – gibt es den überhaupt?

greve-72horas1Dieser Streik könnte eine politische Wende darstellen. Wenn er zustande kommt, denn mit ziemlicher Sicherheit wird er heute noch gerichtlich verboten werden (ist inzwischen geschehen, weil es ein „politischer Streik“ sei, die FUP hat sich aber davon nicht beeindrucken lassen) und ich bin mir nicht ganz sicher, wie die FUP darauf reagieren wird. Weil sie sich die ganzen Jahre über als eine Gewerkschaft gezeigt hat, die ausgesprochen gesetzestreu ist. Das sage ich nicht, weil ich politische Abenteuer liebe, sondern vor allem, weil sie sich an die gesetzliche Vorschrift gehalten hat, der zufolge sie die ganzen Beschäftigten der Subunternehmen, das sind etwa 180.000 Menschen, nicht organisieren darf. Das halte ich für einen grundsätzlichen Fehler, das darf man einfach nicht machen, weil das natürlich zu allererst Spaltungslinien ergibt. Du hast mir erzählt, dass es bei mehreren Streiks in verschiedenen europäischen Ländern eine Kampagne gab und gibt, die Streikende denunziert als Leute, die nur ihre Privilegien verteidigen – natürlich passiert genau das auch gerade hier. Und auch hier gilt die perverse Logik, dass ein Lohn, der zum Leben reicht, eine Sozialversicherung, die wenigstens das ist, was ihr Name besagt, im heutigen Kapitalismus schon als Privileg verleumdet werden kann. Klar war die Petrobras ein Unternehmen, wo der Vater schon danach Ausschau gehalten hat, ob sein Sohn da auch arbeiten kann, schon weil die Arbeitsbedingungen real gesehen oftmals über eine Art Mitbestimmung geregelt wurden, was dann schon zu menschlicheren Bedingungen führte – Vergangenheit, wohlgemerkt, aber wenn das ein Privileg ist, dann ist das eine Bankrotterklärung des Systems.

Der Streik soll sich ja, als Warnstreik, gegen die Privatisierung richten – und gegen die Preispolitik des Unternehmens. Siehst Du darin die Möglichkeit einer Art von Bündnis oder Vergleichbarem?

Ich meine, wenn dabei deutlich wird, dass die Preissteigerungen von den Ölarbeitern abgelehnt werden, dann wäre das natürlich eine Möglichkeit dafür. Und wenn dabei deutlich wird, dass diese Preissteigerungen eben Ergebnis der Privatisierungspolitik sind, erst recht. Denn natürlich suchen die streikenden LKW-Fahrer auch Verbündete, und da wäre die FUP allemal eine gute Adresse. Und man muss immer wieder daran erinnern: Die massive Preissteigerung von allen möglichen Öl- und Gasprodukten, vor allem aber eben des Diesels, der ja nun den Transport bestimmt, führt zur allgemeinen Teuerung von restlos allem. Worunter die ganze Bevölkerung zu leiden hat, die etwa auch mit ständig steigenden Preisen in den Supermärkten konfrontiert ist, es wird ja dann fast alles teurer, von den Omnibussen im Nahverkehr angefangen. Und da ist es eben schon von großer Bedeutung, dass die streikenden LKW Fahrer klar und einfach „Nein!“ dazu sagen und keine Kompromisse, die es ja auch nur sehr schwer geben kann, machen wollen. Und dann könnte auch ein Streikverbot durch die Gerichte ein Vorgehen sein, das dem Kapital „auf die Füße fällt“ – wenn die Menschen sich sagen, ja gut, dann soll es halt ein politischer Streik sein, Hauptsache, die Teuerung hört auf…

Wenn jetzt die Reaktion der gesamten Bevölkerung zum Gegenstand des Gesprächs wird: Wie ist denn die Auswirkung des LKW-Streiks auf das alltägliche Leben? Spüren die Menschen das direkt oder ist das mehr ein Thema der Fernseh-Nachrichten?

zapfsäuleDie kannst Du mit einem Wort zusammen fassen: Enorm. Ich kenne es ein bisschen genauer aus drei Hauptstädten – eben hier aus São Paulo, wo ich wohne, aus Belo Horizonte, wo der Großteil meiner Familie lebt, und aus Florianópolis, wo meine Kinder leben. Das ist dann schon unterschiedlich und auch unterschiedlich heftig – aber in jedem Fall direkt spürbar. Zum Beispiel: Die Müllabfuhr ist in allen drei Städten in unterschiedlichem Grad reduziert worden, eben wegen Treibstoffmangel. Mit anderen Worten, es stinkt zum Himmel, samt allem, was an Gefahren dazu gehören mag. Oder: Grob geschätzt fährt nur die Hälfte aller Schulbusse, Unterricht fällt weitgehend aus, und das wird sich noch verstärken – aber auch die Omnibusse des Nahverkehrs fahren in Belo Horizonte zum Beispiel nur noch entsprechend dem ausgedünnten Sonntags-Fahrplan. Kulturelle Veranstaltungen sind fast schon grundsätzlich abgesagt. Und, vielleicht am meisten kompliziert: In den Supermärkten fehlt immer mehr Ware – eben auch und gerade Obst, Gemüse und Fleisch. Weil die Blockade eben total ist, das heißt, deren LKWs werden entweder auch blockiert, oder blockieren selbst.

Und das hat nicht dazu geführt, dass die Menschen Temers Drohung mit der Armee begrüßt haben, im Sinne von „jetzt reicht es aber“?

Die gibt es natürlich auch, die gibt es ja immer, auch die Fans von Recht und Ordnung sind immer untertänigst da, aber das ist ganz eindeutig eine Minderheit, die Reaktion der sehr großen Mehrheit der Menschen ist schon die, zu sagen, ist zwar beschissen, aber muss halt sein. Im Zusammenhang mit Temers Drohung kann man das auch an der extremen Popularität einer Karikatur sehen, die in den sozialen Netzwerken alle Rekorde schlägt, auf der Temer als Panzerkommandant den Marsch auf die LKW Fahrer befiehlt, und daneben ein Soldat an der Zapfsäule steht, der mit den Schultern zuckend sagt „kein Benzin da“. Das gibt die Situation insofern gut wieder, als die Blockaden ja neben den Autobahnen auch die Raffinerien zum Ziel haben, zum einen, weil es ein direkter Angriff auf die Petrobras sein soll, zum anderen weil die Fahrer natürlich auch über die Auswirkungen des Treibstoffmangels Bescheid wissen.

„Unter keinen Umständen darf man den Rechten das Feld überlassen“

Nun, zum Schluss, eine der vielleicht wichtigsten Fragen: Wie sieht es mit dem Einfluss der politischen Rechten auf diese Bewegung aus – ich frage natürlich, weil man ja bei vielen Blockaden Transparente sieht, wie das berüchtigte „Militär-Intervention jetzt!“ und etwa der von vielen als Faschist bezeichnete Präsidentschaftskandidat Bolsonaro den Streik unterstützt.

Lass mich so herum anfangen: Es gibt heute in Brasilien überhaupt keine einzige soziale Auseinandersetzung, bei der die Rechte nicht einen gewissen Einfluss hat. Und es gibt ohnehin keine einzige Auseinandersetzung auf der ganzen Welt, bei der nicht alle irgendwie vorhandenen politischen Strömungen, jedenfalls ihr organisierter Teil, versuchen, Einfluss zu gewinnen, Rechte und Linke, Gemäßigte und Radikale. Kannst Du ja beispielsweise aktuell gerade in Nicaragua sehen, wo von den Sandinisten enttäuschte Menschen demonstrieren – und an ihrer Seite Fans der USA. Wo der Unternehmerverband seine weltweit bekannten, immer gleichen Forderungen stellt – und die verschiedenen Gruppierungen der Studierenden die Ihren. So ist es auch hier, in Brasilien. Aber es kommen hier konkrete Faktoren hinzu. Zum einen – und das wird bei einem gar nicht so geringen Teil der Linken so diskutiert – sind die autonomen LKW Fahrer in einer sozialen Situation, die durchaus jener entspricht, die in der traditionellen Theorie als kleinbürgerlich, im klassischen Sinne des Wortes bezeichnet wurde und wird. Mit klassisch kleinbürgerlich meine ich, dass sich das nicht auf die berüchtigten Theorien irgendwelcher sogenannter Abweichungen in Parteien bezieht, sondern auf ihre Existenz als kleine Bürger – die eben ihr eigenes Geschäft haben, manchmal mit 1-2, manchmal ohne Angestellte, die ja klassisch, insbesondere in Italien, als Massenbasis des Faschismus bewertet wurden. Was keineswegs ganz von der Hand zu weisen ist, aber, ehrlich gesagt, auch nicht weiter hilft. Meine ich zu mindestens. Und, nur um das zu vervollständigen: Wenn man schon klassische Theorien bemüht, dann bitte ganz. Dann gehört nämlich auch dazu, dass dabei auch Möglichkeiten analysiert wurden, wie dieser Teil der Bevölkerung dazu veranlasst werden könnte, sozusagen die Seiten zu wechseln, das sollte nicht vergessen werden. Was im Wesentlichen darin bestand, bestimmte soziale Forderungen aus diesen Kreisen aufzunehmen und zu verteidigen. Womit wir im konkreten Fall wieder am Ausgangspunkt angelangt wären, nämlich bei der Frage, die eigentlich keine ist, ob man die Forderungen der LKW Fahrer unterstützen soll – soll man nicht nur, muss man sogar, schon weil es ja keineswegs nur ihre Forderungen sind, wie ich versucht habe, anhand von diversen Beispielen deutlich zu machen.

Ja, das leuchtet,  mir zu mindestens, ein, aber: Warum gibt es diesen dann – meiner Ansicht nach – schon über das normale Maß, wenn es so etwas überhaupt gibt, hinausgehenden rechten Einfluss? Ich meine, wenn da welche eine Militär-Intervention fordern, dann ist das doch der harte Kern des Rechtsradikalismus in Brasilien – und außerdem können sie die ja haben. Gegen sich, wie Temer zeigt.

Ja, da hast Du schon recht, es geht über das normale Maß hinaus, obwohl das eigentlich normale Maß ohnehin Null wäre. Das ist ein Ergebnis der politischen Entwicklungen der letzten Jahre. Und dies natürlich vor dem Hintergrund des vorhin gesagten über den Klassencharakter, der aber heute zutage zwiespältig ist, man kann halt viele autonome LKW Fahrer auch als prekär Beschäftigte definieren. Ich denke, es zeigt sich daran schon, wie viel Boden die Rechten in den letzten Jahren hierzulande gewonnen haben. Bei sehr vielen Menschen ist halt die PT sozusagen politisch verbrannt, und mit ihr, ob sie es will oder nicht, die gesamte Linke, da hilft, wie immer in solchen Fällen, auch Distanzierung wenig. Das ist ein bisschen wie beim Sturz dessen, was realer Sozialismus genannt wurde: Da mussten alle linken Kritiker der UdSSR etwa die Zeche mit bezahlen, da half auch kein Adjektiv-Sozialismus. Dass die besondere Korruption der PT eine Erfindung der Propagandamaschine ist, die modern Medien genannt wird, ist klar – wo es sie gab, war sie, im Vergleich zu den etablierten Parteien, ausgesprochen amateurhaft. Und das Luxusappartement von Lula war eine totale Erfindung – das haben die Aktivisten von der MTST gezeigt, die es besetzt haben und die Fotos ins Netz gestellt, da ist kein Luxusappartement, da ist gar nichts Besonderes. Und als dann damals im Parlament jene absurde und abscheuliche Show des Impeachments (Amtsenthebungsverfahren) von Dilma Rousseff mit dem Regierungsantritt des rechten Flügels der PMDB endete, der schon immer Korruption professionell betreibt, war auch klar: Eine Option wird es sein, auch diese Leute der Korruption zu überführen. Da gibt es ein Problem, wie ich finde, grundsätzlicher Art. Viele Linke haben diese andauernden Enthüllungen über die Korruption der neuen Regierung und ihres Umfeldes begrüßt, nach dem Motto „Seht ihr, das sind die wahren Korrupten“. Was ja stimmt, und insofern auch nicht zu kritisieren ist, nur: Weil halt, wie immer bei rechten Kampagnen gegen die Korruption, nur die Bestechlichen Thema sind und nie die Bestechenden, hat das zu einer Stimmung beigetragen, die da eben sagt, alle Politiker, alle politischen Parteien sind korrupt. Das ist dann der Punkt wo ausgerechnet das schon immer extrem korrupte brasilianische Militär ins Spiel kommt: Wer heute in Brasilien eine Militärintervention fordert, der oder die tut das, als Alternative zu den im Herbst anstehenden Präsidentschaftswahlen. Also: Lassen wir das mit den Wahlen endlich sein, davon profitieren nur die Korrupten.

Aber das ist doch wohl keine Mehrheit, oder?

Nein, ist es nicht, auch bei den LKW Fahrern nicht. Vielleicht aber auch nur: Noch nicht. Jedenfalls: Es gibt heute Bestrebungen, nach den kommenden Wahlen, nach dem Vorbild des Agrarkapitals, eine parteiübergreifende Militärgruppe im Parlament zu organisieren – serienweise geben gerade Offiziere ihr Patent ab, um kandidieren zu können. Und der Einsatz von Militärtruppen zur Verteidigung der Sicherheit, wie es jetzt in Rio de Janeiro geschehen ist, bedeutet ja nicht nur eine Kriegserklärung an die Armutsbevölkerung in den Favelas, sondern auch eine Form der Aufwertung der Armee – mindestens an allen anderen Orten. Und, das muss zur Abrundung schon deutlich gesagt werden, es ist eine extrem massive Kampagne, die auch keineswegs nur – und setze da ruhig Anführungszeichen, denn es ist schon das meiste – also „nur“ vom Globo-Konzern betrieben würde, da sind auch die anderen TV Sender, Nachrichtenmagazine, angeblich liberale Tageszeitungen und so weiter und so fort, stark beteiligt.

Aber, wie soll dann jetzt reagiert werden, beim Streik der LKW-Fahrer?

Zuerst, denke ich, muss man sich selbst und Anderen klar machen: Unter keinen Umständen darf man den Rechten das Feld überlassen. Wenn Du Dir die Fernsehbilder genauer anschaust, dann siehst Du immer und immer wieder am „Bildrand“ Leute vom MBL (Bewegung Freies Brasilien), die Kaffee, Wasser und Essen austeilen an die streikenden Fahrer. Die das brauchen, schon weil niemand darauf vorbereitet war, dass die Blockaden so lange dauern würden. Die Linke sieht man dabei nicht – weniger wegen des üblichen Medienbetrugs, sondern, weil sie tatsächlich kaum da sind. Das sehe ich als einen ganz schweren Fehler, zumal er nicht nur die Linken betrifft – sondern auch die Gewerkschaften. Wir haben solche Aktionen an ein paar Orten mit nur wenigen Hundert Aktiven Volksbrigadisten gemacht, und die Ergebnisse waren ganz nüchtern betrachtet: Ermutigend, das lässt sich auch für einige Einsätze sagen, die von der Intersindical organisiert wurden. Aber im Großen und Ganzen ist die Solidarität von unserer Seite aus bisher bei Erklärungen geblieben, nur Papier, das reicht bei weitem nicht. Jetzt erst werden in einigen Städten Solidaritätskundgebungen in der Innenstadt organisiert – die Rechten haben das schon seit einer Woche gemacht. Wobei ja klar sein dürfte: Mit ihren Themen, da taucht etwa die Frage der Privatisierung der Petrobras natürlich nicht einmal am Rande auf. Und, das soll auch noch gesagt sein: Wenn die so etwas machen, und wenn wir so etwas machen, dann wird das unter den Fahrern massiv verbreitet. So, wie sie ihre ganze Aktion ohne ihre Verbände, über soziale Netzwerke organisiert haben, so verbreiten sie auch konkrete Nachrichten über Solidaritätsaktionen.

Fasse ich das jetzt richtig zusammen, wenn ich abschließend Deine Position charakterisiere als eine, die konkrete Solidaritätsarbeit einfordert mit einem Kampf, der, wie auch immer, für progressive Forderungen geführt wird und den politischen Versuch als zentral erachtet, den Zusammenhang mit dem Kampf der Petrobras-Belegschaft herzustellen?

Hätte ich nicht besser machen können. Ja, diese beiden Punkte sind es konkret heute, wobei ich sogar noch das „progressive Forderungen“ ersetzen könnte durch schlicht „gerechtfertigte“. Wobei der Zusammenhang im Wesentlichen von der Petrobras-Belegschaft herzustellen wäre, da bin ich aber eigentlich ganz zuversichtlich.

Danke, Pedro.

(Das Gespräch fand am Dienstag, 29. Mai 2018 am Nachmittag brasilianischer Ortszeit statt. Kursive Passagen in Klammern sind redaktionelle Erläuterungen).

Siehe zuletzt am 26. Mai 2018: „Schnell und robust eingreifen“ – brasilianische Regierung mobilisiert Armee gegen LKW-Blockaden

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=132758
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