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Keine Busse fahren, keine Autos vom Band, keine Klamotten, keine Bankschalter: Und keine Abstimmung im Parlament über Flexibilisierungsgesetz

Mobilisierungsplakat MABEs habe schon den „Beigeschmack eines kleinen Sieges“ sagte ein Teilnehmer der Abschlußkundgebung in São Paulo, an der etwa 40.000 Menschen teilnahmen. Er bezog sich dabei darauf, dass am Tag der landesweiten politischen Streiks und Protesten gegen das Flexibilisierungsgesetz PL4330 eigentlich die zweite Abstimmung (im Senat diesmal) stattfinden sollte – aber um eine Woche verschoben wurde. Ein kleiner Sieg allerdings nur, denn im Parlament hatte der Zusammenschluss von konservativen, rechten und neoliberalen Parteien und Parteiströmungen eine deutliche Mehrheit für ihren Gesetzesentwurf zustande gebracht – und im Senat wird bestenfalls der „Druck der Straße“ für Veränderung sorgen. Der allerdings war an diesem Tag deutlich größer als bei den Protesten vor einer Woche. Ein – unvollständiger – Überblick über die Aktionen in allen Hauptstädten der Bundesstaaten, Beiträge zur Bedeutung des Gesetzes und zur Entwicklung der Flexibilisierung im Land in unserer aktuellen kommentierten Materialsammlung „Die größte Niederlage der Volksbewegung seit dem Putsch 1964“ vom 16. April 2015, zusammengestellt von Helmut Weiss am 16. April 2015.

„Die grösste Niederlage der Volksbewegung seit dem Putsch 1964“

Für den bekannten Arbeitssoziologen Ruy Braga von der Paulistaner Universität wäre die Geltung der PL 4330 als Gesetz die grösste Niederlage der Volksbewegung seit dem Putsch 1964 (der damals zwar die Regierung beseitigte, im Kern aber auf die massiven Aktionen der Landligen vor allem im Nordosten des Landes zielte). In dem Interview „Lei da terceirização é a maior derrota popular desde o golpe de 64“ mit Wanderley Preite Sobrinho am 10. April 2015 in Carta Capital externer Link (also vor der Abstimmung) schätzt er die konkrete Bedeutung so ein, dass in den nächsten vier Jahren für 18 Millionen Beschäftigte Lohnverluste von bis zu 30% bittere Wirklichkeit werden könnte – eine Zahl, die einen Erfahrungswert darstellt, denn die „outgesourcten“ Beschäftigten verdienen in Brasilien im Durchschnitt 30% weniger als Festangestellte, die dieselbe Arbeit machten. Dass dies vor allem jüngere Beschäftigte bis etwa 25 Jahre beträfe ist eine weitere Feststellung des Professors, die aus bisheriger Erfahrung kommt. Von den prinzipiellen, verankerten Rechten der Beschäftigten zu schweigen: Kündigungsschutz definitiv gestrichen, Arbeitszeitbeschränkung ebenfalls, von gewerkschaftlichen Rechten ganz zu schweigen.

Es scheint als habe ein guter Teil der Betroffenen, dies durchaus verstanden, wenn man den unterschiedlichen Grad der Mobilisierung zu den Protesttagen in der Vorwoche betrachtet, der schon sehr deutlich ist. „Sob pressão da CUT, Câmara adia votação de emendas a PL 4330“ heisst der Beitrag beim Gewerkschaftsbund CUT am 15. April 2015 externer Link in dem eben die Vertagung der Abstimmung auf die Aktionen des Tages zurückgeführt wird (zu diesem Beitrag gehört auch ein erster Überblick über die Proteste und streiks des Tages). Ebenfalls einen Überblick, zum guten Teil über Aktionen in den Hauptstädten der Bundesstaaten gibt der Beitrag „CSP-Conlutas coloca bloco nas ruas contra o PL 4330, da terceirização, com adesão massiva dos trabalhadores“ am 15. April 2015 bei der Conlutas externer Link worin ein Schwergewicht der Berichterstattung auf zahlreichen Blockaden auf Brücken und auf Autobahnen liegt. Und auf dem Streik des grössten Textilbetriebes des Landes Guararapes in Natal, an dem sich alle knapp 6.000 beschäftigten Frauen beteiligten, sowie auf den zahlreichen Streiks in Nahverkehrsbetrieben quer durchs Land.

Aprildemo in S. PauloDer Bericht von der Aktion in São Paulo „Ato contra terceirização em SP termina com ‚gosto de vitória‘ após adiamento da votação“ am 15. April 2015 bei Rede Brasil Atual externer Link ist jener mit der eingangs zitierten Aussage über den Beigeschmack eines kleinen Sieges. Ansonsten: Zwischen (dem einigermaßen bekannten, nicht zuletzt wegen des Weltsozialforums) Porto Alegre im Süden des Landes und etwa (dem nicht nur ausserhalb des Landes eher unbekannten) Porto Velho im nordwestlichen Bundesstaat Rondônia liegen etwa 3.700 Kilometer – an diesem Tag nicht. In dem kurzen Bericht „Capital de Rondônia une movimentos sociais contra o PL 4330“ am 15. April 2015 bei der CUT externer Link wird nicht nur hervorgehoben, dass es einer der grössten Proteste in der geschichte des Bundesstaates war, der da stattfand, sondern vor allem, dass es deswegen so gross war, weil neben den Gewerkschaften er Bewegungen und Volksorganisationen massiv mit mobilisiert hatten.

Zugblockade in Porto AlegreDaselbe lässt sich auch vom Tag im entfernten Porto Alegre sagen, wie aus dem Bericht „Protestos contra o PL 4330 paralisam Porto Alegre e mobilizam trabalhadores“ am 15. April 2015 bei der CSP-Conlutas externer Link deutlich wird, worin zusätzlich vor allem dem Metrostreik besonderes Gewicht zugesprochen wird.

Bisherige Erfahrungen mit der Flexibilisierung der Arbeitsbeziehungen mobilisieren zum Protest – zur Verteidigung erkämpfter Rechte

Obwohl die PL 4330 eine ganze Reihe von Neubestimmungen aus dem Wunschkatalog der Unternehmen beinhaltet, die es insgesamt wesentlich erleichtern, die Menschen diktatorisch zu behandeln, ist der Kern des Gesetzes, der Freibrief für Willkür die zentrale Bestimmung, dass die Unternehmen von nun auch in ihrem „Kerngeschäft“ outsourcen dürfen.

Die Bilanz der bisherigen, seit über 20 Jahren begonnen Flexibilisierung der Arbeitsverhältnisse ist so eindeutig, dass es leicht verständlich ist, dass ihre Ausweitung Widerstand hervorruft. Das Dossier des Gewerkschaftsbundes CUT „Terceirização e Desenvolvimento – Uma conta que não fecha“ ist ursprünglich aus dem Jahre 2011 externer Link (damals aus Anlaß der Verhandlungen vor dem Bundesarbeitsgericht), aber fortgeschrieben und zieht eine vernichtende Gesamtbilanz, was Entlohnung (weniger), Arbeitszeit (mehr), Unfälle (viel mehr) und Rechte (viel weniger) betrifft.

Etwa die Bewegung der Staudamm-Vertriebenen MAB – eine der sozialen Bewegungen, die an den Protesten und Mobilisierungen teilnahmen – hat sich (sicher nicht ganz zufällig) der Auswirkungen der Flexibilisierung in der Elektrizitätswirtschaft angenommen und dokumentiert in dem Artikel „Terceirização: questão de vida ou morte“ am 15. April 2015 auf ihrer Webseite externer Link dass nach 20 Jahren Privatisierungen in der Branche über 60% aller Beschäftigten aus jeweiligen Subunternehmen kommen. Deren Lebenswirklichkeit 2011 sah so aus: 139 festangestellte Arbeiter starben in jenem Jahr – aber 609 Beschäftigte von Subunternehmen in der Branche. Weswegen der Artikel ja auch heisst eine Frage von Leben und Tod…

Welche Ausmaße der Prozeß schon längst hat, wird aber auch deutlich, wenn man Brasiliens heute wichtigstes Unternehmen betrachtet, die viertgrößte Energiegesellschaft der Welt, die Petrobras. In der Studie „A TERCEIRIZAÇÃO NA PETROBRAS“ des Instituto Observatrio Social ebenfalls aus dem Jahr 2011 externer Link wird deutlich, dass von den etwa 360.000 Beschäftigten der Petrobras rund 75% von über 1.000 Subunternehmen gestellt wurden. Auch wenn der Zusammenschluß Ölarbeiterföderation (FUP) der die Mehrheit der Petrobrasgewerkschaften vereint einige grundlegende Bedingungen durchsetzen konnte (wie: dieselbe arbeitsmedizinische Versorgung oder Transportmöglichkeiten, beides in der Branche von besonderer Bedeutung) ist die eindeutige Tendenz hin zur Verschlechterung. In dem Artikel „A terceirização na Petrobrás“ von Ubiraney Porto bereits am 02. Oktober 2009 protestiert die Gewerkschaftsjugend Juventude Petroleira externer Link bereits lautstark gegen die Auswirkungen der Tertiatisierung bei Petrobras.

Politische Allianzen und Perspektiven – und die Kritik an der Regierung

Die Parlamentsmehrheit für die PL 4330 – gegen die sich diese politischen Streiks richteten – ist wesentkich auch dadurch zustandegekommen, dass die PMDB, Bestandteil der Regierungskoalition der PT, sich mit der neoliberalen und Rechten Opposition verbündete – leicht, weil sie Großteils selbst solchen Strömungen anhängt. Von daher ist es nahe liegend dieses besonders reaktionäre Gesetz nicht als Einzelfall zu betrachten, sondern in Zusammenhang mit einem ganzen Paket von Arbeitsgesetzen, die die Regierung Ende 2014 (unter dem Eindruck der Wahlen) verabschiedet hatte und die allesamt entweder Rechte beschränken – oder die entsprechenden Zugangsmöglichkeiten. Von daher ist es nachzuvollziehen, dass Allianzen und Gemeinsamkeiten im Widerstand immer auch unter der Themenstellung „Kein einziges Recht weniger“ von Seiten der linkeren Kräfte diskutiert werden, wie es beispielsweise in der Stellungnahme „Dia 15 de abril: retomar as ruas contra as terceirizações“ der Volksbrigaden vom 13. April 2015 externer Link deutlich wird.

Das Nächste, was bemerkt werden muss ist, dass ausser der Força Sindical (eine sozialpartnerschaftliche Abspaltung aus der CUT schon in den 90er Jahren und bis heute zweitgrösster Verband) alle Gewerkschaftszentralen Streiks, Proteste und Mobilisierung mit beschlossen und mit getragen haben. Und mit ihnen zahlreiche soziale Bewegungen, weit über die „PT-Familie“ (also etwa Landlose MST oder Obdachlose MTST und andere) hinaus auch solche, die durchaus kritisch gegenüber der PT Regierung sind. Die Stellungnahme „Enquanto o PL 4330 não for a nocaute, CUT baterá no projeto, indica Vagner“ am 15. April 2015 bei der CUT externer Link gibt die Worte des CUT Vorsitzenden wieder, der unterstrich, der Kampf werde weitergehen, solange die PL 4330 nicht KO sei.

Bereits in dem Kurzbericht „Presidente do TST espera que PL 4.330 não resulte em precarização“ am 13. April 2015 bei Rede Brasil Atual externer Link wird deutlich, dass selbst der oberste Arbeitsrichter Brasiliens die Auffassung vertritt, eine Gesetzgebung, die die Prekarisierung verstärke sei nicht den bestehenden Bestimmungen entsprechend und müsse demzufolge zumindest verändert werden.

In der Stellungnahme „INTERSINDICAL EM LUTA CONTRA A TERCEIRIZAÇÃO E O PACOTE DO GOVERNO DILMA“ vom 15. April 2015 externer Link unterstreicht die Föderation Intersindical, dass ihr Widerstand der PL 4330 ebenso gilt, wie dem „Arbeitsgesetz-Paket“ der Regierung Rousseff die zusammen einen Generalangriff auf die Werktätigen Brasiliens ergäben.

(Zusammengestellt von Helmut Weiss am 16. April 2015)

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=78690
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