»
Bolivien »
»

Der Wahlkampf nach dem Putsch in Bolivien hat begonnen: Die kontinentale Rechte bewirbt den Faschisten Camacho, die amtierende Junta droht mit Wahlausschlüssen und die MAS geht ohne inhaltliche Änderungen in die Kampagne

Anti-Putsch-Plakat in Bolivien im November 2019Der Generalsekretär der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS), Luis Almagro, hat sich in der US-Hauptstadt Washington mit dem ultrarechten Politiker Luis Camacho aus Bolivien getroffen, um mit ihm über die derzeitige De-facto-Regierung zu sprechen, der er selbst gar nicht angehört. Thema war zudem die Vorbereitung der für den kommenden März angesetzten Präsidentschafts- und Parlamentswahlen. Almagro lobte nach dem Treffen Camachos „Engagement für die Demokratie“. (…) Derweil warnte die bolivianische De-facto-Regierung davor, dass die stark indigen geprägte Provinz Chapare von den neu angesetzten Präsidentschafts- und Parlamentswahlen ausgeschlossen werde, sollten die dort ansässigen Verbände der Kokabauern keine Präsenz von Polizeieinheiten zulassen. Die Polizei war dort nach dem Putsch von den dortigen Morales unterstützenden Kokabauern vertrieben, beziehungsweise war ihnen der Zugang verwehrt worden. Eine Art „Gewerkschaftpolizei“ der Indigenen übernahm die entsprechenden Aufgaben. Putsch-Innenminister Arturo Murillo erklärte, man werde keine Wahlen zulassen in einem Gebiet, in dem die staatliche Polizei nicht präsent ist. Dies sei weder legal noch verfassungsmäßig, so Murillo…“ – aus dem Beitrag „Rechter Hardliner aus Bolivien in den USA, Evo Morales in Argentinien“ von Jonatan Pfeifenberger und Harald Neuber am 13. Dezember 2019 bei amerika21.de externer Link – was erwarten lässt, dass sich noch weitere „Gründe“ für die Verweigerung der Wahlteilnahme finden lassen werden… Siehe dazu auch zwei Beiträge zur Situation „vor Ort“, sowie zwei Diskussionsbeiträge zur Entwicklung hin zum Putsch und möglichen Reaktionen und eine Reportage vom Kongress der MAS sowie den Hinweis auf unseren bisher letzten Beitrag zum Putsch in Bolivien:

„Nach dem Massaker in Senkata“ am 11. Dezember 2019 beim NPLA externer Link meldet zur Situation „vor Ort“ unter anderem: „… Die De-facto-Regierung setzt die Stimmen, die eine unabhängige Untersuchung fordern, unter Druck. Als der Interamerikanische Menschenrechtshof die Ereignisse untersuchen wollte, wurde von Anhänger*innen der Regierung der Eingang zum Tagungsort blockiert, Zeugen*innen sollten an der Aussage gehindert werden. Lokale Menschenrechtsorganisationen wie die Ombudsfrau für Menschenrechte Nadja Cruz oder die permanente Versammlung der Menschenrechte Boliviens erhalten ebenfalls Drohungen. Als eine Delegation aus Argentinien unter der Leitung von Juan Grabois Ende November das Land besuchte, warnte Ministerpräsident Arturo Murillo, man werde es nicht zulassen, dass „Ausländer aufrührerisch im Land tätig werden“, und man werde die Delegation „sehr genau beobachten“. Dass die Regierung mehr Interesse an Verschleierung als an Aufklärung hat, zeigt auch das Angebot, das sie den Familien der Toten gemacht hat. Jede Familie soll rund 6.500 Euro Entschädigung erhalten, wenn sie darauf verzichtet, den Fall vor ein internationales Gericht zu bringen. Dies soll im Rahmen der „Befriedung des Landes“ geschehen. (…)  Neben mindestens 34 Toten und 700 Verletzten sind unzählige MAS-Mitglieder, Mitarbeiter*innen der Wahlbehörde und andere Funktionäre verhaftet worden. Auch in wirtschaftlichen Fragen werden Fakten geschaffen. So verabschiedete die Regionalregierung Ende November im Beni ein neues Agrargesetz, das in Zukunft fast die Hälfte der Fläche des Departements als Agrarfläche ausweist. Die indigene Bevölkerung wurde dazu nicht konsultiert. Auch kritische Stimmen in der Presse werden massiv bedroht und angefeindet. Der bekannte Karikaturist Al-Azar hat aufgrund von massiven Drohungen gegen seine Familie aufgehört, in der Tageszeitung La Razón zu veröffentlichen. Hinter den Drohungen stecken immer häufiger paramilitärisch organisierte Gruppen, die den Comités Cívicos nahe stehen, wie die Resistencia Juvenil Cochala aus Cochabamba. Teile der neuen Machthaber*innen und ihre Unterstützer*innen versuchen zu verhindern, dass die MAS bei Neuwahlen antritt. Sie müssen befürchten, dass die Partei Morales bei einem erneuten Urnengang als Siegerin hervor geht…“

„The Bolivian coup regime can’t keep people scared forever“ am 15. Dezember 2019 im Twitter-Kanal von Ollie Vargas externer Link ist ein Demonstrationsvideo vom Tage – das deutlich macht, dass die Mobilisierungsfähigkeit gegen die Junta nach wie vor sehr groß ist

„Von Argentinien bis Bolivien“ von Gert Eisenbürger in der ila 431 externer Link (Dezember 2019) ordnet die Vorgänge historisch und regional ein und unterstreicht unter anderem: „… Politische Basis der MAS war (und ist) ein beträchtlicher Teil der indigenen Mehrheitsbevölkerung, die in dem von einer kleinen weißen Elite und einem mestizischen Kleinbürgertum getragenen bolivianischen Staat nie anerkannt und angemessen repräsentiert war. Bolivien war bis zu Beginn des 21. Jahrhunderts faktisch eine Apartheidgesellschaft, die durch die bürgerliche Revolution von 1952 nur sehr rudimentär aufgebrochen war.  So erhielten Indígenas damals zwar das allgemeine Wahlrecht, was aber nicht bedeutete, dass sie zu gleichberechtigten Bürger*innen geworden wären. Nun war und ist die indigene Basis der MAS keineswegs homogen, dazu gehören arme indigene Kleinbauern und -bäuerinnen, Bergarbeiter*innen, Beschäftigte in den kleinen, aber hochproduktiven Textilbetrieben in El Alto, aber ebenso die Eigentümer*innen selbiger, zu Wohlstand gekommene Cocabauern und -bäuerinnen, erfolgreiche indigene Markt- und Geschäftsfrauen, indigene Studierende und Intellektuelle und viele andere mehr. Das heißt, auch wenn ihr Name etwas anderes suggeriert, steht die MAS, ähnlich wie der Peronismus, für eine Klassenallianz und ein modernistisches Entwicklungskonzept. In einem Gespräch kurz vor seiner ersten Wahl erklärte uns der gerade gestürzte Vizepräsident Álvaro García Linera, die MAS sei auch nicht indigenistisch, auch wenn der Großteil ihrer Basis indigen sei. Sie strebe, anders als andere in den 90er-Jahren in Bolivien durchaus einflussreiche Gruppen, keinen indigenen Staat an, sondern stehe in gewisser Weise für die Vollendung der bürgerlich-nationalistischen Revolution von 1952. Auch der MAS ging es um eine nachholende Industrialisierung, deren Organisation im Wesentlichen in den Händen einer staatlichen Bürokratie liegen sollte. Ähnlich wie der historische Peronismus eine bis dahin politisch weitgehend ausgegrenzte Gruppe, nämlich die Armen und Arbeiter*innen, in den Fokus ihrer Politik stellte, tat dies die MAS mit den Indigenen. Aber in beiden Fällen waren die nun ins Zentrum gerückten Gruppen nur aktive Unterstützer*innen, nicht aber eigenständige Protagonist*innen des Wandels, wie übrigens auch in Venezuela, wo die städtischen Unterschichten in den Fokus der Regierungspolitik rückten. Anders als in Chile, wo es, vor allem 1972/73, eine Entwicklung gab, in der die organisierte Bevölkerung der Armenviertel und Teile der Arbeiter*innen die Organisation des Alltags, der Versorgung und der Produktion selbst in die Hand nahmen, lag dies sowohl im peronistischen Argentinien als auch im heutigen Bolivien und Venezuela immer in den Händen des bürokratischen Apparats der herrschenden Parteien...“

„Warnsignale aus dem Herzen Lateinamerikas“ von Marco Paladines am 10. Dezember 2019 bei analyse&kritik externer Link (Ausgabe 655 vom Dezember 2019) hält zur aktuellen Entwicklung und ihrer Vorgeschichte fest: „… Die jüngsten Ereignisse sind eine Art explosive Zusammenfassung der bolivianischen Politik seit dem Wahlsieg des MAS im Dezember 2005. Der überparteiliche soziale Kampf gegen die Privatisierung der natürlichen Ressourcen beseitigte die Legitimität des Washingtoner Konsenses im Land. Evo Morales zeigte nicht nur, dass eine indigene Person zum ersten Mal Präsident eines mehrheitlich indigenen Landes werden konnte, sondern auch, wie eine postneoliberale Politik aussehen könnte. Dies geschah im Zusammenhang mit dem Aufstieg des lateinamerikanischen Progressismus zu Beginn unseres jungen Jahrhunderts. Ähnlich wie Hugo Chávez in Venezuela oder Rafael Correa in Ecuador nahm Morales eine antiimperialistische und souveräne Position ein. Die bolivianischen Oligarchien, die mit der US-Außenpolitik für Lateinamerika, der so genannten »Back-Yard-Politik«, im Einklang standen, wurden die Gegner im Diskurs des MAS. So entstand die Polarisierung zwischen einer national-souveränen Position und einer, die pro Washington und neoliberal ist. Doch langsam begann auch die Kritik von Sektoren zu kommen, die immer weniger von der Regierung gehört wurden und die sich verraten fühlten. Indigene Verbände, Frauenkollektive und ökologische Bewegungen wurden häufig ignoriert, vielfach schlug ihnen Repression und Intoleranz entgegen. Sie kritisierten, dass die Regierung ihre Politik auf die Intensivierung des Extraktivismus stützte, also auf die Vertiefung der Rolle des primären Sektors, hauptsächlich des Bergbaus. Was Erdölexporte für Ecuador und Venezuela bedeuten, sind für Bolivien Metalle und zukünftig Lithium. Die praktische Abhängigkeit vom internationalen Markt der Rohstoffe unterminiert alle möglichen Diskurse über Souveränität. Und das auf Kosten der Rechte der indigenen Völker und der irreversiblen Zerstörung der Natur. Die einzige Art und Weise, einen Ausweg aus dieser Situation zu finden, besteht darin, vereinfachte und schwarz-weiße Analysen zu vermeiden. Die Regierung Morales wirft anderen linken und progressiven Gruppen vor, sie seien Alliierte der Rechten, wenn sie MAS nicht unkritisch und bedingungslos unterstützten. »Entweder seid ihr mit uns oder seid ihr gegen uns!« Alles ist entweder schwarz oder weiß. Soll die Regierung Morales trotz aller Korruptionsskandale, trotz der Einmischung in den Wahlprüfungsausschuss, trotz der Repression gegen die indigenen Völker, trotz der Gefährdung des Nationalparks TIPNIS und trotz des respektlosen Umgangs mit Frauen unterstützt werden? Nein. Im gleichen Maße muss man trotzdem anerkennen können, dass die Regierung Morales die erfolgreichste in der Geschichte Boliviens gewesen ist, was Reichtumsverteilung und Armutsbekämpfung angeht. Außerdem, und das geht über Evo Morales selbst hinaus, ist seine Präsidentschaft ein symbolischer Wendepunkt für die Aymara-Bevölkerung und die indigenen Völker in ganz Amerika. Die Kraft dieser Wende lässt sich besser im Kulturfeld erkennen, wo beispielsweise die Aymara-Mode oder die Neo-Andine-Architektur Freddy Mamanis ein beispielloser Versuch sind, die eigene Identität in zeitgenössischen, urbanen Zeiten wiederzubeleben. Während der MAS-Amtszeit ist innerhalb der Zivilgesellschaft eine neue politische Sensibilität entstanden: Sie will weder die unkontrollierte Macht der Progressisten noch die Rückkehr zum Land der Oligarchen. Und vor allem: kein Blutvergießen! Weder im Namen der Mächtigen, die Gerechtigkeit ohne Freiheit anbieten, noch im Namen der Reichen, die Freiheit ohne Gerechtigkeit befürworten. Gerechtigkeit ohne Freiheit mündet in die Repression der Andersdenkenden, eröffnet den Weg in den Autoritarismus und entkoppelt eine immer empfindungslosere und arrogante Machtelite von ihrer sozialen Basis, aus der die einzige demokratische Legitimation letztendlich stammt…“

„Bolivie : le MAS en campagne électorale“ von Fabien deglise am 10. Dezember 2019 bei Europe Solidaire externer Link dokumentiert, ist ein Bericht über den Wahlkongress der MAS und die Kampagne zur Nominierung des Kokabauern Andrónico Rodríguez als Kandidaten der Partei (der aus jener Region kommt, die die Junta gerne von der Wahl ausschließen möchte). Der die Föderation der Kokabauern faktisch leitet (deren Präsident immer noch Evo Morales ist) und nach dem Kongress auf Reise durch das Land geht, wo er von allen gewerkschaftlichen Organisationen eingeladen sei, sich vorzustellen und zu debattieren.

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=159426
nach oben