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Der Versuch des algerischen Regimes mit einer Übergangsregierung ist gescheitert

Eine Demonstration in Algier am 26.2.2019 - nicht nur an den Freitagen wird gegen das "5. Mandat" für Bouteflika protestiert...Inmitten einer Protestwelle gegen die Führung des Landes hat Algeriens altersschwacher Präsident Abdelaziz Bouteflika eine Übergangsregierung ernannt. Das neue Kabinett besteht demnach aus 27 Ministern. Sechs von ihnen gehörten auch der alten Regierung an, die nach den Protesten in dem nordafrikanischen Land zurückgetreten war. Ministerpräsident ist der 59 Jahre alte Noureddine Bedoui, wie die staatliche algerische Nachrichtenagentur APS meldete. Bedoui hatte Mitte März eine Regierung aus Experten versprochen, in der alle politischen Spektren vertreten sein sollten. Zahlreiche Politiker lehnten es aber ab, in das Kabinett einzutreten. Die Proteste richteten sich auch gegen seine Ernennung zum Regierungschef. (…) Das einflussreiche Militär rückt mittlerweile von Bouteflika ab. Generalstabschef Ahmed Gaid Salah forderte das Verfassungsgericht und das Parlament auf, Artikel 102 der Verfassung zu aktivieren. Damit kann der Präsident aus gesundheitlichen Gründen für amtsunfähig erklärt und abgesetzt werden. Salah behält in der neuen Regierung sein Amt und bleibt Vize-Verteidigungsminister…“ – aus der Meldung „Bouteflika ernennt Übergangsregierung“ am 31. März 2019 bei Spiegel online externer Link über einen weiteren Versuch, die Massenproteste einzudämmen. Siehe in der erneuten Materialsammlung zu Algerien vier weitere aktuelle Beiträge, ein Demonstrationsvideo, sowie zwei Hintergrundbeiträge zur Geschichte von sozialen Protesten der letzten Zeit in Algerien und zur Situation im Öl- und Gassektor samt einstweilen gestoppter Privatisierungspläne – und den Hinweis auf den bisher letzten unserer zahlreichen Beiträge:

„Haut ab!“ von Sabine Kebir in der Ausgabe 13/2019 des Freitag externer Link unter anderem zur Reaktion auf diese angeblich neue Regierung: „… Niemand scheint groß davon beeindruckt zu sein, dass die Regierung zurückgetreten ist und der als Premier nominierte Ex-Innenminister Noureddine Bedoui ankündigt, sein Kabinett werde aus Spezialisten, jungen Menschen und größtenteils Frauen bestehen. Eine Mehrheit der Widerständler vermutet, es werde sich letzten Endes um Marionetten eines Systems handeln, dessen Ökonomie aus Staats- und Privatbetrieben gleichermaßen besteht. Erstere arbeiten weitgehend unwirtschaftlich, weil sie – um die Arbeitslosenquote zu vermindern – mehr Personal beschäftigen, als vernünftig wäre. Der private Sektor wiederum besteht aus kleinen, mittleren oder bereits sehr mächtigen Unternehmen, die – wie häufig in den postsozialistischen Ländern Europas – aus illegalen Transaktionen in einer Umbruchphase entstanden sind und an illegalen Praktiken festhalten. Dabei ahndet die algerische Justiz ständig große Wirtschaftsvergehen, wie im Augenblick, da sich die Ermittler mit der Verwicklung zahlreicher hoher Kader – Ex-Minister, Militärs und Geheimdienstler – in den internationalen Drogenhandel beschäftigen. Es kam heraus, dass diese Kreise etwas mit den 700 Kilo Kokain zu tun haben, die im August 2018 am Hafen von Oran entdeckt wurden. Unabhängige Medien sind davon überzeugt, dass es sich nur um die Spitze des Eisbergs handelt…

„Algerien: Weiter Massenproteste gegen das Alte“ von Thomas Pany am 30. März 2019 bei telepolis externer Link zu den Protesten am „sechsten Freitag“: „Gestern war es der sechste Freitag in Folge, wieder haben Massen die Straßen gefüllt. Nicht nur in der Hauptstadt Algier, sondern in allen Provinzen (wilayat), wie es TSA (Tout sur l‘ Algérie), berichtet „Alles über Algerien“): „Die Demonstrationen haben sich ruhig abgespielt – in allen Verwaltungsbezirken des Landes. Kein einziger bemerkenswerter Vorfall wurde registriert. Die Mobilisierung ist noch stärker als am vergangenen Freitag.“ (…) Genaue Zahlen gibt es nicht, aber das ist auch gar nicht notwendig, weil die Mobilisierung für sich spricht. Wie immer zeigen Bilder von dichtgedrängten Menschenmengen im Zentrum von Algier und anderen Orten: Oran, Constantine, Annaba, Relizane, Biskra, Mostaganem, Sétif, Bejaia, Bouira, Boumerdes, Tizi Ouzou, Sid Bel Abbès, Oran, Tiaret, Tebessa, Saida, Adrar, etc. Die Bilder dokumentieren die nächste geschichtliche Etappe, die sich nach dem Unabhängigkeitskrieg gegen Frankreich und dem Bürgerkrieg in den 1990er Jahren in die kollektive Erinnerung einschreiben wird.  Hunderte von Verlobungen wurden eingegangen, hieß es vergangene Woche. Die Proteste sind auch ein Fest. Der Enthusiasmus, der die Proteste trägt, wird in vielen Berichten als Charakteristikum herausgestellt. Wie lange kann das gut gehen? Gestern gab es Bilder von Wasserwerfern der Polizei, die den Zugang zum Boulevard Mohamed V. am Place Audin in Algier abriegelten. Es ist nicht der einzige Ort, wo die Sicherheitskräfte seit mehreren Wochen schon aufpassen, dass die Massen sich nicht ungeordnet verbreiten und Meuten bilden könnten, die sich an politisch neuralgischen Orten zu schaffen machen, etwa beim Regierungspalast oder dem Sitz von „Sonelgaz“. Das staatliche Energieversorgungsunternehmen, ein Monopolist im öl- und erdgasreichen Algerien, mit engen Wirtschaftsbeziehungen zu den USA steht für das, wogegen die Proteste letztlich zielen: „Le Pouvoir“, zu Deutsch „die Macht“, der Klüngel, der das Land kontrolliert und das, was es abwirft, und das ist vor allem das Einkommen aus der Erdöl- und Erdgasförderung, als Löwenanteil unter sich verteilt…

„Algier 29. März“ am 29. März 2019 im Twitter-Kanal von El Sonah externer Link ist eines der immens zahlreichen Videos von den Protesten am sechsten Freitag in Folge, die allesamt deutlich machen, dass die Teilnahmezahlen an den Protesten und Demonstrationen auch in dieser sechsten Woche weiter ansteigen.

„Algérie: l’armée met en garde des «forces malintentionnées» non nommées“ am 31. März 2019 bei RFI externer Link ist eine Meldung über einen neuen drohenden Vorstoß der Armee, die sich gegen „Kräfte mit schlechten Absichten“ wendet, womit alle gemeint sein können, die dem Regime nichtgenehm sind.

„Sixth Friday mass protest in Algeria demands fall of the regime“ von Alex Lantier am 30.März 2019 bei wsws externer Link ist ein Beitrag über den sechsten Protestfreitag, der neben parteipolitischen Positionierungen auch ein Schwergewicht hat bei der Berichterstattung über nach wie vor stattfindende oder in Vorbereitung befindliche Streiks auf der einen Seite – und auf der anderen Seite berichtet, wie nach wie vor der Gewerkschaftsbund UGTA mehrheitlich versucht, alles zur Unterstützung des Regimes zu mobilisieren, trotz der Gefahr des eigenen Untergangs.

„Protesting Politics in Algeria“ von Amir Mohamed Aziz am 26. März 2019 bei Merip externer Link ist ein Beitrag, der versucht, die verbreitete Behauptung, die aktuellen Proteste kämen sozusagen aus dem Nirgendwo oder überraschend, zu relativieren. Er tut dies, indem er einmal die revolutionäre Tradition in Algerien kurz skizziert und zum anderen, indem unterstrichen wird, dass auch in den letzten Jahren bereits die soziale Entwicklung im Lande immer wieder zu Protesten geführt habe, weitaus kleineren zwar, aber kontinuierlich.

„La dépendance de l’Algérie aux hydrocarbures est immense“ von Nabil Wakim am 29. März 2019 bei Europe Solidaire externer Link dokumentiert (ursprünglich auf Abo in Le Monde) ist ein Beitrag, der sich mit dem mit Abstand wichtigsten Wirtschaftszweig Algeriens befasst, und dabei festhält, dass trotz verschiedener Proteststreiks bei Sonatrach die Produktion bisher nicht unterbrochen worden sei – wohl aber die Schritte, die das Regime geplant hatte, um internationale Ölkonzerne an den Ölfeldern in der Sahara zu beteiligen, insbesondere bei den verschiedenen Fracking-Projekten, die seit längerem verfolgt werden. (Siehe dazu beispielsweise „Solidaritätserklärung mit den DemonstrantInnen gegen Fracking in Südalgerien“ am 11. März 2015 im LabourNet Germany).

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=146684
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