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Algerien fünf Jahre nach dem Beginn der mehrmonatigen Massenproteste: Die Schwäche unabhängiger Gewerkschaften und sozialer Akteure wird bemängelt…

Der Hirak in Algerien lebt: Trotz Versammlungsverbots und Repression geht die Protestbewegung weiter...„… Amtsinhaber Abdelmadjid Tebboune, er wurde beim letzten Mal mit offiziell 58 Prozent der abgegebenen Stimmen gewählt, dürfte erneut zur Präsidentschaftswahl antreten und sich für seine Wiederwahl bewerben. (…) Am Samstag, den 23. Februar dieses Jahres diskutierten darüber die Vertreter von vier algerischen Oppositionsparteien, zusammen mit denen von acht Nichtregierungsorganisationen und Vereinigungen der „Zivilgesellschaft“, in einem (als selbstverwaltetes Kulturzentrum dienenden) Hafengebäude im Pariser Seine-Hafenbereich. In Algerien selbst wäre dies so nicht möglich gewesen. Dort erlaubt es derzeit das Parteiengesetz den zugelassenen politischen Parteien zwar, interne Versammlungen an ihrem jeweiligen Zentralsitz abzuhalten. Externe Organisationen wie etwa Gewerkschaften oder Menschenrechtsvereinigungen dort zu empfangen, ist ihnen jedoch verboten, ebenso wie ihnen Saalveranstaltungen außerhalb ihrer Gebäude quasi unmöglich gemacht werden…“ Artikel von Bernard Schmid vom 6. März 2024 – wir danken!

Algerien fünf Jahre nach dem Beginn der mehrmonatigen Massenproteste:

Oppositionsparteien versammeln sich und diskutieren über diesjährige Wahl. Ein Fehlen wird bemerkt:
Die Schwäche unabhängiger Gewerkschaften und sozialer Akteure wird bemängelt…

Fünf Jahre ist es nun auch schon wieder her, dass Algerien beeindruckende Bilder um die Welt sandte. Millionen Menschen gingen in dem nordafrikanischen Land ab dem 22. Februar 2019 und über mehrere Wochen hindurch auf die Straße, um die Kandidatur und damit die Wiederwahl des damaligen Staatspräsidenten Abdelaziz Bouteflika zu verhindern. Es wäre für den aus Alters- und Gesundheitsgründen bereits amtsunfähigen, mittlerweile verstorbenen Bouteflika die fünfte Amtszeit gewesen. Zu ihr drängte ihn vor allem dessen Umgebung, die weiterhin an den Netzwerken der Korruption partizipieren mochte; eine Schlüsselrolle spielte dabei Abdelaziz‘ Bruder Said Bouteflika. Dazu kam es nicht, Abdelaziz Bouteflika musste abdanken. Sein Bruder verbüßt heute eine acht- und eine weitere zwölfjährige Haftstrafe wegen ungerechtfertigter Bereicherung, Amtsmissbrauchs, Geldwäsche, aber auch wegen „Unterminierung der Autorität des Staates und der Armee“.

Die als Hirak eine Dialektform des arabischen Begriffs harakat für „Bewegung“ – bezeichnete Protestmobilisierung dauerte rund ein Jahr, bis im Frühjahr 2020 die Machthaber die günstige Gelegenheit der Covid-19-Pandemie nutzten, um mittels Ausgangssperren die Dynamik zu brechen. Ein Versuch der Wiederbelebung im Frühjahr 2021 scheiterte. Zumindest für mehrere Monate war bis dahin in breiten Kreisen die bleierne Decke der Furcht vor Repression, Berufsverbot und Drangsalierung abgeschüttelt worden.

Bis heute bemerkenswert bleibt dabei, dass die Proteste allgemein gewaltlos blieben, was allgemein als eine Lehre aus den Jahren der erzwungenen Öffnung des vormaligen Ein-Parteien-Staats in den Jahren 1988 bis 1991 betrachtet wird. Damals hatten es islamistische Strömungen, die in der heterogenen Sammlungspartei Islamische Rettungsfront (FIS) – innerhalb derer die salafistische Strömung unter dem Chefideologen Ali Belhadj den Ton abgab – zusammenliefen, vermocht, die verbreitete gesellschaftliche Frustration in gewaltförmiger Weise zu mobilisieren und zugleich ideologisch zu kanalisieren. Ihr Zusammenstoß mit der Staatsmacht führte daraufhin 1992 zum Abbruch der Demokratisierung, der Auflösung gewählter Institutionen von der Nationalversammlung bis zu Kommunalparlamenten, einer knapp zehnjährigen Militärregierung und einem blutigen Bürgerkrieg bis zur Jahrtausendwende. Diese Erfahrung wollen breite Krise, von ihren Gegnern bis hin zu früheren Sympathisanten der Islamisten, nicht wiederholen.

Vor Repression verschonte dies Anhänger und Aktivistinnen des Hirak jedoch nicht. Zwischen 300 und 350 „Meinungsgefangene“, also politische Häftlinge, die keine Gewalt zur Verfolgung ihrer Ziele eingesetzt hatten, zählte das Land auf dem Höhepunkt der Repression 2021/22. Ihre Mehrzahl hat inzwischen die oft ein- bis dreijährigen Haftstrafen verbüßt. Von ihnen wurden 160 bei verschiedenen Gelegenheiten vorzeitig begnadigt, 107 kamen seit Anfang 2023 ohne Gnadenakt frei. (https://www.amnesty.org/fr/latest/news/2024/02/algeria-five-years-after-hirak-protest-movement-repressive-clampdown-continues-unabated/ externer Link)

Noch immer sitzt etwa Brahimi Laalami ein. Der Schneider war als einer der Ersten, einige Tage vor dem Beginn der Massenbewegung im Februar 2019, in der Stadt Bordj Bou Arreridj – „BBA“ – allein mit seinem Transparent gegen Bouteflika auf die Straße gegangen. Seine erste Haftstrafe wegen „Präsidentenbeleidigung“ endete 2020 mit einer Strafverkürzung. Laalami versuchte außer Landes zu fliehen, setzte im Juni 2021 auf einem Boot über das Mittelmeer über und wurde im Rahmen einer theoretisch illegalen „Pushback“-Aktion durch die spanischen Behörden zurückgeschickt und an die algerischen Behören übergeben. Im vorigen Jahr wurde er unter dem Vorwand angeblicher Drogendelikte, welche er vehement bestreitet, nun zu acht Jahren Haft verurteilt. (https://www.jeuneafrique.com/1539819/politique/2019-2024-que-sont-devenus-les-visages-du-hirak/ externer Link)

Ebenfalls zum fünften Mal jährt sich im kommenden Dezember die Präsidentschaftswahl, mittels derer das algerische Regime sich damals wenige Monate nach der abgebrochenen, durch den Rückzug Abdelaziz Bouteflikas notgedrungen verschobenen Wahl zu konsolidieren versuchte. Auch nach offiziellen, eventuell aufgeblähten Angaben hatten sich an jenem 12.12.2019 nur knapp unter vierzig Prozent der Stimmenberechtigten an ihr beteiligt – und weniger noch beim Referendum im November 2020, das ein Jahr später eine überarbeitete, modernisierte Verfassung vom Wahlvolk absegnen lassen sollte. Damals gingen auch laut offiziellen Zahlen nur 23 Prozent der Stimmbevölkerung zur Urne.

Amtsinhaber Abdelmadjid Tebboune, er wurde beim letzten Mal mit offiziell 58 Prozent der abgegebenen Stimmen gewählt, dürfte erneut zur Präsidentschaftswahl antreten und sich für seine Wiederwahl bewerben. Er wird bis dahin 79-jährig sein. Dabei spaltet jetzt schon die Opposition über die Frage einer Teilnahme oder Nichtteilnahme an einer Wahl, die von vielen in ihren Reihen als „abgekartetes Plebiszit zur formal-demokratischen Legitimation des Regimes“ betrachtet wird.

Am Samstag, den 23. Februar dieses Jahres diskutierten darüber die Vertreter von vier algerischen Oppositionsparteien, zusammen mit denen von acht Nichtregierungsorganisationen und Vereinigungen der „Zivilgesellschaft“, in einem (als selbstverwaltetes Kulturzentrum dienenden) Hafengebäude im Pariser Seine-Hafenbereich. In Algerien selbst wäre dies so nicht möglich gewesen. Dort erlaubt es derzeit das Parteiengesetz den zugelassenen politischen Parteien zwar, interne Versammlungen an ihrem jeweiligen Zentralsitz abzuhalten. Externe Organisationen wie etwa Gewerkschaften oder Menschenrechtsvereinigungen dort zu empfangen, ist ihnen jedoch verboten, ebenso wie ihnen Saalveranstaltungen außerhalb ihrer Gebäude quasi unmöglich gemacht werden.

Und so diskutierten mehrere offizielle Vertreterinnen und Vertreter der Union für den Wechsel und den Fortschritt (UCP) sowie der beiden berberisch geprägten Parteien RCD – Sammlung für Kultur und Demokratie; gemeint ist vor allem die Verteidigung der Berberkultur – und FFS (Front der sozialistischen Kräfte. Letztere ist der so genannten Sozialistischen Internationale SI, eines weltweiten Zusammenschlusses sozialdemokratischer Parteien einschließlich der deutschen SPD, die dort allerdings seit 2014 inaktiv ist.

Aus Sicherheitsgründen nicht offiziell, jedoch faktisch vertreten war die kleinere Sozialistische Arbeiterpartei (PST): Die aus dem undogmatischen Trotzkismus kommende Formation ist seit Januar 2022 vom algerischen Conseil d’Etat, dem obersten Gerichtshof im Verwaltungs- und öffentlichen Recht, „suspendiert“ worden, ihre Betätigung ist verboten und ihre Räumlichkeiten stehen unter Beschlagnahmung. Hintergrund ist ihre aktive Beteiligung an der Protestbewegung seit 2019. (https://www.amnesty.org/fr/latest/news/2022/02/algeria-authorities-target-political-parties-in-their-latest-clampdown/ externer Link) Einen ähnlichen Antrag des Innenministeriums gegen die UCP lehnte der Conseil d’Etat am selben Tag ab, und über einen weiteren gegen die aus der verschwundenen, früher pro-sowjetischen KP hervorgegangene kleine Linkspartei MDS (Demokratische und soziale Bewegung) entschied sie erst zwei Jahre später. Seit Februar 2023 ist nun auch dem MDS die aktive politische Betätigung via „Suspendierungs“beschluss untersagt; dessen Sprecher, Fethi Ghares, war im Januar 2022 wegen seiner Rolle im Hirak zu zweijähriger Haft verurteilt worden.

Derzeit strebt nun vor allem die UCP eine Teilnahme an der kommenden Wahl an. Es handelt sich um die Partei von Zoubida Assoul, einer 1956 geborenen früheren Richterin im Familienrecht, die heute als Anwältin tätig ist. Zur Verteidigung von politischen Gefangenen und Mitgliedern des Hirak legte sie von 2019 bis 2021 insgesamt 40.000 Straßenkilometer zurück, großenteils war sie ehrenamtlich tätig. 

Wie einer ihrer Vertreter im Raum am Samstag ausmalte, wäre es, möchte man Aussichten auf einen demokratischen Machtwechsel haben, erforderlich, ausreichend Basisaktivisten zu mobilisieren, um „die insgesamt 53.135 Wahllokale im Land zwölf Stunden lang zu überwachen“. Wird diese Voraussetzung erfüllt, könne man das Regime darüber zu Fall bringen. Andere Teilnehmerinnen und Organisationen hielten dies für eine Illusion und glauben nicht an eine Mobilisierung am Jahresende, so lange die meisten Medien ebenso wie die Säle für die Oppositionskräfte verschlossen bleiben.

Die UCP hat bislang selbst noch nie an einer Wahl teilgenommen, plante jedoch vor der im April 2019 abgebrochenen Präsidentschaftsrunde, den damaligen Kandidaten Ali Ghediri zu unterstützen. Bei ihm handelte es sich um einen in „Dissidenz“ eingetretenen Militär – wegen Teilnahme an den Protesten des Hirak erhielt er mittlerweile sechs Jahre Haft – und ehemaligen Personaldirektor im Verteidigungsministerium, den viele jedoch auch verdächtigten, als Strohmann des durch Abdelaziz Bouteflika 2015 geschassten, zuvor einflussreichen Chefs des mächtigen Inlandsgeheimdiensts, Mohamed Lamine Mediène alias „Toufik“ zu kandidieren. So sehen oftmals Kompromisse unter der algerischen Diktatur, auch in den Reihen der Opposition aus.

FFS und PST zeigten sich bei der Runde wenig optimistisch zu einer solchen Perspektive und legten geringen Enthusiasmus für einen Gang zu den Wahlen an den Tag. Der RCD blieb dazwischen auf einer Position, die Bedingungen für eine Wahlteilnahme wie die Gewährleistung eines echten Medienpluralismus formulierte, ohne dabei eine Strategie zu ihrer realen Durchsetzung zu benennen.

Teilnehmer im Saal monierten die schwache Betonung der Rolle von sozialen Kräften wie etwa unabhängigen Gewerkschaften – der Begriff syndicats autonomes bezeichnet dabei jene Beschäftigtenorganisationen, die außerhalb des staatsabhängigen Gewerkschaftsdachverbands UGTA stehen, dessen Spitze bis zuletzt Bouteflika unterstützt hatte – in der Opposition. Um diese steht es derzeit jedoch nicht zum Besten. Durch die aktuell anhaltende Repression können sie sich real jedoch kaum betätigen. Vor allem aber hatten sie es trotz unternommener Versuche nicht vermocht, die Protestbewegung von 2019 entscheidend zu prägen. Wie der informell für seine Partei sprechende PST-Vertreter am Samstag formulierte, nahmen „abhängig Beschäftigte zwar zusammen in vielen Städten an den Demonstrationen teil, jedoch meist nicht unter eigenen Losungen und nicht unter den Fahnen ihrer Gewerkschaften“. Viele schwammen eher in einer Protestbewegung mit, die sich in ihrer Mehrheit als demokratisch und zugleich klassenübergreifend verstand.

Ein Grund dafür ist, dass im Hirak sowohl soziale Basiskräfte und Linke eine Rolle spielten als auch eine liberale Opposition, die das algerische System vor allem als ein staatsbürokratisches vergleichbar dem der verschwundenen UdSSR begreift und glaubt, zuerst eine Demokratisierung und Liberalisierung wie in Osteuropa nach 1989 durchführen zu müssen, bevor sich später dann auch soziale Interessen artikulieren könnte. Die Islamisten ihrerseits hielten sich, angesichts verbreiteter Befürchtungen aufgrund ihrer früheren Rolle in den neunziger Jahren, zu Hochzeiten des Hirak vorwiegend zurück und versuchten eher als stille Teilhaber im Hintergrund auf ihre eventuelle Stunde zu warten.

Im erkennbaren Unterschied zu den Staaten des sowjetischen Blocks von vor 1989 grenzt die an führender Stelle regierende Staats- und Militärbürokratie die privatwirtschaftlich organisierte Bourgeoisie jedoch nicht aus, sondern räumt ihr zahlreiche ökonomische Spielräume ein, ebenso wie sie auch mehrere der größten privaten Zeitungstitel besitzt. Aufgrund der starken Stellung der Erdöl- und Erdgasrente in der algerischen Ökonomie reichte dies den Inhabern von Privatkapital allerdings bislang nicht dazu aus, auch die politische Macht an zentraler Stelle auszuüben.

Das Regime selbst ist jedoch seit einem Vierteljahrhundert zwischen zwei Optionen hin- und hergerissen: einem Verbleib unter staatsbürokratischer Kontrolle, was ihm bei hohen Rohölpreisen möglich ist, das Regime jedoch von den einflussreichsten westlichen Mächten entfernt – oder einer weitgehenden ökonomischen Öffnung des Landes auch für internationales Kapital und ausländische Direktinvestitionen ähnlich wie in Marokko und Tunesien. Dies würde die eigenständigen Handlungsspielräume des Regimes gegenüber internationalen Entscheidungsträgern einschränken.

Bislang konnten sich weder Regierung noch Opposition für ein klares ökonomisches Profil entscheiden. Dies trägt zu einer anhaltenden Diffusität der sozio-ökomischen Frontstellungen mit bei.

Artikel von Bernard Schmid vom 6. März 2024 – wir danken!

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=218723
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