Stadt Offenbach: Stigmatisierende Gesundheitsberatung von Sexarbeiter/innen in der Abteilung ‚Sozialpsychiatrie‘

Dossier

Sexarbeit ist ArbeitIn einem „Offenen Brief“ hat Doña Carmen e.V., Verein für die rechtlichen und sozialen Interessen von Prostituierten, die Offenbacher Gesundheitsdezernentin Sabine Groß (Bündnis 90 / Die Grünen) aufgefordert, im städtischen Gesundheitsamt die Zuständigkeit der ‚Fachberatung Psychosoziale Gesundheit / Sozialpsychiatrie‘ für die obligatorische Gesundheitsberatung von Sexarbeiter/innen umgehend zu beenden. Die ‚Fachberatung Psychosoziale Gesundheit / Sozialpsychiatrie arbeitet auf Grundlage von § 7 HGöGD und richtet ihre Angebote an „Menschen mit psychischen Krankheiten, Abhängigkeitserkrankungen und seelischen und geistigen Behinderungen sowie hiervon bedrohte Menschen“. Dass Sexarbeiter/innen aufgrund ihrer Berufsausübung per se in diese Kategorie gehören, wird niemand ernsthaft behaupten wollen. Die institutionelle Zuordnung der gesundheitlichen Zwangsberatung von Sexarbeiter/innen zur Sozialpsychiatrie ist ausgesprochen problematisch und geeignet, Angehörige einer ganzen Berufsgruppe pauschal als „behindert“ bzw. „krank“ einzustufen. Die Verbreitung eines von Vorurteilen geprägten Bildes von Sexarbeit wird damit billigend in Kauf genommen. Dies verbietet sich schon deshalb, weil Prostituierten im Nationalsozialismus aus politisch motiviertem Ressentiment seitens der Ärzteschaft nur allzu bereitwillig „moralischer Schwachsinn“ attestiert wurde, um sie anschließend als „Asoziale“ stigmatisieren, aufgreifen und internieren zu können...“ Pressemitteilung von Doña Carmen e.V. vom 31.1.2019 externer Link und der Offene Brief sowie nun die Reaktionen:

  • Öffentliche Zivilgesellschaftliche Anhörung: So kann man mit Menschen nicht umgehen! New
    Zivilgesellschaftliche Anhörung zur Frage: „Sollen Sexarbeiter/innen von Amts wegen gezwungen werden, regelmäßig den ‚Sozialpsychiatrischen Dienst‘ aufzusuchen?“
    Seit Sommer 2017 müssen sich Frauen, die hierzulande der Prostitution nachgehen, vor Aufnahme ihrer Tätigkeit und anschließend in regelmäßigen Abständen von sechs bzw. zwölf Monaten gemäß § 10 Prostituiertenschutzgesetz einer gesundheitlichen Zwangsberatung unterziehen. Die Sinnhaftigkeit dieser Maßnahme war schon bei ihrer Einführung hoch umstritten. Nun aber haben darüber hinaus die politisch Verantwortlichen von zwei hessischen Städten – Marburg/Lahn und Offenbach/Main – diese obligatorische Beratung dem ‚Sozialpsychiatrischen Dienst‘ übertragen. Dieser ist laut § 7 Abs. 3 Hessisches Gesetz für den Öffentlichen Gesundheitsdienst nur für psychisch kranke, geistig behinderte oder in dieser Hinsicht akut gefährdete Menschen zuständig. (…) Wir von Doña Carmen e.V. finden: So geht das nicht. Keine andere Berufsgruppe hierzulande wird vor Aufnahme ihrer Tätigkeit von Amts wegen erst mal an den ‚Sozialpsychiatrischen Dienst‘ verwiesen. Was soll diese eklatante, diskriminierende Ungleichbehandlung von Sexarbeiter/innen? Hat man etwa vergessen, dass Prostituierte im vergangenen Jahrhundert von führenden Vertretern der Psychiatrie des „moralischen Schwachsinns“ bezichtigt und in der Folge unter dem Nationalsozialismus als „Asoziale“ verfolgt, inhaftiert und zu Zwangsarbeiten herangezogen wurden? (…) Wir würden gerne mit Ihrer Hilfe eine Änderung dieser behördlichen Praxis erreichen. Sie darf auf keinen Fall Schule machen. Aus diesem Grund startet Doña Carmen e.V. eine ‚zivilgesellschaftliche Anhörung‘. Das heißt: Wir bitten Sie, die hier benannte behördliche Praxis der Gesundheitsämter in Marburg und Offenbach zu kommentieren unter der Leitfrage: Ist es richtig, dass die obligatorische Gesundheitsberatung von Sexarbeiter/innen bei einem ‚Sozialpsychiatrischen Dienst‘ erfolgt?
    …“ Aufruf vom 21. Mai 2019 bei Dona Carmen e.V. externer Link
  • Prostituierte zum Sozialpsychiatrischen Dienst? Marburg mauert, Offenbach prüft 
    Ende Januar 2019 hat Doña Carmen e.V. öffentlich darauf hingewiesen und kritisiert, dass in Marburg und Offenbach die seit Juli 2017 geltende gesundheitliche Zwangsberatung von Sexarbeiter/innen nach § 10 Prostituiertenschutzgesetz unter die Zuständigkeit des Sozialpsychiatrischen Dienst der jeweiligen Gesundheitsbehörden fällt. Während die Stadt Offenbach diesen Sachverhalt auf der städtischen Website offen benennt, praktiziert die Gesundheitsbehörde des Landkreises Marburg-Biedenkopf dies klammheimlich. Nicht auf der Website oder in den Informationsmaterialien, wohl aber in der Korrespondenz mit den Betroffenen und ihrem Umfeld wird die problematische Zuständigkeit des Sozialpsychiatrischen Dienstes offensichtlich. (…) Der Landkreis Marburg-Biedenkopf und die Stadt Offenbach haben auf die Kritik von Doña Carmen sehr unterschiedlich reagiert. Offenbachs zuständige Sozialdezernentin Sabine Groß (Bündnis 90 / Die Grünen) hat am 1. Febr. 2019 umgehend geantwortet. Sie hat sich für das Schreiben von Doña Carmen bedankt und erklärt, eine Prüfung der Angelegenheit zu veranlassen, über deren Ergebnisse sie zeitnah informieren will. Doña Carmen begrüßt diese Prüfung und hofft, dass die von uns vorgetragenen Argumente gewürdigt und die Zuständigkeiten umgehend geändert werden. Anders in Marburg. Dort hat die zuständige Landrätin Fründt (SPD) gegenüber dem Politikmagazin zwd die von ihr zu verantwortende Praxis gerechtfertigt. (…) In diesem Sinne hat sich Doña Carmen e. V. mit einem Schreiben an alle Mitglieder des Marburger Stadtparlaments gewandt. Es muss möglich sein, so Doña Carmen in diesem Schreiben, dass nicht jeder Missstand automatisch zu einem Konflikt werde. Die Marburger Stadtverordneten – ganz gleich welcher Fraktion sie angehören – sind daher ausgefordert, ihren Einfluss geltend zu machen und dazu beizutragen, dass das von Doña Carmen benannte und wahrlich lösbare Problem in Zukunft keines mehr ist. Alle Schreiben sind auf unserer Website unter diesem Link zu finden: https://www.donacarmen.de/prostituierte-zum-sozialpsychiatrischen-dienst/ externer Link)“ Pressemitteilung vom 12.2.2019 externer Link
  • Offener Brief an die Landrätin des Kreises Marburg-Biedenkopf, Kirsten Fründt (SPD) – ‚Sozialpsychiatrischen Dienst‘ zuständig für Sexarbeiter/innen
    „… Sehr geehrte Frau Fründt, erneut liegen dem Verein Doña Carmen e.V. Informationen vor, wonach im Gesundheitsamt des Kreises Marburg-Biedenkopf die mit dem Prostituiertenschutzgesetz eingeführten Zwangsberatungen von Sexarbeiter/innen von Mitarbeiter/innen des dortigen ‚Sozialpsychiatrischen Dienstes‘ durchgeführt werden. Die Abwicklung der gesundheitlichen Beratung von Sexarbeiter/innen durch Mitarbeiter des ‚Sozialpsychiatrischen Dienstes‘ kann nur als behördliche Praxis der Diskriminierung einer ganzen Berufsgruppe gewertet werden. Sie ist zutiefst verwerflich und nicht hinnehmbar. Angebote des ‚Sozialpsychiatrischen Dienstes‘ richten sich in Hessen gemäß § 7 Abs. 3 HGÖGD an „Menschen mit psychischen Krankheiten, Abhängigkeitserkrankungen und seelischen und geistigen Behinderungen sowie hiervon bedrohte Menschen“. Dass Sexarbeiter/innen aufgrund ihrer Berufsausübung per se in diese Kategorie gehören, wird niemand ernsthaft behaupten können. Schon vor dem Hintergrund der nationalsozialistischen Vergangenheit, in der man Prostituierten aus politisch motiviertem Ressentiment „moralischen Schwachsinn“ attestierte, um sie anschließend als „Asoziale“ stigmatisieren, aufgreifen und internieren zu können, verbietet sich eine erneute Psychiatrisierung von Sexarbeiter/innen. (…) Wir fordern Sie hiermit auf, die unsägliche Befassung von Mitarbeiter/innen des ‚Sozialpsychiatrischen Dienstes‘ mit der gesundheitlichen Zwangsberatung von Prostituierten umgehend zu beenden und die zuständige Amtsleiterin des Gesundheitsamts, Frau Dr. Wollenberg, anzuweisen, in diesem Sinne tätig zu werden. Darüber hinaus geböte es der Anstand, sich für das Dulden der hier publik gemachten, unseres Wissens bundesweit einmaligen Form der behördlichen Diskriminierung von Sexarbeiter/innen öffentlich zu entschuldigen. Schließlich tragen Sie dafür die politische Verantwortung…“ Offener Brief der Doña Carmen e.V. vom 29. Januar 2019 veröffentlicht auf der Vereinshomepage externer Link
Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=143584
nach oben