Gewerkschaftliche Identitätsfragen. Entwicklungsmöglichkeiten und Ansatzpunkte gewerkschaftlicher Arbeit im Facility- und Industrieservice

express, Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit„… Die oftmals hohe Verwundbarkeit der Beschäftigten erschwert Organisierung und vermindert die Konfliktfähigkeit. Und die teils große Fluktuation in den Belegschaften, die auch durch die fortwährende Neukomposition der Dienstleistungspakete durch die Auftraggeber entsteht, multipliziert diesen Effekt noch. (…) Um gemeinsames Handeln zu ermöglichen, müssten sich erstens die betroffenen Gewerkschaften zu Tarifgemeinschaften zusammenschließen. (…) Ein Organisierungsprozess und mittelfristig die Initiierung einer Tarifbewegung bedarf zweitens der Unterfütterung durch entsprechende Ressourcen, also Geld, Personal, Expertise und Verantwortlichkeit. (…) Eng damit zusammen hängt drittens die Frage, zu wem die Mitglieder (in der Branche bzw. als evtl. ersten Schritt die Beschäftigten der führenden FS-Unternehmen) zugeordnet werden sollen. (…) Der Begriff Facility Management ist ziemlich abstrakt, die meisten Beschäftigten werden sich vermutlich eher als Reinigungskräfte, Elektriker, Gärtner, Küchenhilfen usw. betrachten. (…) Die Verwandlung von Unternehmen in netzwerkartige Strukturen mit flexiblen Kooperationen könnte dabei durchaus ein Vorbild abgeben für neue Organisationsweisen, die Branchen, Unternehmen oder Objekten mit fluidem Charakter angemessen sind (…) Wäre die Gründung einer »virtuellen« Gewerkschaft Facility Management denkbar, in die definierte Segmente, Mitglieder und Ressourcen eingebracht werden und die autonom agieren kann?...“ Aus dem Gespräch mit Wilfried Schwetz erschienen in express – Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit 7-8/2021:

Gewerkschaftliche Identitätsfragen

Entwicklungsmöglichkeiten und Ansatzpunkte gewerkschaftlicher Arbeit im Facility- und Industrieservice − ein Gespräch mit Wilfried Schwetz

 express: In Deinem Beitrag hast Du die schwierigen Rahmenbedingungen für gewerkschaftliche Arbeit im Facility- und Industrieservice beschrieben. Was kann dennoch getan werden?

Wilfried Schwetz: Eine vorwärtsweisende Initiative ist die Etablierung des Arbeitskreises Facility- und Industrieservice der Gewerkschaften IGM, IG BAU, NGG und ver.di. Das ist ein erster Schritt, Konflikte um Mitglieder abzubauen und zu gemeinsamem Handeln zu kommen. Die teilnehmenden Aktiven kommen schwerpunktmäßig aus dem Technischen Facility-Service (TFS), decken also nur einen (kleineren) Teil der Branche ab. Zudem handelt es sich um einen Koordinationskreis auf Vorstandsebene, eine Unterfütterung durch die unteren Gewerkschaftsgliederungen fehlt bislang. Innerhalb der Gewerkschaftsapparate spielt dieser Arbeitskreis eine marginale Rolle, er erfährt nicht die notwendige Unterstützung der Gewerkschaftsspitzen, für die anstehende Aufgabe ist diese Initiative deutlich unteraus­gestattet. Der Arbeitskreis kann so nicht in der notwendigen Breite und Tiefe in die Gewerkschaften hineinwirken, um entscheidende Schritte vorwärts zu kommen.

Dabei gilt als das größte Problem für die Verbesserung der Arbeitsbedingungen im Industrieservice (IS) und Facility Service (FS) (in seiner gesamten Breite) der zu geringe und weiter sinkende Organisationsgrad. Ich verstehe nicht, warum da nicht mehr Ressourcen eingesetzt werden.

Welche zusätzlichen Hindernisse gibt es?

Die oftmals hohe Verwundbarkeit der Beschäftigten erschwert Organisierung und vermindert die Konfliktfähigkeit. Und die teils große Fluktuation in den Belegschaften, die auch durch die fortwährende Neukomposition der Dienstleistungspakete durch die Auftraggeber entsteht, multipliziert diesen Effekt noch.

Nun ist ja der Zusammenhang zwischen der Bereitschaft von Beschäftigten, an ihrem Arbeitsplatz aktiv zu werden und Gewerkschaften beizutreten, recht kompliziert. Er gleicht in gewisser Weise der Frage nach Henne oder Ei. Die Forderung, Beschäftigte müssten sich erst organisieren und dann würden Gewerkschaften aktiv werden, ist problematisch, gerade angesichts dieser Hindernisse. Die Formulierung eines gemeinsamen Verständnisses des Problems, der Vorschlag einer überzeugenden Lösung und die Hoffnung auf eine realistische Chance auf Erfolg wären Grundvoraussetzungen, damit Menschen in größerer Zahl aktiv werden.

Wenn es nicht gelingt, genau diese Hoffnung auf Veränderung bei den Beschäftigten zu wecken, bleiben alle Anstrengungen nutzlos.

Kannst Du ein paar Stichworte zu Themen nennen, die wichtig sind, um diese Hoffnung zu wecken?

Angesichts der Dimension der Aufgabe befällt auch mich eine gewisse Ratlosigkeit. Als erste Schritte fallen mir zunächst folgende Punkte ein: Um gemeinsames Handeln zu ermöglichen, müssten sich erstens die betroffenen Gewerkschaften zu Tarifgemeinschaften zusammens­chließen. Diese gibt es bereits in unterschiedlicher Zusammensetzung bei mehreren Haustarifverträgen. Die Dimension müsste aber eine ganz andere sein, so dass hier Quantität in Qualität umschlagen würde. Ein solches Vorgehen setzt eine größere Aufmerksamkeit der Gewerkschaftsspitzen für das Anliegen voraus.

Die Bildung einer Tarifgemeinschaft allein reicht aber nicht aus, um in der Branche Kampfstärke zu erlangen, d.h. Unternehmen und Betriebe zu organisieren und Beschäftigte zu aktivieren. Ein Organisierungsprozess und mittelfristig die Initiierung einer Tarifbewegung bedarf zweitens der Unterfütterung durch entsprechende Ressourcen, also Geld, Personal, Expertise und Verantwortlichkeit. Insbesondere müssen arbeitsfähige Strukturen in den unteren Gliederungen geschaffen werden, die vertrauensvoll und zielorientiert zusammen­arbeiten. Bisherige Kooperationen haben eher dazu geführt, dass sich niemand verantwortlich fühlte und in den Betrieben wenig geschah. Eng damit zusammen hängt drittens die Frage, zu wem die Mitglieder (in der Branche bzw. als evtl. ersten Schritt die Beschäftigten der führenden FS-Unternehmen) zugeordnet werden sollen. Daran hängen zum einen Beitrags­einnahmen und Betreuungsstrukturen, zum anderen muss ihr Verhältnis zum Rest der Gewerkschaftsmitglieder geklärt werden. Und viertens: Wird ein möglichst breiter Branchen-Tarifvertrag angestrebt, muss die bisherige Spaltung der einzelnen Segmente im Bewusstsein der Beschäftigten überwunden werden und eine Art Branchenidentität entstehen. Der Begriff Facility Management ist ziemlich abstrakt, die meisten Beschäftigten werden sich vermutlich eher als Reinigungskräfte, Elektriker, Gärtner, Küchenhilfen usw. betrachten. Die Entwick­lung einer solchen Erzählung, die die Teilsegmente zusammenbindet und gemeinsame Forderungen stellt, ist dennoch eine wichtige Aufgabe.

Welche Ansatzpunkte siehst du? Was könnten die Gewerkschaften vom Gegner, von der Kapitalseite ›lernen‹?

 Gewerkschaften tun sich schwer, sich den Veränderungen in Wirtschaft und Unternehmen anzupassen. Sie agieren, zumindest organisationspolitisch, strukturkonservativ. Und das sehr lange, oft so lange, bis die eigene Struktur nicht mehr zur Realität passt und zum Bedeutungsverlust führt.

Die Verwandlung von Unternehmen in netzwerkartige Strukturen mit flexiblen Koopera­tionen könnte dabei durchaus ein Vorbild abgeben für neue Organisationsweisen, die Branchen, Unternehmen oder Objekten mit fluidem Charakter angemessen sind. Ich hätte dazu folgende Gedanken: Um die organisatorische Unterfütterung zu gewährleisten, muss es zu irgendwie gearteten Pool-Lösungen kommen, bei denen Ressourcen gebündelt werden können, d.h. eigene Strukturen mit Personal, Budget und Mitgliederverantwortung. Eine einfache Aufteilung der Zuständigkeit zwischen den Gewerkschaften im Tauschsystem − ich bin hierfür zuständig, du dafür − wäre nicht hinreichend, um eine verbindliche, branchen- und gewerkschaftskreuzende Identität zu erzielen. Es muss um mehr gehen als die clevere Aufteilung von Kosten und Gewinnen unter den Gewerkschaften. Und: Wäre die Gründung einer »virtuellen« Gewerkschaft Facility Management denkbar, in die definierte Segmente, Mitglieder und Ressourcen eingebracht werden und die autonom agieren kann? Ohne gewerkschaftliche Neugründung und weitere Organisationsreformen, die nur Kraft kosten und wenig voran bringen, aber auf Grundlage einer stabilen zwischengewerkschaftlichen Verein­barung?

Solche virtuellen Gewerkschaftseinheiten könnten sich auch örtlich bilden, wo dies zur Bündelung von Ressourcen und Kraft zur gemeinsamen Organisierung als sinnvoll erscheint, dabei aber durchaus über die FM-Branche hinausgehend. Flughäfen könnten solche virtuellen Einheiten sein, vielleicht auch große Einkaufszentren, Veranstaltungsstätten, selbst Industrie- und Logistikparks oder der Duisburger Hafen sind denkbar. Wichtig wäre anzufangen, quer zu den Branchengrenzen zu organisieren und dazu passende Ziele zu formulieren.

Und zu guter Letzt: Groß denken! Mit kleinen Testläufen oder als ewiges Projekt wird man nicht vorankommen bei der Organisierung der immer größer werdenden, outgesourcten und unorganisierten Bereiche der logistischen »Unterstützungsprozesse«.

Angesichts der Größe der Aufgabe dürften mutige Schritte in organisationspolitisches Neuland notwendig sein.

Gespräch mit Wilfried Schwetz erschienen in express – Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit 7-8/2021

Siehe zum Hintergrund:

  • Probleme der Organisierung im Industrieservice und Facility Management: Zwei neue Branchen als Outsourcing-Profiteure. Artikel von Wilfried Schwetz, erschienen in express – Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit 7-8/2021

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