Arbeitsplatz Einzelhandel: Anforderungsreich – geringe Wertschätzung – hoher Frauenanteil

lunapark21 – Politische Vierteljahreszeitschrift - Heft 40 vom 18. Dezember 2017Der Einzelhandel ist ein Sektor mit vorwiegend weiblichen Beschäftigten. In der Schweiz – hier lautet die Bezeichnung „Detailhandel“ – ist das nach dem Baugewerbe und dem Gesundheitswesen der drittgrösste Sektor, was allgemein kaum im öffentlichen Bewusstsein präsent ist. Der Einzelhandel ist eine Branche, die wenig Aufmerksamkeit in den Medien und noch viel weniger in der Forschung geniesst. Die Erklärung für diese Geringschätzung dürfte mit dem Charakter der Branche zu tun haben: Es handelt sich um eine Branche, in der überwiegend Frauen beschäftigt sind, in der das Tieflohnsegment vorherrscht und der gewerkschaftliche Organisationsgrad niedrig ist. Wer sind sie, die Beschäftigten im Detailhandel? Welche Ausbildung haben sie (wenn überhaupt)? Was sind die Arbeitsbedingungen? Wie werden die Beschäftigten entlohnt?…“ Artikel von Therese Wüthrich als Leseprobe aus lunapark21 – Politische Vierteljahreszeitschrift – Heft 40 vom 18. Dezember 2017 – wir danken!  Siehe Editorial und weitere Leseproben aus der lp21 Nr. 40 externer Link mit den Spezials 1) zu Katalonien, Spanien und das Recht auf nationale Selbstbestimmung sowie Spezial 2) zu Migration & Kapital

Arbeitsplatz Einzelhandel: Anforderungsreich – geringe Wertschätzung – hoher Frauenanteil

Therese Wüthrich

Der Einzelhandel ist ein Sektor mit vorwiegend weiblichen Beschäftigten. In der Schweiz – hier lautet die Bezeichnung „Detailhandel“ – ist das nach dem Baugewerbe und dem Gesundheitswesen der drittgrösste Sektor, was allgemein kaum im öffentlichen Bewusstsein präsent ist.(1) Der Einzelhandel ist eine Branche, die wenig Aufmerksamkeit in den Medien und noch viel weniger in der Forschung geniesst. Die Erklärung für diese Geringschätzung dürfte mit dem Charakter der Branche zu tun haben: Es handelt sich um eine Branche, in der überwiegend Frauen beschäftigt sind, in der das Tieflohnsegment vorherrscht und der gewerkschaftliche Organisationsgrad niedrig ist.

Wer sind sie, die Beschäftigten im Detailhandel? Welche Ausbildung haben sie (wenn überhaupt)? Was sind die Arbeitsbedingungen? Wie werden die Beschäftigten entlohnt? Mit diesen Fragen beschäftigt sich die Studie «Der Strukturwandel im Detailhandel und seine Auswirkungen auf die Arbeitsplätze in der Branche» des Interdisziplinären Zentrums für Geschlechterforschung (IZFG) der Universität Bern (in Kooperation mit der Stiftung für Erforschung der Frauenarbeit dem Arbeitsplatz Detailhandel, respektive Einzelhandel). Anfangs September 2017 wurde die Studie in Bern anlässlich einer Tagung öffentlich vorgestellt.

«Ich mache eigentlich meinen Job sehr gerne – und trotzdem mache ich ihn nicht gern»

So ein Zitat einer interviewten Angestellten im Textilbereich. Die Aussage ist widersprüchlich und bringt zum Ausdruck, dass der Job einerseits Spass macht, andererseits aber auch eine negative Komponente in sich birgt, die durchaus mit der geringen Wertschätzung und der schlechten Bezahlung zusammenhängt. Die Studie zieht unter anderen das Fazit, dass es die typische Berufsbiografie oder die typische Bedeutung der Erwerbsarbeit im Detailhandel nicht gibt. Bezeichnend für die Branche sind vielmehr die Unterschiedlichkeit von Lebensläufen und Erwerbszwecken.

Ein Charakteristikum der Branche ist denn auch, dass die weiblich Beschäftigten vorwiegend Teilzeit arbeiten, während die Männer mehrheitlich Vollzeit arbeiten und in vielen Fällen leitende Funktionen einnehmen. Für viele Beschäftige mit einem eher geringen Teilzeitpensum, stellt die Arbeit im Einzelhandel in der Regel eine Nebenbeschäftigung dar. Das trifft besonders auf Frauen zu, die mit ihrem sogenannten Nebenverdienst in einem geringeren Umfang zum Haushaltseinkommen beitragen. Sie sehen sich hauptsächlich für die Sorgearbeit in der Familie und im Haushalt verantwortlich.

Der Einzelhandel gilt aber auch als «Integrationsbranche». Einerseits wird vielen Frauen mit Familie der Wiedereinstieg ins Erwerbsleben geboten. Andererseits finden junge Leute mit Migrationshintergrund, insbesondere Frauen, in dieser Branche eine Lehrstelle mit dem eigentlichen Ziel, in unserer Arbeitswelt überhaupt Fuss fassen zu können.

Auch für viele Studierende ist der Einzelhandel attraktiv. Die Branche bietet unterschiedliche Verdienstmöglichkeiten, die neben dem Studium wahrgenommen werden.  Geschätzt werden vor allem die flexiblen Arbeitszeiten und -pensen sowie Einsatzmöglichkeiten an Randzeiten und Wochenenden. Der Einzelhandel stellt für diese Gruppe jedoch nur einen Arbeitgeber auf Zeit dar; ihre Perspektive und berufliche Zukunft verorten Studierende meist ausserhalb der Branche.

Arbeitsbedingungen und Folgen

Eine Anstellung oder ein Beruf im Einzelhandel zeichnet sich in der Regel durch unterschiedliche Anforderungen und Tätigkeiten aus wie Beratung, Produkte und Dienstleistungen verkaufen, Teamarbeit, Flexibilität, Belastbarkeit, Selbständigkeit, Erkennen von Zusammenhängen, Kommunikationsfähigkeit, Sprachkenntnisse –  um einige zu nennen. Sie sind vielfältig, anspruchsvoll und für Aussenstehende oft unsichtbar. Sie werden von der Kundschaft bzw. der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen. Bei oberflächlicher Betrachtung wird die Arbeit häufig auf ein paar wenige Aufgaben wie beispielsweise «Regale auffüllen» oder «Einkassieren» reduziert. Doch dies wird dem eigentlichen Berufsbild nicht gerecht. Dies führt nicht zuletzt zu mangelnder Wertschätzung gegenüber der Arbeit im Einzelhandel; entsprechend leiden die Beschäftigten darunter.

In den letzten Jahren ist der traditionelle Einzelhandel unter dem zunehmenden Onlinehandel, dem Einkaufstourismus und der Beschleunigung der Produktvielfalt und neuer Trends stark unter Druck geraten. Die Folgen sind unter anderem Abbau von Personal, Flexibilisierung der Arbeit und verlängerte Ladenöffnungszeiten. Damit sind die die Beschäftigten einem wachsenden Leistungsdruck und einem immer höheren Arbeitstempo ausgesetzt. Die auferlegten Arbeiten können häufig nicht in der vorgegebenen Zeit erledigt werden. Die Folge sind vermehrte Überstunden, die vielfach unbezahlt und oft nur dank der Unterstützung von Arbeitskolleginnen zu bewältigten sind. Es bedarf wohl keiner ausführlichen Erklärungen, dass lange Arbeitstage unter Druck und Stress, bei langem Stehen und Sitzen, mit repetitiven Bewegungen zu Erschöpfungserscheinungen und zu weitreichenden psychischen und physischen Beeinträchtigungen führen. Hinzu kommen erhöhte Kontrollen der individuellen Leistungsziele in einem teilweise bemerkenswerten Formen und in erschreckendem Mass. So erhalten die Arbeitskräfte an den Kassen während ihrer Arbeit Anrufe von der Filialleitung mit der Anweisung, freundlicher zu sein und mehr zu lächeln. Verkäufer und Verkäuferinnen in stark frequentierten Kleidergeschäften werden gerügt, wenn sie die Kundschaft nicht innerhalb kurzer Zeit „proaktiv“ ansprechen. Auf diese Weise wird ein Klima von Angst, Wut und Verbitterung geschaffen, oft verbunden mit Kündigungen.

Fatale Feminisierung des Arbeitsplatzes

Beschäftigte im Einzelhandel äussern sich immer wieder dahingehend, dass letztlich der Kontakt zur Kundschaft die Tätigkeit im Verkauf attraktiv mache. Nun wird im Konkurrenzkampf gegen den Onlinehandel die individuelle Betreuung der Kundschaft als wichtigstes Instrument eingesetzt. Vermehrt werden Beschäftigten Vorgaben zu Aussehen, Auftreten und Verhalten gemacht wie gepflegtes Aussehen, Schminken, Lächeln, zuvorkommendes bis serviles Verhalten. Männliche Beschäftigte sind davon nicht ausgenommen. Überwiegend werden dabei jedoch Erscheinungsformen abverlangt, die massgeblich von stereotypen weiblichen Geschlechterbildern abgeleitet werden. Kurz: Vermittelt wird das Bild weiblicher Verfügbarkeit. Die Folgen sind nicht zu unterschätzen: Die Beschäftigten sind so Übergriffen auf ihre Privatsphäre sowohl seitens der Kundschaft wie auch der Vorgesetzten ausgesetzt. Dies muss aus gesamtgesellschaftlicher Perspektive kritisiert werden.

Eine weitere Ursache für die Feminisierung des Arbeitsplatzes ist der Trend hin zu immer flexibleren Beschäftigungen mit Teilzeit und Anstellungen auf Stundenlohnbasis. Die Stellenausschreibungen sind bezeichnend – beispielsweise: «50prozentige Anstellung an fünf Tagen verfügbar.» Solche Anstellungsmodelle erschweren die sogenannte Vereinbarkeit von Erwerbs- und Familienarbeit beträchtlich. Einsätze nach Abruf stellen beschäftigte Frauen mit Care-Verpflichtungen vor grosse Herausforderungen, die in der Regel nur gemeistert werden können, wenn die eigene Mutter, Grossmutter, die Nachbarin – das heisst, meistens eine Frau – einspringen kann. Wohlverstanden: in einem Arbeitsfeld, das sich als «Integrationsbranche» für Familienfrauen versteht.

Eine Feminisierung des Arbeitsplatzes ist auch bei den Löhnen zu erkennen. Deutlich ist die Lohndifferenz zwischen den Geschlechtern, sie beträgt beim mittleren Lohn rund 15 Prozent. Erheblich sind auch die Lohnunterschiede in den einzelnen Bereichen: Am niedrigsten sind die Löhne in den Bereichen Textil, Kleidung, Schuhe, Lebensmittel, Tankstellen sowie Bücher und Kioske. Der Frauenanteil in diesen Bereichen liegt zwischen gut 70 und knapp 90 Prozent. In Bereichen, in denen mehrheitlich männliche Beschäftigte arbeiten wie etwa Sport, Elektronik oder Automobile (hier sind es rund 75 Prozent Männerarbeit) ist das Lohnniveau um 10 Prozent höher.

Trends wie Beschäftigungsabbau, niedrigere Durchschnittseinkommen, zunehmende Teilzeitbeschäftigung und Flexibilisierung können flächendeckend auch über die Schweiz hinaus konstatiert werden. Ein weiteres Charakteristikum ist die Geschlechterverteilung: Während Frauen eine grosse Mehrheit der Beschäftigten im Einzelhandel und in Teilzeit stellen, werden Vollzeitstellen sowie Führungspositionen mehrheitlich von Männern besetzt. Die klare quantitative Dominanz der Frauen unter den Beschäftigten führt zu einer Feminisierung der Erwerbsarbeit im Einzelhandel. Die Fragmentierung von Teilzeitarbeitsverhältnissen hat für weibliche Beschäftigte nachweisbar negative Auswirkungen.  Dazu zählen Einkommenseinbussen, mangelnde soziale Absicherung und ungenügende Altersvorsorge. Weiter wird durch Umstrukturierungen wie Ausweitung der Ladenöffnungszeiten, Flexibilisierung der Personaleinsatzstrategien, Aufsplitterung der Tätigkeiten im Verkauf und anderes mehr eine weitere Dequalifizierung der Verkaufsberufe vorangetrieben. Dies mündet letzten Endes in prekären Beschäftigungen.

Was ist zu tun?

Aus  gewerkschaftlicher Seite werden als Konsequenz für die Beschäftigten im Einzelhandel bessere Rahmenbedingungen hinsichtlich der Ladenöffnungszeiten, des Niveaus und der Entwicklung  der Löhne und der Flexibilisierung eingefordert, um sowohl den Bedürfnissen der im Beschäftigten wie der Kundschaft besser gerecht zu werden.

Gegenüber der Erweiterung der Ladenöffnungszeiten vertreten Gewerkschaften, dass die Branche den Zeitgeist des wirtschaftlichen Drucks nutzt, um Angebote, respektive Bedürfnisse zu schaffen, welche heute weder den Beschäftigten noch von der Kundschaft gewünscht würden. Grossunternehmen würden mit ihrer Strategie selbst kleinere unabhängige Verkaufsläden stark unter Druck setzten. Erweiterungen der Ladenöffnungszeiten würden ausserdem systematisch für Rationalisierungsprozesse ausgenutzt, was den Druck auf die einzelnen Beschäftigten bezüglich ihrer Verfügbarkeit und Arbeitsproduktivität weiter erhöhe.

Beim Thema Bezahlung vertreten die Gewerkschaften in der Schweiz die Position, dass sich die niedrigen Löhne mit Blick auf die Lohn-, Kosten- und Firmenstrukturen auch im ausländischen Vergleich nicht rechtfertigen lassen. Die Lohnentwicklung sollte vielmehr die Umsatz- und Gewinnentwicklung in der Branche abbilden. Das gelte auch in Zeiten eines starken Schweizer Franken, einem boomenden Onlinehandel und einem erheblichen Einkaufstourismus. Reklamiert wird zudem, dass fachliche Aus- und Weiterbildungen, Berufserfahrung sowie die stark gestiegenen Anforderungen an die Beschäftigten wie mehr Flexibilität, höhere Ansprüche an die Beratungstätigkeit, Übernahme von neuen anspruchsvollen Aufgaben, grösserer Arbeitsdruck bei der Lohngestaltung kaum berücksichtigt werden.

Obwohl flexibilisierte Arbeitszeiten sich auf den ersten Blick für Frauen mit Familie und Wiedereinsteigerinnen als Vorteil erweisen, qualifizieren Gewerkschaften die zunehmende Flexibilisierung als ein hochsystematisches Strukturmerkmal der Branche. Damit wird es den Unternehmen ermöglicht, in einem immer grösseren Umfang auf die Lebenszeit der Beschäftigten zuzugreifen. In der Regel werde in der Arbeitsplanung auf sechs Tagen in der  Woche mehr oder weniger frei verfügt. Das treffe auch auf Teilzeitangestellte zu. Dem Merkmal «Integrationsbranche» würde nur im engen Rahmen entsprochen.

  • Quellenangabe: Interdisziplinäres Zentrum für Geschlechterforschung (ZFG) der Universität Bern, www.izfg.unibe.ch externer Link
    Stiftung für Erforschung der Frauenarbeit, www.stiftung-frauenarbeit.ch externer Link : Der Strukturwandel im Detailhandel und seine Auswirkungen auf die Arbeitsplätze in der Branche

Therese Wüthrich ist als Gewerkschafterin und als Frauenbewegte seit vielen Jahren erfreut, dass eine Studie über den Strukturwandel im Detailhandel in der Schweiz realisiert werden konnte. Fakten und Trends laasen sich übrigens im ganzen deutschsprachigen Raum feststellen. Im weiteren ist sie journalistisch und publizistisch tätig und gehört der Redaktion von Lunapark 21 an. Therese Wüthrich lebt in Bern.

Anmerkung:

  • In Deutschland gibt es im Einzelhandel 3 Millionen Arbeitsplätze – in der Autoindustrie, von der hier so viel die Rede ist, sind es 800.000. Berücksichtigt man die Tatsache, dass es im deutschen Einzelhandel fast eine Million Minijobs gibt, dann bietet der Einzelhandel dennoch – umgerechnet – deutlich mehr als doppelt so viele Vollzeitjobs wie es Autoarbeitsplätze gibt.
Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=125625
nach oben