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Gewissen und Gewerkschaft – Von der (fehlenden) Organisierung in der Altenpflege

mini_expressArtikel von Iris Nowak*, erschienen in express, Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, 07-08/2014

Dank Fernsehreportagen und Zeitungsartikeln sind die prekären Bedingungen, unter denen alte Menschen gepflegt werden, eigentlich allgemein bekannt. Altenpflegekräfte stehen ständig unter Zeitnot, müssen schnell arbeiten, um die lebensnotwendige Versorgung der Menschen, für die sie zuständig sind, abzusichern, und haben fast nie Zeit, mit Muße auf sie einzugehen. Infolgedessen verlassen viele den Beruf nach kurzer Zeit. Dennoch ist die Altenpflege, was direkte Konflikte um die Arbeitsbedingungen der Pflegenden (und somit der Lebensbedingungen der Gepflegten) betrifft, ein recht verschlafener Bereich. Hierfür kann man einige strukturelle Gründe nennen und auch solche, die etwas mit den Selbst- und Weltauffassungen der Pflegekräfte zu tun haben. In jedem Fall hat es etwas mit der Geschichte der Pflege alter Menschen in Deutschland zu tun. Altenpflege außerhalb von familiären Kontexten entstand im 19. Jahrhundert in christlichen Einrichtungen, in denen die Tätigkeit des Pflegens als Ausdruck einer christlichen Berufung bzw. ehrenamtlichen sozialen Engagements galt, für das Frauen aufgrund ihrer mütterlichen Gefühle und Erfahrungen von Natur aus als kompetent angesehen wurden. Erst in den 1960er Jahren wurde Altenpflege ein normaler Frauenberuf, wobei diese Entwicklung bis heute einen Diskurs einschließt, demzufolge hierfür nicht so sehr formale Kompetenzen nötig sind, sondern vor allem eine Persönlichkeit, die das Herz am rechten Fleck sitzen hat – was nach wie vor Frauen eher zugesprochen wird als Männern.

Diese historische Gewachsenheit und die gesellschaftlichen Diskurse spiegeln sich u.a. darin, dass sich Altenpflegekräfte selten als Lohnarbeitende verstehen und politisch äußern, die aufgrund ihrer Leistung Rechte1 und einen Anspruch auf eine bestimmte Behandlung und Bezahlung haben. Arbeitskämpfe sind in der Altenpflege ebenso die Ausnahme wie die Existenz von Betriebsräten oder gewerkschaftliche Aktivitäten. Auch in vertiefenden Gesprächen mit Altenpflegekräften2 zeigt sich, dass Konflikte oft grundsätzlich negativ besetzt sind und die Idee der Solidarität vor allem darauf bezogen wird, dass zwischen Vorgesetzten und Kollegen Harmonie herrscht und man sich bei der Bewältigung des hohen Arbeitspensums gegenseitig unterstützt.

Dieser fehlenden Organisierung von Beschäftigten steht eine zerklüftete Arbeitgeber- und Tariflandschaft gegenüber: Nur fünf Prozent der stationären Einrichtungen werden von öffentlichen Trägern betrieben, 40 Prozent von privaten, die oft keine Tarifverträge haben; gut über die Hälfte befindet sich in freigemeinnütziger Trägerschaft. Dies sind vor allem, aber nicht nur, kirchliche Einrichtungen. Bei Letzteren sind die Löhne und Arbeitsbedingungen in regionalen Richtlinien für Arbeitsverträge (sogenannte AVR) geregelt, die sich im bundesweiten Vergleich stark voneinander unterscheiden. Ohnehin sind die Arbeitsbedingungen nicht nur von (nicht existierenden) Tarifverträgen abhängig, sondern auch von den Pflegesätzen. Sie werden seit Einführung des Pflegeversicherungsgesetzes (PVG) 1995 zwischen den Trägern der Einrichtungen, den Pflegekassen und den Sozialhilfeträgern vereinbart – für jede Einrichtung gesondert im Vorhinein, wobei sich die einzelnen Verhandlungspartner in unterschiedlichen Bundesländern unterschiedlich starken Druck machen. Es sind grundsätzlich keine Vertreter der Beschäftigten bei diesen Verhandlungen vorgesehen.

Strukturell sind die Voraussetzungen für großflächig ausgetragene Konflikte um die Bedingungen in der Altenpflege also ungünstig. Hinzu kommt, dass die Problemlagen, die vielen Beschäftigten den Alltag erschweren, nicht unbedingt den klassischen Themen gewerkschaftlicher bzw. tariflicher Auseinandersetzungen entsprechen. Der durchschnittliche Bruttomonatsverdienst einer Vollzeitarbeitskraft wurde in der WSI-Lohnspiegel-Datenbank mit 2.148 Euro angegeben. Da über die Hälfte der Beschäftigten in Teilzeit tätig ist, weitere knapp zehn Prozent geringfügig beschäftigt sind und der Verdienstabstand von Voll- und Teilzeitbeschäftigten pro Arbeitsstunde im Gesundheitswesen im Durchschnitt bei 16 Prozent liegt, sind die tatsächlichen Löhne noch wesentlich niedriger. Hierüber Arbeitskämpfe zu führen, wäre also durchaus sinnvoll. Sofern dies geschieht, eröffnet dies auch Raum für weitergehende Fragen nach Anerkennung und Wertschätzung der geleisteten Arbeit. Doch sowohl Beschäftigte als auch betrieblich Aktive stellen immer wieder fest, dass die Gehaltsfrage nicht das dringendste Problemfeld sei.

Als bedeutsamer wird dagegen oft die Frage nach den Arbeitsbedingungen erlebt. Insbesondere die Arbeitszeiten führen zu einer prekären Existenz von Altenpflegekräften. An einem hohen Anteil an Teilzeitkräften besteht auf Seiten der Pflegeeinrichtungen betriebswirtschaftliches Interesse: Mit ihnen lassen sich die Folgen des grundsätzlichen Personalmangels etwas besser bewältigen. Während man bei Vollzeitkräften bei zusätzlichen Schichten schnell mit dem Arbeitszeitgesetz in Konflikt kommt, wird Arbeitgebern (durch das Teilzeit- und Befristungsgesetz und entsprechende Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts) bei Teilzeitkräften eine höhere Flexibilität eingeräumt. Auf diese Weise können sie z.B. bei Bettenleerstand schnell mit einer kurzfristige Reduzierung der Wochenstunden reagieren und zu anderen Zeiten, wenn die Einrichtung voll belegt ist, höhere Arbeitszeiten anordnen. Das unternehmerische Risiko, dem Pflegeeinrichtungen durch die marktorientierte Regulierung der Pflege unterliegen, wird auf Beschäftigte übertragen.

Ob Teilzeitverhältnisse den Wünschen beschäftigter Frauen entsprechen, ist eine komplizierte Frage, die sich – aufgrund unterschiedlicher Leitbilder für ein gutes Familienleben – nach wie vor in den westdeutschen Ländern anders beantwortet als in den ostdeutschen. In Letzteren ist das Interesse von Frauen an Vollzeitplätzen grundsätzlich sehr hoch, während im Westen mit Verweis auf familiäre Verpflichtungen der Wunsch nach Teilzeitarbeitsplätzen deutlich überwiegt. Speziell für die Altenpflege ist dies aber nicht untersucht. In jedem Fall knüpft die Frage nach Arbeitszeitverkürzung – als klassische Tariffrage oder auch in ihrer radikaleren Version – eher selten an diese Problematik von Altenpflegekräften an.

Gleiches gilt für ein anderes großes Problem, die Lage der Arbeitszeiten. Beschäftigte haben bei der Erstellung der Schichtpläne oft keine Möglichkeit mitzubestimmen. Weder können regelmäßige Termine geblockt (z.B. für Sport), noch einmalige Termine (z.B. Arztbesuch oder gemeinsame Familienaktivitäten) verbindlich als erwerbsarbeitsfreie Zeit festgelegt werden. Wenn überhaupt, geschieht dies durch individuelles Schichttauschen. Zudem können Pflegekräfte ihren Alltag deshalb nicht planen, weil sie sehr häufig spontan Schichten in den Heimen übernehmen und/oder Überstunden machen.

Oft zeigen sie viel Verständnis für die Erwartungen, ständig flexibel einsetzbar zu sein. Sie denken von sich aus die ständige Personalknappheit und die prekäre ökonomische Situation der Einrichtung als unabänderliche Tatsachen mit und folgern hieraus, dass sie bereit sein müssen, dies durch ihren persönlichen Einsatz auszugleichen. Die meisten unserer InterviewpartnerInnen stellen sich mit ihrem gesamten Alltagsleben auf diese Anforderungen der Pflegeheime ein. Aktivitäten außerhalb der Pflegearbeit werden nur von Woche zu Woche oder von Tag zu Tag geplant, Familienaktivitäten und Verabredungen mit Freunden werden oft kurzfristig abgesagt oder umorganisiert. Ein Teil der Pflegekräfte trifft ganz bewusst die Entscheidung, die gesamte Lebensweise den entgrenzten Anforderungen der Pflegeeinrichtungen unterzuordnen. Damit erreichen sie – ihrer eigenen Beschreibung zufolge – ein Ziel, das ihnen persönlich wichtig ist, nämlich die Versorgung der alten Menschen möglichst gut und menschlich zu gestalten. Sie erwarten hierfür Akzeptanz der Familie und der FreundInnen.

Viele verarbeiten den Widerspruch zwischen den hohen Anforderungen, die eine gute Versorgung der BewohnerInnen von Pflegeheimen bedeutet, und den Bedingungen, unter denen gepflegt wird, auch als Gewissensfrage. Sie ringen ständig mit sich selbst, ob sie die eigenen Grenzen und Bedürfnisse nach Zeit ohne Pflegetätigkeit ernstnehmen oder ob sie eben doch länger bleiben oder spontan für eine Zusatzschicht in die Einrichtung gehen – weil KollegInnen ausgefallen sind, die Zusammensetzung der BewohnerInnen gerade schwierig ist oder der ganz gewöhnliche Alltag nur mit Zusatzarbeit in akzeptabler Form erledigt werden kann.

Diese ständige Bereitschaft einzuspringen wird oft – auch von Pflegekräften selbst – etwas abwertend als »Helfersyndrom« identifiziert. Gerade in Diskussionen über mögliche Widerstandsformen wird gern (etwas flehentlich) davon gesprochen, dass Pflegende endlich anfangen müssen, Grenzen zu ziehen. Erst dann würde deutlich werden, dass der Personalmangel strukturell vorgegeben ist: Finanziert werden durch die Pflegekassen bestimmte Leistungen, nicht die tatsächlich entstandenen Kosten. Dabei fließen bei der Aushandlung der Sätze und auch bei der späteren Kontrolle der Pflegequalität nur messbare Tätigkeiten der medizinischen und körperlichen Versorgung ein, nicht aber die Zeit für die Beziehungsarbeit zwischen Pflegenden und Gepflegten. Der Stellenschlüssel, der auf dieser Grundlage berechnet wird, geht zudem stets von einer Optimalbesetzung aus und berücksichtigt Ausfälle durch Krankheit, Urlaub oder Fortbildungen nicht. Zudem sind Einrichtungen durch das PVG angehalten, wirtschaftlich zu arbeiten. Da in der Altenpflege die Personalkosten den höchsten Anteil an den Kosten haben, richtet sich gerade auf diese ein sehr starker Druck.

Der ständige Personalmangel ist also systematische Grundlage der Pflegearbeit, und es ist zweifellos notwendig, dessen Behebung von Verantwortlichen in den Einrichtungen und in der Politik einzufordern. Dennoch zeichnet die Forderung nach konsequenter Verweigerung von Zusatzarbeit durch die Pflegekräfte ein zu einfaches Bild davon, wie individuelles Verhalten und strukturelle Veränderungen zusammenhängen. Es ignoriert, dass das Funktionieren der Pflege auf dem heutigen Niveau – und das ist bekanntlich schon niedrig genug – auf solchen entgrenzten Haltungen bei den Pflegenden aufbaut. Deren Entscheidung, dennoch die Einrichtung zu verlassen bzw. sie nicht aufzusuchen, kann bedeuten, dass die Gepflegten in ihren Grundbedürfnissen nicht versorgt sind, dass z.B. Wunden noch schlechter versorgt sind, Menschen noch länger in nassen Windeln bleiben, die anwesenden Pflegekräfte noch schneller durch die Zimmer huschen und pflegerische Maßnahmen verstärkt durchziehen, ohne mit den BewohnerInnen zu kommunizieren und deren Bedürfnisse zu hören. Das heißt, ein Wegbleiben vom Arbeitsplatz kann zu weiteren seelischen und körperlichen Beeinträchtigungen bei den BewohnerInnen führen und zugespitzt in Einzelfällen wahrscheinlich eine Frage von Leben und Tod werden.

Natürlich ist es gleichzeitig keine Lösung, wenn Pflegekräfte einfach weiter machen wie bisher und den strukturellen Mangel ein Stück weit ausgleichen, indem sie ihr eigenes seelisches und körperliches Wohlbefinden ruinieren. Langfristig verhindern sie damit auch das, was sie mit ihrem Engagement eigentlich erreichen wollen, nämlich eine gute Versorgung alter Menschen. Diese wäre nur durch entsprechende politische Veränderungen durchzusetzen und hierfür wäre es notwendig, deutlich zu machen, dass es so wie bisher nicht weitergehen darf.

In Streiksituationen können für das beschriebene Dilemma Lösungen durch entsprechende Notbesetzungspläne gefunden werden. Streik ist aber bereits ein Ausdruck einer relativ guten Organisierung von Arbeitskräften – und damit in der Altenpflege die Ausnahme. Wer Altenpflegekräfte trotzdem nicht für grundsätzlich unorganisierbar hält, kann sich von daher fragen, ob dieser alltägliche Konflikt um die Mehrarbeit, den Pflegekräfte innerlich und/oder äußerlich austragen, etwas wäre, an das sich anschließen ließe, um darüber Interesse und Lust an kollektivem Handeln entstehen zu lassen. Dabei geht es vielleicht weniger darum, fertige Lösungen zu präsentieren, als Suchbewegungen anzuregen und anzuleiten, in denen Pflegende ihre eigenen Möglichkeiten, Grenzen zu setzen, stärken können. Vielleicht lässt sich von der Kollegin lernen, wie man öfter Nein sagt, anstatt sie als unsolidarisch zu verteufeln. Vielleicht lassen sich gemeinsam – auch unterhalb der großen Lösung »Streik« – Ideen dazu finden, wie man sich öfter mal verweigert, und trotzdem die Pflegebedürftigen ausreichend versorgt weiß.

Dafür müssen sich Pflegekräfte sicherlich auch mit ihren eigenen Alltagsauffassungen und -bedürfnissen kritisch auseinandersetzen. Wem eine konflikthafte Haltung gegenüber Vorgesetzten und KollegInnen bisher fremd war, der braucht Raum, diese langsam zu erlernen. Das Bedürfnis danach, gemeinsam mit KollegInnen und in moderierter Form den Arbeitsalltag zu reflektieren, wurde uns gegenüber von vielen Beschäftigten geäußert. Vielleicht können Gewerkschaften hier anschließen und Angebote entwickeln, in denen kollektive Selbstverständigung damit verknüpft wird, dass Pflegekräfte die strukturellen Widersprüche, die zu den individuellen Gewissensbissen und inneren Konflikten führen, begreifen und gesellschaftlich sichtbar machen können.

*  Iris Nowak lebt in Hamburg und forscht zu Konflikten um Sorgearbeit und zu Handlungsmöglichkeiten von Menschen in prekären Bedingungen unterschiedlichster Art.

Anmerkungen:

1) Die Frage, wie Konflikte um Altenpflege zu führen wären, muss unbedingt auch noch ergänzt werden um eine Sichtweise, wie sie beispielsweise Michael Zander vertritt: Auch die Pflegebedürftigen sind als Menschen mit Rechten einzubeziehen und sollen als solche Prozesse, in denen sie Hilfe erhalten, mitgestalten. (Vgl. u.a. Kuhlmey, Adelheid/Tesch-Römer, Clemens: »Autonomie trotz Multimorbidität« 2013)

2) Diese Erfahrungen haben wir im Rahmen eines Forschungsprojekts gemacht, in dem Altenpflegekräfte aus stationären Einrichtungen zu ihren persönlichen Sichtweisen auf Probleme, Konflikte und Lösungsmöglichkeiten interviewt wurden. Die folgenden Überlegungen zu Arbeitsbedingungen, Problemen und Organisierung in der Altenpflege beziehen sich teilweise auf diese Forschungen.
Laut aktueller »Pflegestatistik 2014« galten im Jahr 2011 nach gesetzlicher Definition 2,5 Millionen Menschen in Deutschland als pflegebedürftig. 70 Prozent davon (das sind 1,76 Millionen Menschen) wurden dabei im häuslichen Kontext betreut, davon 1,18 Millionen allein durch pflegende Angehörige. Insgesamt waren laut dieser Statistik in stationären Einrichtungen 661.000 Beschäftigte tätig und in ambulanten Diensten 291.000. Etwa 85 Prozent der Beschäftigten in der Altenpflege waren Frauen. Diese Zahlen sind in verschiedenen Hinsichten unzureichend: So sind in der Betreuung alter Menschen in Privathaushalten oft Hausarbeiterinnen (mit migrantischer Herkunft) tätig, deren Arbeitsverhältnisse (und zum Teil auch Aufenthaltsverhältnisse) nicht legalisiert sind und die daher in offiziellen Erhebungen kaum auftauchen. Zudem gibt es eine ebenfalls nicht erhobene Anzahl an Menschen, die aufgrund gesundheitlicher Einschränkungen auf Hilfe angewiesen sind, die in keine Pflegestufe eingestuft worden sind und somit nicht als pflegebedürftig gelten.

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=62614
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