» » »

»Der Kapitalismus fordert viel Liebe«: Von staatlichen Ansprüchen an die Familie zur notwendigen Vergesellschaftung der Sorgearbeit

Buch: Care Revolution. Schritte in eine solidarische GesellschaftIm Interview von Stephan Kaufmann vom 29. Mai 2025 ni Neues Deutschland online externer Link spricht die Autorin und Übersetzerin Heide Lutosch, über staatliche Ansprüche an die Familie, gehetzte Eltern, undankbare Kinder und die notwendige Vergesellschaftung der Sorgearbeit: „Ich denke, jede Gesellschaft braucht irgendeine Form der Familie – es ist nur die Frage, was man darunter versteht. In diesen Lobeshymnen auf die Familie steckt vor allem ein gesellschaftlicher Anspruch auf Nützlichkeit. (…) Sie leistet den Nachwuchs an Arbeitskräften und gegebenenfalls Soldaten. Sie sorgt dafür, dass die Arbeitskräfte jeden Morgen sauber, satt und halbwegs ausgeschlafen am Arbeitsplatz erscheinen – und zwar unentgeltlich, Familienarbeit ist ja zumeist unbezahlt. Die Familie ist zudem teilweise zuständig für Krankheit und Alter, also für die Pflege jener, die nicht oder nicht mehr arbeitsfähig sind. (…) Ja, der Kapitalismus fordert viel Liebe. Es ist letzten Endes auch Aufgabe der Familie, ihre Mitglieder emotional stabil zu halten…“ Siehe mehr aus dem Interview:

  • Weiter aus dem Interview von Stephan Kaufmann vom 29. Mai 2025 ni Neues Deutschland online externer Link: „… Die herrschende Produktionsweise ist ja ziemlich flexibel, wenn es darum geht, sich auch andere Beziehungsformen zunutze zu machen. Wohlgemerkt, diese Flexibilität hat ziemlich brutale Grenzen: Bei geflüchteten Menschen sieht man es nicht so eng mit der schützenswerten Einheit der Familie. Der Familiennachzug für Geflüchtete wird ja gerade zunehmend eingeschränkt. Und alleinerziehende Frauen leben trotz Erwerbstätigkeit überproportional oft in Armut. (…)
    Unter den gegebenen Bedingungen wäre der Ausbau der Kinderbetreuung für die Eltern natürlich eine große Entlastung. Das ändert aber nichts daran, dass das System so gestrickt bleibt, dass die Kombination von Lohnarbeit und Familie zu einer maximalen Belastung führt. Diese Belastung aber wird politisch hergestellt. Die Regierungen tun zwar so, als würden sie sich um die Familie kümmern. Tatsächlich aber ist es eher andersherum gemeint: Die Familie soll die Gesellschaft stabilisieren – die CDU nennt sie »unser Land«, die AfD »unser Volk«, SPD und Grüne sprechen von »Stabilität« und »gesellschaftlichem Zusammenhalt«. (…) Im hiesigen System bedeutet sie, dass die Reichen reich und die anderen da bleiben, wo sie sind, nämlich unten – und sich dagegen auch nicht wehren. Zu dieser Stabilität soll die Familie beitragen. Für die Politik ist sie Mittel zum Zweck, weswegen sie sie als »Leistungsträger« lobt. Sehr viel ökonomischer Druck wird in die Familie ausgelagert. (…)
    Aus meiner Erfahrung liegt das Problem nicht nur an der Doppelbelastung von Beruf und Familie, sondern auch daran, dass beide Sphären ganz unterschiedlichen Logiken folgen. Kinder sind nun einmal langsam und sperrig. Für ein Kind zu sorgen, braucht einfach Zeit und Flexibilität. Lohnarbeit heißt, Funktionieren-können und Kinder funktionieren nicht so einfach. Sie haben ihre eigenen Rhythmen, sie halten sich nicht an deinen Plan, sind verträumt, abgelenkt, wollen sich nicht an- oder ausziehen, während die Uhr für dich tickt. Familienleben bedeutet einen umfassenden und grundlegenden Mangel an Zeit. (…)
    Gebildete Eltern halten ihre Kinder dann eher für »schwierig« oder therapiebedürftig. In anderen Haushalten wird vielleicht mehr geschimpft. Je weniger Geld, Raum und Zeit zur Verfügung stehen, umso schwieriger ist es, gelassen und freundlich Kinder großzuziehen. (…)
    Es geht darum, das Verhältnis von Kindern und Erwachsenen unter der Maßgabe von Herrschaftsfreiheit und Bedürfnisorientierung neu zu erfinden. Warum zum Beispiel müssen es immer die leiblichen Eltern sein, die sich um Kinder kümmern? Und warum müssen es immer zwei Elternteile sein – aus meiner Erfahrung von Stress und Zeitmangel habe ich den Eindruck gewonnen, dass Kinder mehr als zwei Eltern haben sollten. Und warum muss Elternschaft immer aus einer romantischen Beziehung entstehen? Liebesbeziehungen sind weder stabil noch unkompliziert. Der Zwang zur Stabilität und Versorgung tut der Liebe auch nicht unbedingt gut. (…)
    Feste Bezugspersonen wären die grundsätzliche Voraussetzung. In einer befreiten Gesellschaft ginge es darum, eine Form der Kinderversorgung und -betreuung zu finden, die nicht privat ist und trotzdem Geborgenheit ermöglicht. (…) Was den familialen Kitt ersetzt, das kann ich auch nicht sicher sagen. Andererseits besteht dieser Kitt ja vor allem aus einer finanziellen und emotionalen Abhängigkeit, was der Sache gar nicht guttut. Zudem wäre man in einer Gesellschaft, in der man nicht mehr den ganzen Tag arbeiten muss, vielleicht etwas entspannter, sodass der Widerspruch zwischen dem Wunsch nach Autonomie der Eltern und der Abhängigkeit des Kindes von seinen Bezugspersonen nicht so krass ausfiele. Und schließlich wäre die Frage »Was ersetzt den Zwang?« ja nicht nur eine Frage der Kinderbetreuung, sondern grundsätzlich der gesamten befreiten Gesellschaft. Wer nicht daran glaubt, dass eine Gesellschaft auf Basis von Vernunft und Freiwilligkeit funktionieren kann, der ist mit dem Kapitalismus vielleicht ganz gut bedient.“

Siehe auch zum Thema im LabourNet:

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=228382
nach oben