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Systemrelevante Berufe: Applaus vom Balkon reicht nicht

Dossier

Systemrelevant (Berliner Bündnis für mehr Personal im Krankenhaus)Die Corona-Krise zeigt, dass es ohne Pflegekräfte, Lieferanten und Kassiererinnen nicht geht. Endlich werden sie wertgeschätzt. Doch sie brauchen mehr als ein Danke. Dieser Tage bedanken sich im Minutentakt Menschen für den Einsatz von Pflegekräften, Kassiererinnen und Erziehern. Gesundheitsminister Jens Spahn hat sogar gesagt: „Schenken Sie der Verkäuferin im Supermarkt ein Lächeln. Schenken Sie dem Lkw-Fahrer, der Tag und Nacht Waren für Sie fährt, einen freundlichen Wink. Und schenken Sie denjenigen, die gerade unter Stress für Ihre Gesundheit arbeiten, Geduld und Mithilfe.“ In Köln und anderen deutschen Städten verabreden sich nach spanischem Vorbild Bürger abends auf Balkonen und applaudieren lautstark, um ihre Dankbarkeit für das Personal in Krankenhäusern auszudrücken. (…) Doch es reicht nicht, sich jetzt einfach bei diesen Menschen zu bedanken. Es genügt nicht, ein paar Zeilen in sozialen Netzwerken zu posten oder am Balkon zu stehen und zu klatschen. Es braucht endlich umfassende Maßnahmen, um diesen Berufsgruppen mehr Wertschätzung entgegenzubringen. In der Krise hilft Solidarität auch von Nachbarn, Freundinnen und Verwandten. Unterstützen Sie die Menschen, die gesellschaftlich wichtig sind, bei ihren Einkäufen und sorgen Sie dafür, dass sie sich erholen können. Und wenn sich die Krise länger hinzieht, sollte es ähnlich wie 2008 einen Rettungsfonds geben. Mit staatlichen Subventionen für Krankenhäuser, Arztpraxen und andere Betriebe, die derzeit unentbehrlich sind. Dazu gehören auch Mittel, die das Personal entlasten. Bisher zählen ausgerechnet die jetzt so wichtigen Berufe zu den besonders undankbaren, gemessen am Einkommen, an Risiken für die Gesundheit, an Überstunden und der körperlichen Belastung. (…) Wenn Berufe systemrelevant sind, sollte sich das in ihrem Gehalt, den Arbeitsbedingungen und der Rente widerspiegeln. Wir sollten das auch nach der Corona-Krise nicht vergessen.“  Kommentar von David Gutensohn vom 18. März 2020 bei der Zeit online externer Link – sehr richtig! Siehe nun u.a. zur Entlohnung:

  • „Harte Arbeit lohnt sich immer weniger“. Nicole Mayer-Ahuja zeigt auf, dass Niedrigverdiener:innen schon vor Corona systemrelevant waren New
    Im Interview von Tom Wohlfarth am 20.10.2021 im Freitag 39/2021 externer Link zeigt die Soziologin Nicole Mayer-Ahuja auf, „dass Niedrigverdiener:innen schon vor Corona systemrelevant waren (…) Frau Mayer-Ahuja, wer genau sind die „verkannten Leistungsträger:innen“? Nicole Mayer-Ahuja: Die von uns untersuchten Beschäftigten eint, dass ihre Tätigkeiten alle mit der Reproduktion von Arbeitskraft und von sozialen Strukturen zu tun haben. Das sind so diverse Bereiche wie Kindererziehung, Krankenpflege, Paketdienste oder Nahrungsversorgung, die alle trotz ihrer hohen Relevanz für das kapitalistische Wirtschaftssystem und der hohen Arbeitslast der Beschäftigten nicht ausreichend gesellschaftliche und finanzielle Anerkennung erfahren. [der Freitag:] Wie kann es sein, dass hart arbeitende Menschen in unserer Gesellschaft nicht gewürdigt werden? Hören wir nicht seit Jahrzehnten das Mantra „Leistung muss sich wieder lohnen“? [Nicole Mayer-Ahuja:] Dieses aus der Zeit von Helmut Kohl stammende Mantra hat tatsächlich dazu geführt, dass sich die Leistung sehr vieler sehr hart arbeitender Menschen immer weniger lohnt. Das hat damit zu tun, dass als Leistungsträger nun nicht mehr Arbeiter:innen und Angestellte galten, sondern Banker und Manager:innen. Für diese Großverdienenden stiegen die Löhne und sanken die Steuern – Unternehmen wurden ohnehin entlastet –, während für die meisten anderen Löhne, soziale Sicherung, Gesundheitsversorgung und auch die gesellschaftliche Anerkennung immer weiter abnahmen. Ihren traurigen Höhepunkt fand diese Entwicklung mit den Arbeitsmarktreformen der frühen 2000er, mit Hartz IV und der Schaffung eines riesigen Niedriglohnsektors. (…) Dass man in den Nachkriegsjahrzehnten den Eindruck einer klassenlosen oder, wie Helmut Schelsky sie nannte, „nivellierten Mittelstandsgesellschaft“ bekommen konnte, hing auch mit dem enormen Wirtschaftswachstum zusammen, das die soziale Mobilität und den Wohlstand insgesamt erhöhte. Die ideologische Annahme aber, dass dadurch gesellschaftliche Klassen gar keine Rolle mehr spielen, wurde spätestens in den 80er Jahren widerlegt, als durch stagnierendes Wachstum und steigende soziale Ungleichheit die Gegensätze zwischen Kapital und Arbeit wieder stärker hervortraten. Das wird auch jetzt wieder deutlich, wo nach den Corona-Lockdowns viele Unternehmen längst wieder Gewinne machen, während viele abhängig Beschäftigte noch immer unter den ökonomischen Folgen leiden. Und gerade diese Klasse derjenigen, die ihre Arbeitskraft verkaufen müssen, um zu leben, ist heute so groß wie nie…“ Der Sammelband „Verkannte Leistungsträger:innen: Berichte aus der Klassengesellschaft“, den Nicole Mayer-Ahuja zusammen mit Oliver Nachtwey September 2021 bei der edition suhrkamp veröffentlichte, wurde hier vorgestellt:
  • [Buch »Verkannte Leistungsträger:innen«] Ausbeutung als Staatsräson  
    Berichte aus der Klassengesellschaft: Die Soziologen Nicole Mayer-Ahuja und Oliver Nachtwey zeigen mit ihrem Band »Verkannte Leistungsträger:innen« die brutale Realität der Dienstleistungsökonomie
    Von den zahllosen Missständen, die die Pandemie offenbart hat, ist einer der schlimmsten – und vermutlich gerade deshalb schon wieder vergessenen – die Situation derjenigen Dienstleistungsbeschäftigten, die immerhin schnell als »systemrelevant« bezeichnet wurden. Doch hat dieser Ehrentitel keineswegs zu einer wirklichen Aufwertung ihrer Tätigkeiten oder einer Verbesserung der Arbeitsbedingungen geführt, im Gegenteil diente die »Systemrelevanz« oftmals dazu, den Druck auf die Beschäftigten weiter zu erhöhen. Gut, dass inzwischen wenigstens über das Thema geschrieben wird. Nachdem im Frühjahr die Journalistin Julia Friedrichs ihre vielbeachtete Buchreportage »Working Class« veröffentlichte, liefern die Soziolog*innen Nicole Mayer-Ahuja und Oliver Nachtwey nun das sozialwissenschaftliche Gegenstück dazu. In dem Band »Verkannte Leistungsträger:innen« versammeln sie mehr als 20 Einzelstudien zu ebenso vielen unterschiedlichen Branchen, vom Einzelhandel über Friseur*innen bis zur Krankenhauswäscherei. Dabei geht es den Autor*innen der Beiträge nicht nur um einzelne Schlaglichter auf Bereiche, in denen die Anerkennungsmechanismen der »Leistungsgesellschaft« nur noch nicht ganz optimal greifen. Vielmehr zeichnen sie ein umfassendes Bild der unteren Sphären unserer Klassengesellschaft. (…) Reguläre Beschäftigungsverhältnisse bieten immerhin noch die rechtlichen Voraussetzungen zum Arbeitskampf. Anders sieht das in den Bereichen aus, die von irregulärer, illegaler und überwiegend migrantischer Beschäftigung geprägt sind – wie die 24-Stunden-Betreuung, große Teile der Lebensmittelindustrie, aber auch der Logistik- und der Reinigungsbranche. (…) Fast ebenso düster sieht es für geduldete Migrant*innen in der häuslichen Pflege oder bei Lieferdiensten aus. Ihr Aufenthaltsstatus hängt oftmals an ihrem Beschäftigungsverhältnis, sodass Arbeitgeber sich eine gesteigerte Toleranz gegenüber unmenschlichen Arbeitsbedingungen zunutze machen können. (…) In der Gesamtheit der Beiträge entsteht so das Bild einer hochgradig prekären, aber doch auch politisch gestaltbaren Dienstleistungsökonomie. Die einzelnen Texte beleuchten ihre Bereiche durch eine Kombination aus Betroffeneninterviews und wissenschaftlicher Analyse, manchmal auch durch eigene Tätigkeit in den untersuchten Branchen. Dadurch gelingen eindrucksvolle bis haarsträubende Einblicke, welche die Lektüre der fast 600 Seiten fesselnd machen. Deutlich werden die systemischen Zusammenhänge des globalen Kapitalismus…“ Rezension von Tom Wohlfarth am 25.09.2021 in ND online externer Link von Nicole Mayer-Ahuja und Oliver Nachtwey (Hg.): Verkannte Leistungsträger:innen. Berichte aus der Klassengesellschaft. Siehe Infos bei Suhrkamp externer Link
  • Systemrelevante Berufe in der Coronakrise: »Beschäftigte fühlen sich ausgenutzt« 
    Der Sozialwissenschaftler Philipp Tolios im Gespräch mit Peter Nowak am 22. März 2021 in neues Deutschland online externer Link. Tolios forscht zur Bedeutung systemrelevanter Berufe in der Coronakrise und erklärt dazu u.a.: „… Unsere Arbeitswelt lässt sich nicht aus der Vogelperspektive in relevante und irrelevante Berufe trennen, dafür sind unsere Gesellschaften zu komplex und zu divers. Den Wert des Begriffs sehe ich eher in seinen negativen Qualitäten: Er stellt die historisch gewachsenen Muster in Frage, nach denen wir uns am Arbeitsmarkt orientieren, etwa welche Tätigkeiten angesehen sind, was man in welchem Job erwarten beziehungsweise fordern darf und was nicht. Uns bietet sich gerade die Möglichkeit, diese Dinge neu zu verhandeln. (…) Die Gewerkschaften unterscheiden sich in der Hinsicht nicht vom Rest der Gesellschaft. Sie diskutieren diesen Begriff kontrovers. Schließlich liegt es auf der Hand, dass er dazu dienen kann, Gruppen von Arbeitnehmer*innen gegeneinander auszuspielen. Gleichzeitig haben die Gewerkschaften, wo möglich, »Systemrelevanz« geschickt als Argument eingesetzt. Insgesamt handelt es sich um einen eher pragmatischen Umgang. Bei Beschäftigten scheint sich hingegen nach der anfänglichen Freude über die Anerkennung mittlerweile der Eindruck auszubreiten, man werde ausgenutzt. Der Begriff verliert also langsam seine Strahlkraft. (…) Corona hat uns die Arbeit in vielen überwiegend von Frauen ausgeübten Berufen schlagartig ins Bewusstsein geführt. Dazu gehören vor allem Sozial- und Gesundheitsberufe. Die Pandemie hat aber nur für die nötige Sichtbarkeit gesorgt, und Dankbarkeit ist leider keine politische Kategorie. Beschäftigte in diesen Berufen werden nicht drum herum kommen, sich aktiv für ihre Interessen einzusetzen.“
  • Profis am Limit: Studie und Konferenz verdeutlichen Arbeitsbelastung von Beschäftigten in der Sozialen Arbeit 
    „Beschäftigte in der Sozialen Arbeit sind durch die Corona-Krise noch deutlich mehr belastet als sie es ohnehin schon vor der Pandemie waren. Das hat eine Studie der Hochschule Fulda in Zusammenarbeit mit der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft (ver.di) ergeben. Befragt wurden hierzu mehr als 3.000 Beschäftige in sozialen Berufen wie beispielsweise Erzieherinnen und Erzieher, So-zialarbeiterinnen und Sozialarbeiter, Beschäftigte in der Altenpflege, in der Jugendarbeit, in Betreuungseinrichtungen und zahlreichen anderen Arbeitsfeldern. Ein Ergebnis der online-Befragung, die Ende 2020 durchgeführt wurde, ist, dass sich 62,1 Prozent der befragten Beschäftigten belastet oder sogar extrem belastet fühlen. Insofern verschlechtern sich aus Sicht jedes Zweiten von ihnen die Arbeitsbedingungen und im Ergebnis denken 29,9 Prozent über einen Stellenwechsel sowie 16,2 Prozent über einen Berufswechsel nach. Als Gründe für die verschlechterten Arbeitsbedingungen wird unter anderem genannt, dass Schutzmaßnahmen nicht ausreichend vorhanden sind, dass die Probleme der zu betreuenden Menschen zunehmen und ihre Armutsrisiken steigen, dass die Arbeitsverdichtung zunimmt, unter anderem weil Beschäftigte selbst oder Angehörige zu Risikogruppen gehören oder erkrankt sind. Deutlich wird, dass dringend Handlungsbedarf notwendig ist. Darüber diskutieren am heutigen (16. März 2021) Internationalen Tag der Sozialen Arbeit Beschäftigte mit dem Staatssekretär im Bundesministerium für Arbeit und Soziales Björn Böhning, der stellvertretenden ver.di-Vorsitzenden Christine Behle sowie den Autoren der Studie Prof. Dr. Nikolaus Meyer (Hochschule Fulda) und der Gewerkschafterin Elke Alsago (ver.di) in einer digitalen Konferenz…“ ver.di-Pressemitteilung vom 16. März 2021 externer Link und ein Fact sheet externer Link Soziale Arbeit macht Gesellschaft
  • Systemrelevant, aber wertlos. Frauen erhalten immer noch weniger Lohn für ihre Arbeit, egal wie wichtig diese ist
    Kaum einem Land in Europa sind systemrelevante Berufe so wenig wert wie Deutschland. Dieser Schluss lässt sich beim Blick auf die aktuelle Statistik zum Gender Pay Gap ziehen. Die Lohndifferenz zwischen Männern und Frauen liegt nämlich bei 18 Prozent – und damit weiterhin über dem Durchschnitt in der EU. Heißt: Im Vergleich zu ihren Kollegen arbeiten weibliche Beschäftigte 69 Tage im Jahr für lau. Gleichzeitig sind aber überdurchschnittlich viele Frauen in systemrelevanten Berufen beschäftigt. Dass der Schluss über Ignoranz gegenüber Systemrelevanz nicht trügt, bekräftigt der Vergleich mit Zahlen vorheriger Jahre: 2019 lag der Gender Pay Gap noch bei 20 Prozent. Er ist also gesunken. Allerdings nicht, weil Frauen mehr verdient haben, sondern Männer weniger. Sie wurden in Kurzarbeit geschickt, während Pflegerinnen und Kassiererinnen das Land durch die Coronakrise führten – für weiterhin geringe Löhne…“ Kommentar von Birthe Berghöfer vom 10.03.2021 im ND online externer Link – siehe dazu Gender Pay Gap 2020: Frauen verdienten 18 % weniger als Männer – Verdienstunterschied bei durchschnittlich 4,16 Euro brutto pro Stunde
  • Systemrelevante Berufe: Sozialstrukturelle Lage und Maßnahmen zu ihrer Aufwertung 
    „«Wir bleiben zuhause. Und wir danken allen, die den Laden am Laufen halten.» So lautete das Motto einer Anzeigenkampagne, die der Bundesverband Digitalpublisher und Zeitungsverleger (BDZV) am 21. März 2020 initiierte. Der «Laden» – dazu zählten all diejenigen Tätigkeiten, auf die eine Gesellschaft, die in einer akuten Notlage ihr soziales und ökonomisches Leben drastisch einschränken will, auch für befristete Zeit schlechterdings nicht verzichten kann und soll: die Versorgung mit Lebensmitteln, mit Wasser, Strom und Information, die Betreuung und Versorgung der Kranken, der Alten, der Gebrechlichen in Arztpraxen, Krankenhäusern und Pflegeheimen, der Schutz der öffentlichen Sicherheit und Ordnung – von der Müllbeseitigung über die Brandbekämpfung bis zum Schutz von Leben und Eigentum –, die Gewährleistung von Mobilität und Zustellung. Kassiererinnen im Supermarkt, Pflegerinnen auf der Intensivstation und viele andere wurden als «Heldinnen des Corona-Alltags» beklatscht und gewürdigt, einmalige Prämien als Zeichen der besonderen Wertschätzung ausgelobt. «Unverzichtbar», «erforderlich», «notwendig» für die «Grundversorgung» bzw. für das «absolut nötige Minimum» an gesellschaftlichem Leben waren einige hoch angesehene und entlohnte Berufe: Ärztinnen und Virologen zum Beispiel. Die meisten Unverzichtbaren und Erforderlichen stehen in der Lohn- und Einkommenshierarchie indes in der unteren Hälfte, oft sogar am unteren Ende. Ein typisches Beispiel sind die Reinigungsberufe, ohne die ein regelgerechter Betrieb etwa von Krankenhäusern nicht vorstellbar ist. Was würde es nun für das gewachsene Lohn- und Gehaltsgefüge bedeuten, wenn Reinigungskräfte im Verhältnis zu Ärzten oder Professorinnen besser bezahlt würden? Und wie würde sich die geschlechtliche Arbeitsteilung verändern, da doch viele unverzichtbare Berufe typische Frauenberufe sind? Die gesellschaftliche Diskussion solcher Fragen hat durch die Pandemie-Erfahrungen neuen Auftrieb erhalten. Mit der von Philipp Tolios hier vorgelegten Studie wollen wir dazu beitragen, dass sie auf empirisch fundierter Grundlage fortgeführt werden kann. (…) Philipp Tolios analysiert die Stellung der «systemrelevanten Berufe», vor allem ihre Vergütung, auf der Basis von Daten der Beschäftigtenstatistik der Bundesagentur für Arbeit und Erhebungen im Rahmen des Sozio-ökonomischen Panels SOEP. Wenn die Studie dazu beträgt, die Diskussion über Wege und Formen einer höheren Wertschätzung für die «systemrelevanten Berufe» am Leben zu erhalten und zu vertiefen, dann erfüllt sie unsere Erwartungen. Wenn dabei der schillernde Begriff «systemrelevante Berufe» durch einen besseren ersetzt wird, der die Menschen dazu bringt, mit Stolz und Selbstbewusstsein diesen Tätigkeiten nachzugehen – dann wäre für die klassenpolitischen Auseinandersetzungen in und nach der Pandemiezeit noch mehr gewonnen.“ Aus der Ankündigung bei der RLS externer Link samt Inhaltsverzeichnis zur Studie von Philipp Tolios vom Februar 2021 bei der RLS externer Link
  • systemrelevant.tv: Hier kommen ArbeiterInnen zu Wort 
    Auf dem YouTube-Kanal erzählen Arbeiterinnen und Arbeiter, wie ihr Alltag aussieht, was sie morgens motiviert aufzustehen und wie sie für ein besseres Leben kämpfen. (…) Die Debatte um «systemrelevante» Berufe in der Coronakrise erschien uns als Chance, in systemrelevant.tv über die gemeinsamen Erfahrungen in Berufen zu sprechen, die nach Bullshitjob-Logik umso schlechter bezahlt werden, je gesellschaftlich relevanter sie sind. Unser Ziel: Weder Daumenhoch-Imagefilme noch politische Appelle, die sich abnutzen. Wir haben vielmehr begonnen, einen hör- und sehbaren Podcast zu entwickeln, in dem man Menschen kennenlernt, die durch ihren Mut, ihren Stolz und ihre Integrität zu Vorbildern geworden sind, zu Offline-Influencern. Nicht nur in Talkshows kommen kaum einfache Beschäftigte zu Wort, auch bei gewerkschaftlichen Kampagnen wird die Kamera oft nur auf die Sekretäre gehalten, und es bleibt offen, mit welchen Motiven die Menschen an der Basis sich auf das Risiko von Arbeitskämpfen einlassen und welche Hoffnungen sie antreiben. Genau über diese zum Teil auch sehr intimen Fragen möchten wir sprechen. Aggressive Hamsterkäufe, Lkw-Ladungen mit Toilettenpapier und Corona-Ausbruch im Seniorenheim – unsere Gäste brachten von Anfang an Corona-Geschichten mit. Allen liegt aber am Herzen, über tieferliegende gesellschaftliche Missstände zu diskutieren. (…) Wie gelangt man aber vom Bewusstsein der Relevanz des eigenen Berufs zum Klassenbewusstsein, zur Einsicht in gemeinsame, berufsspartenübergreifende Interessen? Wenn Facebook-Seiten im Stundentakt Pflege-Memes posten und sich über Merchandise in Form von T-Shirts mit aufgedruckten Sprüchen wie «So gut kann nur ein Pfleger aussehen» finanzieren, wäre es ein Fehlschluss zu meinen, im gleichzeitigen Bedienen verschiedener Berufsgruppen ließe sich das zersplitterte Berufsspartenbewusstsein ohne weiteres zu einem neuen Klassenbewusstsein zusammenführen. Trotz der Wiederentdeckung der Klassenfrage in den deutschen Feuilletons bleibt es deswegen fraglich, ob sich mit «Klasse» Medienformate für ein Massenpublikum machen lassen. Die Reaktionen auf die ersten Interviews von systemrelevant.tv zeigen aber schon jetzt: Es besteht großer Redebedarf zum Thema Arbeit und wie sie in all ihren Facetten unser Leben prägt. Um das System, das uns die Arbeit schwer macht, zu hinterfragen, müssen wir uns der Arbeit aus unterschiedlichen Perspektiven nähern.“ Artikel von Clemens Melzer in der Soz Nr. 02/2021 externer Link – Clemens Melzer hat zusammen mit Freunden, die wie er aus dem Medienbereich kommen und gewerkschaftlich aktiv sind, im März 2020 den YouTube-Kanal systemrelevant.tv externer Link gestartet, um mit ArbeiterInnen ausführliche Gespräche über die Arbeit und das Leben zu führen. In den Folgen 1–10 erzählen u.a. ein Busfahrer, eine Krankenflegerin, eine Sexarbeiterin, eine Kassiererin und ein Kellner aus ihrem Alltag.
  • Die Vergessenen: Erzieherinnen und Verkäuferinnen, Medizinisches Personal 
    “… 40 Prozent der Verkäufer fürchten, sich im Laden oder auf dem Weg dorthin zu infizieren. Bei Ärztinnen und Pflegern ist es knapp die Hälfte, bei Erziehern sogar mehr. Und das hat nichts mit Hysterie zu tun. Die Krankenkasse AOK fand heraus, dass sich Erzieher 2,3 mal so häufig mit Corona infizieren wie durchschnittliche Arbeitnehmer – der Spitzenwert. Medizinische Berufe folgen auf den nächsten Plätzen. Solche Befunde überraschen kaum. Kontakte gehören zu diesen Berufen dazu. Würden Erzieher im Kindergarten dauernd den offiziellen Abstand wahren, würden die Kinder seelisch verkümmern. (…) Inkonsequent erscheint auch, Schulen zu schließen, Kitas und Horte aber vielerorts für jeden offen zu lassen. Anders als im Frühjahr 2020 müssen Eltern meist weder nachweisen, dass sie einer systemrelevanten Tätigkeit nachgehen – noch, dass sie überhaupt arbeiten. Dies strikter zu handhaben, würde das Risiko für die Erzieher senken. Sinnvoll wäre zudem eine Pflicht für Unternehmen, in Hotspots regelmäßig die Belegschaft zu testen. Damit würden Infektionen schneller entdeckt und die Ausbreitung verhindert. Es ist schade, dass SPD-Arbeitsminister Hubertus Heil seinen Plan für eine Testpflicht nicht durchgesetzt hat. Die Union folgt wie so oft ihrer Maxime, Unternehmen möglichst wenig zu belasten, erst recht in einer Wirtschaftskrise. Es ist eine Maxime, die in diesem Fall die Gesundheit von Beschäftigten gefährdet. (…) Die Bertelsmann-Stiftung sagt voraus, dass sich der Einsatz weiterhin nicht besonders lohnen wird. Demnach verdienen Sozialberufe, Gesundheit und Verkäufer noch in fünf Jahren real 2000 bis 2500 Euro im Monat – deutlich unter dem Durchschnitt. Diese Arbeitnehmer verdienen mehr Wertschätzung. Dazu gehört, dass die Politik mehr Tarifverträge für allgemeinverbindlich erklärt – ein Schub für die Löhne. Dazu gehören auch Sanktionen für Firmen, die Betriebsräte behindern…“ Artikel von Alexander Hagelüken vom 27.01.2021 in der Süddeutschen Zeitung online externer Link, siehe auch:

  • Bertelsmann Stiftung: Corona-Helden bleiben beim Einkommen abgehängt 
    Ausgerechnet Berufe, die in der zweiten Welle der Corona-Pandemie erneut in den Blickpunkt gerückt sind, haben bei Gehaltserhöhungen das Nachsehen. Das zeigt unsere Studie zur Lohneinkommensentwicklung bis 2025. Den unteren Lohngruppen drohen demnach in den nächsten Jahren gar reale Einkommensverluste. Dagegen vergrößern Beschäftigte mit eher hohen Gehältern ihren Vorsprung.
    Menschen standen auf den Balkonen und klatschten. Der Applaus galt den Pfleger:innen in Krankenhäusern und Pflegeheimen, die gegen das Coronavirus im Einsatz waren, aber auch den Beschäftigten im Einzelhandel und allen anderen Helfer:innen, die das Land seit dem Frühjahr am Laufen halten, wie es die Kanzlerin formulierte. Die Bevölkerung ist auf sie angewiesen – ganz besonders in Zeiten der Pandemie. Doch ausgerechnet diese Beschäftigten werden in Zukunft das Nachsehen haben. Das zeigt eine neue Studie der Prognos AG in unserem Auftrag, die die Lohneinkommensentwicklung bis ins Jahr 2025 prognostiziert. Die durchschnittlichen Bruttojahresverdienste im Gesundheits- und Sozialwesen werden selbst 2025 um 4.400 Euro unterhalb des durchschnittlichen Einkommens liegen, im Einzelhandel gar um 10.200 Euro. Den unteren Einkommensgruppen drohen sogar reale Einkommensverluste. „Die geringe Inflation frisst die noch geringeren Lohnzuwächse auf“, sagt unser Wirtschaftsexperte Torben Stühmeier. Bis 2025 wird das verfügbare reale Einkommen der unteren Einkommensgruppen um etwa zwei Prozent zurückgehen, so die Prognose. Das Lohnwachstum in den Branchen hängt mit dem jeweiligen Produktivitätswachstum zusammen. Beschäftigte mit Spezialwissen, in Branchen mit Tarifbindung und in kapitalintensiven Sektoren profitieren am stärksten. Das Wachstum der Arbeitsproduktivität wird bis 2025 hingegen in den arbeitsintensiven Branchen des Gesundheitswesens oder des Einzelhandels nur etwa halb so hoch ausfallen wie im Verarbeitenden Gewerbe und der Chemie- und Elektroindustrie. (…) Von der geringen Lohndynamik sind besonders Alleinerziehende betroffen. Zum einen sind sie häufig in Branchen mit einer unterdurchschnittlichen Produktivitätsentwicklung beschäftigt, zum anderen arbeiten sie im Durchschnitt drei Stunden weniger als alle Erwerbstätigen im bundesweiten Durchschnitt. Sie bleiben abgehängt, ihr verfügbares Einkommen wird real um 0,1 Prozent im Jahresdurchschnitt sinken. Das liegt auch daran, dass der weitaus größte Teil der alleinerziehenden Mütter – fast zwei Drittel – in Teilzeit arbeitet. Damit sich an der Lage von Alleinerziehenden etwas ändert, brauchen sie flexible Möglichkeiten der Aus- und Weiterbildung, die ihre Verantwortung für die Erziehung und Betreuung ihrer Kinder berücksichtigt. Zudem ist der Ausbau von guten Ganztagsschulen und -kitas unerlässlich. Das hilft dann auch besonders im Gesundheitswesen, wo allein ein Fünftel der Alleinerziehenden arbeitet. Eben diese Branche wird in den nächsten Jahren in Deutschland am stärksten wachsen, prognostiziert die Studie. (…) Das Nachsehen haben laut Prognose die berufstätigen Frauen. Sie werden nur rund 60 Prozent des Bruttoverdienstes der Männer erreichen. Das hat zwei Gründe. Frauen sind häufig in unterdurchschnittlich produktiven Wirtschaftszweigen beschäftigt. Zudem arbeiten sie deutlich häufiger in Teilzeit. (…)Auch der für den öffentlichen Dienst tariflich vereinbarte einmalige Corona-Bonus ändert an der Gesamtsituation nichts. Es lässt sich voraussagen, dass das Coronavirus bestehende Ungleichgewichte eher noch verschärfen dürfte, sagt Torben Stühmeier. Denn besonders hart getroffen hat die Pandemie das Gastgewerbe und viele private Dienstleistungen. Hier arbeiten rund elf Prozent aller Beschäftigten, darunter überdurchschnittlich viele Frauen und Alleinerziehende. Die Branchen bezahlen im Vergleich niedrige Löhne und angesichts der wirtschaftlichen Situation dürfte in den nächsten Jahren wenig Luft für deutliche Lohnsteigerungen vorhanden sein.“ Beitrag von Torben Stühmeier vom 08.12.2020 externer Link bei der Bertelsmann Stiftung samt Studie – und quasi alternativlos wird postuliert: „… Entsprechend geringer ist der Spielraum für Lohnerhöhungen. Somit müssen Produktivitätssteigerungen auch in den arbeitsintensiven Branchen, in der Pflege oder dem Gesundheitswesen, auf die Agenda rücken. Die Digitalisierung von Abläufen und Dokumentationen etwa bietet hier noch reichlich produktivitätssteigerndes Potenzial. Hiervon werden am Ende auch die Erwerbstätigen profitieren, so die Studie…“ – Bertelsmann Stiftung eben
  • Arbeiterklasse und Corona: Das Klassenvirus 
    „… Wenn wir etwas gelernt haben, dann dies: welche Menschen die Gesellschaft tatsächlich funktionieren lassen. Es sind nicht die überbezahlten Vorstandsvorsitzenden oder die Magnaten. Jahrelang haben sie uns erzählt, dass sie für unseren Wohlstand sorgen. Nichts davon. Es ist die werktätige Klasse, die alles am Laufen hält. Normal arbeitende Männer und Frauen. Menschen, die nie in Talkshows oder auf Meinungsseiten erscheinen, außer wenn über sie geredet wird. Die jeden Tag ihre Arbeitskraft verkaufen. Die Regale füllen. Die Lkw abladen. Die Bettlaken waschen. Die Senioren versorgen. Die Erdbeeren pflücken. Die in den Geschäften bedienen. Die Tiere in Fleischfabriken zerlegen. Die den Müll abholen, die Fabriken am Laufen halten, die Feuer löschen, die Flure putzen, die Kleinkinder versorgen … Ohne diese Menschen könnten wir in Zeiten einer Pandemie nicht überleben. Wir bekämen keine Pflege, hätten kein Essen, wären nicht sicher. Während sie sich dem Virus aussetzen, liefern sie den Beweis für die gähnende Kluft zwischen der Bewertung ihrer Arbeit auf dem Markt – ein karger Lohn – und dem Sozialwert ihrer Tätigkeit. Sie sind unverzichtbar. (…) Laut offiziellen Zahlen der Europäischen Union hat während der Pandemie beinahe ein Drittel der werktätigen Klasse einen »essentiellen Beruf« ausgeübt. Unterricht, Landwirtschaft und Lebensmittelbereich, Wissenschaft und Technik, Pflege und Reinigung sind die wichtigsten Sektoren, aber bei weitem nicht die einzigen. »Lange Zeit dachte man, dass Roboter und Technologie die Arbeit der Menschen ersetzen würden«, sagt der Professor für Arbeitssoziologie Mateo Alaluf. »In dieser Krise haben wir festgestellt, dass menschliche Arbeit ein wesentliches Element bleibt. All diejenigen, die ganz hinten in der Lohnreihe stehen, müssen doch als erste wieder ran. Die Menschen, die am wenigsten verdienen, sorgen dafür, dass unsere Gesellschaft weiter läuft.« Der Soziologe kommt zu dem Schluss: »Die Krise hat die Ungleichheiten wieder größer und die Klassengegensätze wieder sichtbarer gemacht.« (…) Der Arbeitsplatz ist nicht der sichere Hafen, den die »Arbeitgeber« daraus machen wollen. Im Gegenteil. Die höchste Zahl der Todesopfer von Covid-19 finden die britischen Forscher beim Bewachungspersonal, bei Taxi- und Busfahrern, Vorarbeitern, beim Verkaufs- und Geschäftspersonal, bei Bauarbeitern und in Serviceberufen, wie beispielsweise Lieferanten an Krankenhäuser sowie Küchen- und Catering-Mitarbeiter und Kellner.  »Es sind genau die Berufe, die oft am schlechtesten bezahlt werden, mit den heikelsten Arbeitsbedingungen und in prekären Stellungen«, schreiben die Forscher. Die Berufe, mit denen die höchsten Risiken verbunden sind, werden am geringsten bezahlt. Covid-19 ist auch ein Klassenvirus, mit Niedriglöhnern in der Frontlinie. »Es ist ein wichtiger Bericht. Er bestätigt, dass Covid-19 bei der Erwerbsbevölkerung weitgehend eine Berufskrankheit ist. Nicht nur für Arbeitnehmer im Pflege- und Sozialsektor, sondern auch in vielen anderen Berufen mit Kontakten zu Menschen«, erklärt Neil Pearce. Er ist Dozent für Epidemiologie und Biostatistik. Er führt aus: »Das höchste Risiko ist auf Arbeitsstellen zu finden, die einen Kontakt mit der Öffentlichkeit verlangen. Das überrascht nicht. Man muss nicht höhere Wissenschaften studiert haben, um zu verstehen, dass man als Busfahrer andauernd Kontakt mit der Öffentlichkeit hat, oft ohne die richtigen Schutzmittel. Und dass man damit ein höheres Risiko eingeht, sich mit dem Coronavirus anzustecken.«…“ Vorabdruck in der jungen Welt vom 28. September 2020 eines redaktionell gekürzten Abschnitts aus der Veröffentlichung von Peter Mertens externer Link „Uns haben sie vergessen. Die werktätige Klasse, die Pflege und die Krise, die kommt“, Verlag am Park, Berlin 2020, 154 S., 14 Euro
  • Coronakrise: Ich schau dir in die Augen, Systemrelevanz! Applaus oder Werkverträge? Ein Querschnitt durch die Solidarität während der Pandemie 
    „… »Systemrelevanz« ist ein Begriff mit einer Doppelbedeutung. Einerseits umschließt er diejenigen Arbeitsfelder, ohne die kein Mensch (über)leben könnte, andererseits sind aber auch diejenigen Personen »systemrelevant«, die dazu beitragen, dass das System überleben kann. Sieht man sich die staatlichen Förder- und Hilfsmaßnahmen einmal nach diesen Kriterien an, so ist ganz offensichtlich, dass vor allem diejenigen gefördert werden, die als relevant für das Weiterbestehen des Systems gelten, also Unternehmen wie Lufthansa oder solche der deutschen Autoindustrie, während diejenigen Personen, die für die Menschen relevante Arbeit leisten, die sich also beispielsweise um die Kranken, die Alten und die ganz Jungen kümmern und die dafür sorgen, dass Städte und Gebäude nicht in Dreck und Müll ersticken, die Obst und Gemüse ernten und Schweine, Kühe und Hühner schlachten, die die Waren sortieren, verpacken, ausliefern und verkaufen, außen vor bleiben. (…) Während für die Beschäftigten in der Pflege, im Supermarkt und im Einzelhandel eine Zeit lang allabendlich applaudiert wurde, wurde den Schlachthofarbeitern bei Tönnies die Autos, erkennbar am rumänischen Kennzeichen, angezündet; von der Dankbarkeit, die eine Zeit lang im von den Balkonen aus gespendeten Beifall ihren Ausdruck gefunden hat, blieben sie ebenso ausgeschlossen wie die Saisonarbeiter in der Landwirtschaft. Wer jetzt meint, dass für diese unterschiedlich große Wertschätzung von »Systemrelevanz« vor allem rassistische Gründe vorliegen, der übersieht, dass auch in den anderen Bereichen des Niedriglohnsektors, vor allem in der Pflege, ein hoher Anteil an ausländischen Arbeitskräften beschäftigt ist. Dass hier die Anerkennung unterschiedlich groß ausfällt, liegt eher darin begründet, dass es für eine Mehrheit weder vorstellbar noch wünschenswert ist, das zugrundeliegende Gesellschaftssystem zu verändern. Es ist ein Fehler der sogenannten »neuen Klassenpolitik«, anzunehmen, dass es gegenwärtig eine Arbeiterklasse mit einem gemeinsamen Klasseninteresse gäbe, das auf eine Veränderung des Gesellschaftssystems hinausläuft. Das ist identitär gedacht. Wenn in den Großschlachtereien nicht mehr Rumänen und Bulgaren zu Dumpinglöhnen im Akkord schlachten, dann wird das Schnitzel oder die Bratwurst teurer, was den Interessen aller anderen Beschäftigten zuwiderläuft, bleibt ihnen doch dann weniger von ihrem eigenen Gehalt übrig. Man hat es hier nicht nur mit grundsätzlich unterschiedlichen Interessen zu tun, der Konflikt unter den Arbeitnehmern wird dann auch noch verstärkt, indem er rassistisch aufgeladen wird. »Der Staat ist verpflichtet, seine Bürger und Bürgerinnen zu schützen, er ist verpflichtet zu verhindern, dass Familienväter und Frauen arbeitslos werden, weil Fremdarbeiter zu niedrigen Löhnen ihnen die Arbeitsplätze wegnehmen.« Es war kein Politiker der AfD, sondern Oskar Lafontaine, der bereits 2005 den »Fremdarbeiter« gegen den »deutschen Arbeiter« ausspielte, um über Strukturfragen nicht sprechen zu müssen. Mittels rassistischer Zuschreibungen wird jenen Arbeitskräften, die aus wirtschaftlich abgehängten, ärmeren Ländern stammen – in denen die Hungerlöhne, die in den betreffenden deutschen Betrieben gezahlt werden, zu einem halbwegs auskömmlichen Leben im Herkunftsland reichen -, auch noch die Schuld an eben diesen schlechten Löhnen und Arbeitsbedingungen zugeschoben…“ Artikel von Ruth Oppl vom 18. Juli 2020 in neues Deutschland online externer Link
  • Es geht um mehr als um Prämien
    “Viele Menschen, die in der Krankenpflege arbeiten, sind derzeit verärgert, weil sie – anders als die Beschäftigten in der Altenpflege – keinen Bonus und keine Prämie für ihre besondere Leistung und schwere Belastung in Zeiten von Corona erhalten haben. Nicht nur sie, auch viele andere wünschen sich endlich einen Zuschlag und mehr Anerkennung für ihre wichtige Arbeit. Und das wäre auch nur gerecht. Um es klar vorwegzunehmen: Natürlich steht den Beschäftigten in der Altenpflege die Sonderzahlung zu. Ein Bonus, der im Übrigen auf eine Tarifinitiative von ver.di für allgemeinverbindliche Regelungen in der Altenpflege zurückgeht. Doch auch Krankenpflegerinnen und -pfleger in Kliniken, und all die anderen Menschen, die ebenfalls den Laden zusammenhalten – ob in der Behindertenhilfe, im Sozialwesen, in der Reinigung, im Nahverkehr oder im Handel – auch sie hätten einen Corona-Bonus ganz sicher verdient. Und ver.di fordert ihn auch seit Wochen schon ein. Doch es geht um weitaus mehr: Der Unmut derjenigen, die jetzt leer ausgegangen sind, lenkt den Blick auf das eigentliche Problem. Es kann nicht nur um eine einmalige Prämie als Anerkennung für wichtige Arbeit in der Daseinsvorsorge in Pandemie-Zeiten gehen, es geht vor allem um dauerhaft gute Löhne für systemrelevante Arbeiten. Dazu braucht es Tarifverträge – und die fallen nicht vom Himmel. In Zeiten von Corona wurde für viele Menschen wie unter einem Brennglas sichtbar, welche Arbeiten unverzichtbar sind. Das ist gut so. Die bittere Wahrheit ist aber auch, viele dieser Arbeiten sind frauendominierte Berufe, die schlecht bezahlt werden. Dort, wo überwiegend Frauen arbeiten, wird und wurde schon immer weniger anerkannt, weniger wertgeschätzt und weniger entlohnt. Das lässt sich auch nicht mit einmaligen Prämien heilen…“ Kommentar von Marion Lühring vom 15.07.2020 bei ver.di externer Link mit dem Aufruf zur gewerkschaftlichen Organisierung
  • Weibliche Beschäftigte: Systemrelevant und unterbezahlt 
    Frauen werden massiv unterbezahlt. Vor allem in den systemrelevanten Berufen, die das öffentliche Leben aufrechterhalten. Das war schon vor Corona so. Aber die Krise bringt diese Ungerechtigkeit noch viel stärker ins öffentliche Bewusstsein. Es ist deshalb höchste Zeit, gegenzusteuern. Die Erwerbsarbeit von Frauen muss endlich anständig bezahlt werden. Dazu braucht es mehr Tarifverträge und eine Aufwertung der sozialen Berufe. Rückblende: Lange Schlangen in Supermärkten, volle Krankenhäuser, Überstunden im Labor und in unzähligen anderen Berufsgruppen – auf dem Höhepunkt der Pandemie hatten viele Beschäftigte mehr als genug zu tun. Durch ihre unverzichtbare Arbeit haben sie die Versorgung der Menschen mit allen lebensnotwendigen Gütern und Dienstleistungen sichergestellt. Dafür gebührt ihnen Respekt. Neben ihrer Systemrelevanz weisen diese Tätigkeiten aber noch weitere Parallelen auf: Sie werden überwiegend von Frauen geleistet. Und vor allem sind sie massiv unterbezahlt!…“ schlaglicht 27/2020 des DGB Niedersachsen vom 09.07.2020 externer Link, siehe auch:

    • [DGB-Index] Weiblich, systemrelevant, unterbezahlt: Arbeitsbedingungen in vier frauendominierten Berufsgruppen
      In der Corona-Krise waren und sind sie systemrelevant: Pflegeberufe, Verkaufsberufe, Erziehungs- und Sozialberufe, Reinigungsberufe. In diesen vier Branchen arbeiten hauptsächlich Frauen. Bezahlung und Arbeitsbedingungen sind bisher unterdurchschnittlich, wie Zahlen des DGB-Index Gute Arbeit zeigen. Zeit, das endlich zu ändern. Vier frauendominierte Berufsgruppen hat das Team des DGB-Index Gute Arbeit genauer unter die Lupe genommen: Reinigungsberufe, Verkaufsberufe, Pflegeberufe (Alten- und Krankenpflege) sowie Erziehungs- und Sozialberufe. Die Ergebnisse: Atypische und prekäre Beschäftigung ist unter ihnen weit verbreitet, die Mehrheit der Beschäftigten in diesen Berufen bewertet ihr Einkommen als „nicht“ oder „gerade“ ausreichend und psychische sowie physische Belastungen sind überdurchschnittlich. „Die Befragungsergebnisse machen deutlich, dass systemrelevante Arbeit häufig von Frauen unter schlechten Bedingungen geleistet wird“, fasst das Team des DGB-Index Gute Arbeit die Ergebnisse zusammen…“ DGB-Index Kompakt 01/2020 vom 18.07.2020 externer Link
  • Systemrelevant, aber dennoch kaum anerkannt: Entlohnung unverzichtbarer Berufe in der Corona-Krise unterdurchschnittlich 
    „In Zeiten der Corona-Krise zeigt sich: Bestimmte Berufsgruppen und Bereiche des öffentlichen und sozialen Lebens sind systemrelevant. Die Mehrheit der als systemrelevant definierten Berufe weist jedoch außerhalb von Krisenzeiten ein geringes gesellschaftliches Ansehen und eine unterdurchschnittliche Bezahlung auf. Der Frauenanteil ist hingegen überdurchschnittlich. Dies gilt vor allem für die systemrelevanten Berufe der „ersten Stunde“, also jene Tätigkeiten, die seit Beginn der Corona-Krise als systemrelevant gelten. Die Liste systemrelevanter Berufe wurde über die Zeitkonkretisiert und um weitere Berufsgruppenergänzt. Diese zusätzlichen Berufe haben ein höheres Lohn- und Prestigeniveau und einen höheren Männeranteil. Dennoch gilt auch nach der erweiterten Definition der systemrelevanten Berufe„zweiter Stunde“: Die Diskrepanz zwischen gesellschaftlicher Unverzichtbarkeit und tatsächlicher Entlohnung ist in Krisenzeiten besonders offensichtlich. Deshalb sollten auf kollektive Dankbarkeit konkrete Maßnahmen folgen, wie eine höhere Entlohnung und eine breitere tarifvertragliche Absicherung…“ Studie von Josefine Koebe, Claire Samtleben, Annekatrin Schrenker und Aline Zucco vom Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung (DIW-aktuell 48) (07/2020) externer Link
  • Rund 80.000 Menschen unterzeichnen Offenen Brief „Soziale Arbeit ist unverzichtbar“ – ver.di übergibt Unterschriften an das Bundesfamilienministerium 
    “… „Die Beschäftigten in der Sozialen Arbeit – diese umfasst unter anderem Kitas, die Kinder- und Jugendhilfe, Behindertenhilfe oder Hilfen für Wohnungslose und Geflüchtete – sind gefordert wie nie zuvor; viele fühlen sich aber in der Corona-Krise alleingelassen“, sagte die stellvertretende ver.di-Vorsitzende Christine Behle. Den Beschäftigten würden häufig unzureichende oder fehlende Schutzmaßnahmen zugemutet, oder ihnen drohten Kurzarbeit oder Entlassung. „Qualifizierte Soziale Arbeit braucht gut entwickelte Träger und Strukturen; die entsprechenden Einrichtungen kann man nicht von heute auf morgen schließen und übermorgen wieder öffnen.“ Um den Gesundheitsschutz der Beschäftigten in der Sozialen Arbeit zu gewährleisten, brauche es bundesweite Regelungen, die Beschäftigten, Adressatinnen und Adressaten, Kindern und Eltern Sicherheit geben, so Behle weiter. Die durch das Bundesarbeitsministerium für die gesamte Arbeitswelt formulierten Standards seien in der Sozialen Arbeit, in der es um den Dienst an und mit den Menschen gehe, nicht anwendbar. (…) „Die sprunghafte Öffnung der Kitas lässt die realen Kapazitäten unberücksichtigt.“ Dies gehe oftmals zu Lasten der Beschäftigten; dabei müssten insbesondere Beschäftigte, die Risikogruppen angehörten, geschützt werden. „Es kann nicht sein, dass Kolleginnen und Kollegen, die jahrelang den Kita-Ausbau unter schwierigen Bedingungen mitgetragen haben, jetzt in eine ungewisse Zukunft geschickt werden, wenn ihr Gesundheitszustand beeinträchtigt ist.“ Hier müsse der Bund eingreifen und Angebote machen, wie die Beschäftigten abgesichert werden können.“ ver.di Pressemitteilung vom 19.06.2020 externer Link
  • Prekär und systemrelevant – „Applaus reicht nicht“
    Trotz erhöhtem Risiko, sich selbst anzustecken: Die Beschäftigten vieler Dienstleistungsbranchen hielten während der Corona-Einschränkungen den Laden am Laufen. Sie waren und sind unverzichtbar – sie sind „systemrelevant“. Wie eine aktuelle Studie des DeZIM-Instituts zeigt, haben viele von ihnen einen Migrationshintergrund. Während der Anteil der Beschäftigten mit Migrationshintergrund an allen Berufen etwa ein Viertel beträgt, liegt er bei Reinigungskräften bei fast der Hälfte, in der Altenpflege sowie bei Post- und Zustelldiensten bei etwa einem Drittel und bei Fahrer*innen im Straßenverkehr bei etwa 30 Prozent. Die Mehrheit von ihnen ist im Ausland geboren und selbst nach Deutschland gekommen. Menschen mit Migrationshintergrund stecken überdurchschnittlich oft in schlecht bezahlten und unsicheren Arbeitsverhältnissen. Gerade Beschäftigte, die im Ausland geboren sind, erhalten oft nur einen Niedriglohn. Und ausgerechnet in systemrelevanten Berufen ist der Anteil von Niedriglohn-Beschäftigten besonders hoch. „Applaus reicht nicht“ – das gilt deshalb auch hier: Wir brauchen gute und gesunderhaltende Arbeit für alle. Wir müssen prekäre Beschäftigungsverhältnisse zurückdrängen. Der Schutz durch Tarifverträge muss auch in den systemrelevanten Berufen ebenso selbstverständlich werden wie eine gute Entlohnung, Mitbestimmung und Chancen zur Weiterqualifizierung.“ Wirtschaftspolitik aktuell 11 / 2020 vom 16.6.2020 von und bei ver.di externer Link
  • Einmalige Boni reichen nicht
    Die Corona-Krise zeigt, wie wichtig systemrelevante Berufe etwa in der Pflege sind. Sie lassen sich dauerhaft nur durch Flächentarife aufwerten. (…) Die Politik hat auf diese Gerechtigkeitslücke schnell reagiert. Auf Sonderzahlungen bis zu 1500 Euro werden keine Steuern erhoben. Damit ist allerdings nicht sichergestellt, dass alle systemrelevanten Kräfte Zusatzprämien erhalten. Die Pflegekassen und die Länder finanzieren den Bonus in der Altenpflege. Die vielen anderen systemrelevanten Beschäftigten konnten jedoch nicht die gleiche öffentliche Unterstützung durchsetzen, obgleich sie ebenso belastet sind. Sie gehen leer aus oder werden allenfalls mit kleineren Beträgen abgespeist. Hinzu kommt, dass einmalige Boni zwar eine wichtige Geste sind, an den strukturellen Problemen der Unterbezahlung aber nichts ändern. Es muss darum gehen, unterbezahlte Beschäftigte nicht mit einmaligen Almosen abzuspeisen, sondern ihre Tätigkeiten dauerhaft aufzuwerten. Dabei müssen wir zwischen den systemrelevanten Berufen differenzieren. Um gut bezahlte Ärzte müssen wir uns keine Sorgen machen. Sie sind gewerkschaftlich bestens organisiert und politisch gut vernetzt. Völlig anders sieht es in den personalstarken Bereichen der Pflege, des Einzelhandels, der Reinigung oder der Paketdienste aus. Hier kommen mehrere Probleme zusammen. Erstens handelt es sich überwiegend um typische Frauenberufe. In der Vergangenheit galten Frauen nur als schlechter bezahlte Zuverdienerinnen. Durch das Ehegattensplitting und die steuerfreien Mini-Jobs werden sie noch heute in diese Rolle gedrängt. Zweitens sind die Beschäftigten in diesen Branchen gewerkschaftlich schlecht organisiert. In der Altenpflege etwa gehören nur zehn Prozent der Beschäftigten einer Gewerkschaft an. Sie versuchen überwiegend, ihre Probleme alleine zu lösen, indem sie die Arbeitszeit verkürzen oder den Job wechseln, was den Fachkräftemangel verschärft. Wer in Niedriglohnbranchen versucht, sich gemeinsam zu wehren und einen Betriebsrat zu gründen, wird oft schikaniert oder gekündigt. Drittens ist die Tarifbindung in diesen Bereichen drastisch gesunken. (…) Wie lassen sich unter solchen Bedingungen die systemrelevanten Berufe aufwerten? Die üblichen Ratgeber „Sei selbstbewusst! Geh zu Deinem Chef und frage nach einer Lohnerhöhung“ helfen allenfalls wenigen nicht ersetzbaren Spezialisten. Das einzige verfügbare Instrument, mit dem man gute Bezahlung für alle Beschäftigten einer Branche garantieren kann, sind Flächentarife. Die Erhöhung der Tarifbindung wäre ein Quantensprung für viele Beschäftigte. (…) Wegen der in der Verfassung verankerten Tarifautonomie kann der Staat den Abschluss von Tarifverträgen nicht erzwingen. Er kann sie auch nur für allgemein verbindlich erklären, wenn die Tarifpartner gemeinsam einen Antrag stellen. Der Staat hat allerdings einige wirkungsvolle Instrumente, mit denen er die Tarifflucht stoppen kann. So kann er sicherstellen, dass Tariflöhne kein Nachteil im Wettbewerb um öffentliche Aufträge sind. Es ist ein Riesenfortschritt, dass seit Jahresanfang in der Krankenpflege Tariflöhne nach dem Kostendeckungsprinzip refinanziert werden. Krankenhäuser haben damit keinen Anreiz mehr, unter Tarif zu zahlen. Leider gilt das nicht für das ebenso systemrelevante sonstige Personal. Dieses Tariftreueprinzip muss auch in der Pflegeversicherung für Altenpflege und bei allen öffentlichen Aufträgen gelten. Zudem sind die hohen rechtlichen Hürden für eine Allgemeinverbindlichkeitserklärung (AVE) abzusenken…“ Artikel von Gerhard Bosch vom 14. Juni 2020 in der Süddeutschen Zeitung online externer Link
  • Mehr Plumps als Wumms: Im Konjunkturpaket bleiben Frauen und ihre Systemrelevanz unsichtbar 
    „Was Feminist*innen schon lange klar ist, wurde in der Coronakrise auch für die breite Öffentlichkeit sichtbar: Lebensnotwendige und »systemrelevante« Arbeit wird in der Regel von Frauen geleistet – gering entlohnt und unter vielfach prekären Bedingungen. Die coronabedingte Ausnahmesituation machte undenkbares möglich: Menschen bedankten sich klatschend auf dem Balkon und Politiker*innen prangerten die geringe Wertschätzung und Entlohnung im Gesundheitssektor an. Bei dieser rhetorischen Anerkennung scheint es allerdings zu bleiben – im Konjunkturpaket jedenfalls finden sich keine geschlechterpolitischen Maßnahmen. Natürlich sind der Kinderbonus und ein Entlastungsbeitrag für Alleinerziehende durchaus wichtige und – besonders für in Armut lebende Menschen – hilfreiche Maßnahmen. »Jenseits der Alleinerziehenden, die weit überwiegend weiblich sind, werden Frauen als ökonomische Gruppe« jedoch nicht adressiert, kritisiert die »taz« vollkommen zurecht. Das »Leitprinzip Geschlechtergerechtigkeit«, das laut gemeinsamer Geschäftsordnung der Bundesministerien bei allen politischen, normgebenden und verwaltenden Maßnahmen der Bundesregierung zu berücksichtigen ist, kommt mehr als zu kurz. Geschlechterpolitik plumpst auf den Boden alter Tatsachen – auf beharrliche Ignoranz. Der Wumms bleibt aus. Dabei wurde immer wieder darüber berichtet, dass die Krise vor allem eine Krise der Frauen ist: Mütter sind mit Kinderbetreuung und Homeschooling beschäftigt. Unbezahlte Carearbeit geht zu Lasten der Lohnarbeitsstunden, die notgedrungen reduziert werden müssen. Dennoch ist die Suche nach Begriffen wie »Frauen«, »Geschlechtergerechtigkeit« oder gar »Carearbeit« im Konjunkturpaket vergeblich. Da mögen 300 Euro Kinderbonus für manche tatsächlich wie eine Art Schweigegeld wirken. Aber auch was den Bereich der Mobilität angeht, ist das Konjunkturpaket enttäuschend: »Weibliche« Mobilitätsgewohnheiten, wie die Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel oder des Fahrrads, werden weniger bezuschusst als der Kauf eines neuen Autos. Das ist auch aus ökologischer Sicht ein Griff ins Klo. »Zukunftsfähigkeit stärken« aber geht nur ökologisch und geschlechtergerecht. Das Motto des Pakets zur Krisenbewältigung ist knapp verfehlt.“ Kommentar von Birthe Berghöfer bei neues Deutschland vom 5. Juni 2020 externer Link
  • Die Arbeitskraft von Frauen auszubeuten, ist eine beliebte Strategie der Krisenbewältigung: Jetzt auch noch Masken nähen 
    „… Trotz vieler Besonderheiten hat die Coronakrise eines mit anderen sozialen Krisensituationen gemein: Bestehende Ungleichheiten wachsen. So treffen die Auswirkungen sozialer Krisen und Katastrophen Frauen weltweit härter als Männer. Das gilt für Wirtschaftskrisen wie für Wirbelstürme. Während der Finanzkrise 2008 verloren zwar insgesamt mehr Männer ihren Arbeitsplatz, doch in den besonders betroffenen Branchen mit ohnehin geringem Frauenanteil verloren überproportional viele Frauen ihre Stellen. Einschneidende Arbeitsmarktreformen mit Flexibilisierung und Privatisierung waren zentrale Bestandteile der europäischen Austeritätspolitik. Sie betrafen besonders öffentliche Sektoren wie Bildung, Pflege und Gesundheit, in denen Frauen überdurchschnittlich vertreten sind. Die Auswirkungen der Covid-19-Pandemie werden Schätzungen zufolge weit größer sein. Ihr ganzes Ausmaß ist noch nicht abzuschätzen. Dennoch zeigt sich bereits jetzt, dass Frauen auch im Vergleich zur Finanzkrise nicht nur stärker von den Folgen betroffen sein werden, sondern auch den größten Teil der gesellschaftlichen Arbeit leisten, die zur Überwindung der Krise notwendig ist. Sorgearbeit erwies sich spätestens seit Beginn des 20. Jahrhunderts als flexible Manöviermasse, die je nach Organsiation der Produktion oder Art der Krise mehr oder weniger gesellschaftlich oder marktförmig organisiert werden konnte. Die Kommodifizierung von Sorgearbeit geht oft einher mit der Umleitung dieser Arbeit ins Private oder Umwandlung in schlecht bezahlte Dienstleistungen. Im familiären Rahmen sollen Frauen die Institutionen ersetzen, die Sorgearbeit zuvor öffentlich angeboten hatten. Die für die Reproduktion des Kapitalismus notwendige Sorgearbeit wurde in Zeiten schwindender Kaufkraft und verstärkt in Krisenzeiten ins Private verschoben. Dort erledigten sie Frauen unbezahlt, die ohnehin schlechter entlohnt wurden und besonders von Arbeitslosigkeit betroffen waren. Wie sehr nicht nur die Profitabilität des Kapitalismus, sondern auch die Bewältigung gesellschaftlicher Krisen von der bezahlten und unbezahlten, stets abgewerteten und vergeschlechtlichten Sorgearbeit abhängt, zeigt sich in der Pandemie abermals. Das belegt die sich im Lohn kaum niederschlagende Anerkennung für die größtenteils von Frauen geleistete Arbeit im Gesundheits- und Pflegebereich, ganz zu schweigen von der wie selbstverständlich durch Schließungen von Kitas und Schulen in die Haushalte verlegten und auch hier größtenteils von Frauen übernommenen Sorge- und Erziehungsarbeit. In all dem zeigt sich die Aktualität einer patriarchal abgesicherten, in kapitalistischen Gesellschaften lang erprobten Krisenbewältigungsstrategie auf Kosten von Frauen (und Kindern)…“ Beitrag von Irene Lena Poczka bei jungle world 2020/21 vom 20. Mai 2020 externer Link
  • Paradoxes Politikum: Warum die System-Relevanz von Care-Arbeit nicht länger zu verschleiern ist
    „Angela Merkel hat sich in ihrer großen TV-Ansprache am 18. März bei all jenen bedankt, die “den Laden am Laufen halten”. Der “Laden” ist bei dieser inzwischen zum geflügelten Wort gewordenen Wendung nichts weniger als die Nation, die Wirtschaft, das System. Wie nun im größeren Maßstab deutlich geworden ist, spielt hier Care-Arbeit eine besonders große Rolle.“ Die Wissenschaftlerin, Aktivistin und Kuratorin Christine Braunersreuther ergründet im Interview der Redaktion der Berliner Gazette vom 13. April 2020 externer Link, „warum es erst jetzt zu dieser Einsicht kommt und welche politischen Folgen sie haben könnte. (…) Die 24-Stunden-Betreuer*innen, über und für die ich sprechen kann, kommen sowohl in Deutschland als auch in Österreich großenteils aus Osteuropa bzw. Südosteuropa. Ihre genauen Herkunftsorte sind regional unterschiedlich. Einerseits hängt es davon ab, welche Länder grenznah erreichbar sind. So kommen in Berlin die meisten Betreuer*innen aus Polen, in Wien aus der Slowakei (übrigens auch viele medizinische Pfleger*innen in den Kliniken), in der Steiermark gibt es Betreuer*innen aus Slowenien. Frauen aus Bulgarien und Rumänien sind dagegen überall vertreten, aber sie kommen aus verschiedenen Orten. (…) Kein Wunder, dass diese Form der transnationalen Auslagerung von Care-Arbeit wissenschaftlich als Neokolonialismus bezeichnet wird. Umgangssprachlich wird oft auch von „neuer Sklaverei“ gesprochen. Diese Bezeichnung finde ich jedoch unangemessen, da sie die rassistischen Gräueltaten der Sklaverei euphemistisch ausblendet. Doch was den Systemen ähnlich ist, ist dass sie die Menschen hinter der Dienstleistung vergisst. Wenn in Zusammenhang mit Care-Arbeit von Vulnerabilität gesprochen wird, dann ist damit meist nur die Verletzlichkeit der Betreuten gemeint. Von den Betreuer*innen will man nur, dass sie ein großes Herz und viel Geduld haben – über ihre Verletzlichkeit macht man sich aber keine Gedanken. Das liegt nicht allein im Balkanismus begründet. Sondern auch maßgeblich im Wesen der Care-Arbeit: als unsichtbare Arbeit bezeichnet, wird sie von „guten Geistern“ verrichtet. (…) [N]atürlich wäre ein Streik gangbar! Care-Arbeit ist allerdings schwieriger zu bestreiken, weil es dafür eine größere Solidarisierung braucht. (…) Darüber hinaus wichtig wäre aber auch Solidarität durch die Betreuten bzw. deren Familien. Wäre die stark, wäre durchaus ein Streik möglich. Das haben etwa die Streiks von Kindergartenpädagog*innen gezeigt, die von Eltern unterstützt wurden. Schließlich wäre es doch im Interesse Aller, wenn die Betreuer*innen hochmotiviert und ökonomisch gut versorgt wären. (…) Ein anderer Punkt ist, dass Care-Arbeiter*innen Streiks oft nicht zugetraut werden. Das liegt nicht zuletzt an der schlechten Bewertung ihrer Arbeit. Ein (monetärer) Wert wird ausschließlich der Produktionsarbeit zugeschrieben, während die Care- und Reproduktionsarbeit unter ökonomischen Gesichtspunkten nie wirklich Beachtung fand. Langsam aber endlich bewegt sich hier etwas in der Kritik. Es ist zu hoffen, dass die es aus der Blase der feministischen Ökonominnen hinaus schafft und dann auch politisch Beachtung findet. Denn den Betreuer*innen selbst ist der Wert ihrer Arbeit sehr wohl bewusst. (…) Ich hoffe, dass durch die Betreuungskrise während der Corona-Pandämie zumindest ein wenig mehr Bewusstsein dafür aufgekommen ist, dass es diese Betreuungskräfte gibt, und zwar sehr viele davon, und dass sie zu eigentlich unwürdigen Bedingungen arbeiten, und dass endlich politisch positive Maßnahmen zur Verbesserung der Betreuungssituation unternommen werden.“
  • [Aufruf] Wann, wenn nicht jetzt! 20 bundesweit tätige Organisationen und Verbände stellen Forderungen an Bundesregierung und Arbeitgeber 
    Corona hat das Leben in Deutschland und in der Welt grundlegend verändert. Deutlich wird, dass die wirtschaftlichen und sozialen Kosten Frauen wesentlich stärker treffen. Die Pandemie vergrößert alle gleichstellungs- und frauenpolitischen Probleme/Schieflagen, auf die wir bereits seit Jahrzehnten hinweisen. Angesichts der existenziellen Krise wird deutlich, wie lebensbedrohlich sich die über Jahre privatisierte und eingesparte öffentliche soziale Infrastruktur und die falschen Arbeitsbewertungen jetzt auf unseren Lebensalltag auswirken. Wann, wenn nicht jetzt werden unsere frauen-und gleichstellungspolitischen Forderungen anerkannt und umgesetzt. Wir erwarten von Politik, Arbeitgeber*innen und allen Verantwortungsträger*innen ein ebenso mutiges, sachbezogenes und schnelles  Handeln wie jetzt in der Zeit von Corona. Deshalb fordern wir u.a.: finanzielle Aufwertung und bessere Arbeitsbedingungen in der Pflege, im Gesundheitswesen, der Erziehung und im Einzelhandel; Abschaffung der Sonderregelungen für Minijobs; Rahmenbedingungen und Arbeitszeiten, die es Eltern ermöglichen, sich die Care-Arbeit gereicht zu teilen; eine bedarfsgerechte und flächendeckende Versorgung mit Beratungsstellen und Gewaltschutzeinrichtungen…“ Pressemitteilung der Bundesarbeitsgemeinschaft Kommunaler Frauenbüros und Gleichstellungsstellen externer Link zum Aufruf externer Link
  • [ver.di: virtuelle Townhall am 12. Mai 20] Schluss mit Ausreden: Applaus reicht nicht- jetzt handeln! 
    Beschäftigte des Gesundheits- und Sozialwesens treffen in einer virtuellen Townhall am 12. Mai auf Politik und Arbeitgeber – und lassen keine Ausreden mehr gelten. Anmelden und mitmachen. Zu wenig Personal im Gesundheitswesen, zu schlechte Bezahlung in der Altenpflege, arbeiten bis zum Umfallen. Seit Jahren prangern wir die Missstände an. Und nicht erst seit der Corona-Krise kennen wir das Spiel. Es gibt ein Problem und alle schieben sich die Verantwortung zu: Die Politik sagt, die Arbeitgeber*innen seien schuld. Die Arbeitgeber*innen sagen, die Politik sei schuld. Und am Ende ändert sich für die Beschäftigten wenig. Am Tag der Pflegenden soll Schluss sein mit den Ausreden. Wir bringen Politik und Arbeitgeber an einen Tisch mit den Beschäftigten, damit sich niemand aus der Verantwortung schleichen kann. Wie läuft das ab? ver.di richtet ein virtuelles Townhall Meeting aus. 12. Mai, 18:30 – 20:00 Uhr. In einer Videokonferenz konfrontieren Branka Ivanisevic, Altenpflegerin; Dana Lützkendorf, Fachkraft für Intensivpflege; Kerrin Deisler, medizinisch-technische Assistentin die Verantwortlichen mit ihren Erfahrungen und Erwartungen. ver.di lädt alle Beschäftigten aus dem Gesundheitswesen ein teilzunehmen. Seid dabei, bringt euch ein und zeigt, dass hinter den Sprecherinnen und Forderungen Hunderte stehen…“ Infos und Anmeldung bei ver.di Gesundheit & Soziales externer Link zu #townhall1205.

    • Siehe nun den Bericht bei ver.di, Fachbereich Gesundheit, Soziale Dienste, Wohlfahrt und Kirchen externer Link: #townhall1205: Beschäftigte reden Tacheles
      Kolleginnen senden bei Internetdebatte am Tag der Pflegenden eine klare Botschaft an die Vertreter der Arbeitgeber und der Bundesregierung: Applaus reicht nicht – jetzt handeln! Klare Worte, eindeutige Botschaften: Die Kolleginnen, die am Tag der Pflegenden (12. Mai 2020) beim ver.di-»Townhall-Meeting« stellvertretend für tausende Beschäftigte aus dem Gesundheitswesen sprachen, nahmen kein Blatt vor den Mund. Sie konfrontierten die anwesenden Regierungs- und Arbeitgebervertreter mit ungeschminkten Berichten über die Zustände in Kliniken, Pflegeheimen und anderen Einrichtungen. Und sie artikulierten deutlich ihre Forderungen: mehr Personal, eine flächendeckend gute Bezahlung und den Schutz ihrer Gesundheit…“
  • ver.di will Tarifverträge zur Aufwertung systemrelevanter Berufe – Staat soll bei geretteten Unternehmen aktiv beteiligt sein
    Die Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft (ver.di) will nach dem Höhepunkt der Pandemie bessere Arbeitsbedingungen und eine bessere Bezahlung besonders in den systemrelevanten Berufen „notfalls auch mit Streiks“ durchsetzen. „Wir werden Tarifvertrag für Tarifvertrag aufrufen und alle die beim Wort nehmen, die zurzeit täglich eine größere gesellschaftliche Anerkennung für diese Berufe fordern, in denen besonders viele Frauen arbeiten. Extrazahlungen sind gut, nachhaltige Tarifverträge besser“, erklärte der ver.di-Vorsitzende Frank Werneke zum „Tag der Arbeit“. Gleichzeitig sei es eine „gesellschaftliche Aufgabe, für den Erhalt jedes Arbeitsplatzes zu kämpfen, der gefährdet ist, ob in der Tourismusbranche, im Luftverkehr, in Kultureinrichtungen oder im Handel.“ Die gesetzliche Erhöhung des Kurzarbeitergeldes wertete Werneke als Erfolg der Gewerkschaften: „Zur Wahrheit gehört aber auch, dass die Erhöhung erst ab dem vierten Monat für viele Beschäftigte in Dienstleistungsbranchen mit niedrigen Einkommen und einem hohen Anteil an Teilzeitarbeit viel zu spät kommt.“ Kritik übte der ver.di-Vorsitzende an Unternehmen, die staatliche Gelder für ihren Erhalt bekommen und gleichzeitig versuchen, Arbeitsplätze zu vernichten. „Wir müssen verhindern, dass mithilfe von Steuergeldern Personalabbau finanziert wird oder Dividenden an Aktionäre und Boni an Führungskräfte gezahlt werden“, sagte Werneke. Deshalb sei es wichtig, dass „der Staat an Unternehmen, die mit Steuergeldern gerettet werden, aktiv beteiligt ist und so verantwortlich dafür bleibt, was mit dem Steuergeld passiert“…“ ver.di-Pressemitteilung zum 01.05.2020 externer Link, siehe auch:

    • Wir bleiben hier… Beschäftigte aus dem Gesundheits- und Sozialwesen machen mit einer Foto-Aktion im Berliner Regierungsviertel ihre Forderungen nach Gesundheitsschutz, Aufwertung und Entlastung sichtbar
      Beschäftigte aus dem Gesundheits- und Sozialwesen haben mit einer besonderen Aktion auf ihre Forderungen nach mehr Gesundheitsschutz, Aufwertung und Entlastung hingewiesen. In den vergangenen beiden Nächten projizierten ver.di-Aktivisten Fotos auf Fassaden des Bundesgesundheitsministeriums, des Bundestags und weiterer zentraler Orte in Berlin. Auf den projizierten Fotos sind Beschäftigte aus Krankenhäusern und Pflegeheimen, der Sozialen Arbeit, der Behindertenhilfe und vielen anderen Bereichen zu sehen, die ihre Anliegen auf Plakaten sichtbar machen. Sie stehen stellvertretend für viele hundert Beschäftigte, die sich an einer bundesweiten Foto-Aktion von ver.di beteiligt haben. Sie fordern unter anderem mehr Personal und Entlastung, ausreichende Schutzausrüstung und besondere Zulagen in Zeiten der Corona-Pandemie…“ Pressemitteilung vom 30.04.2020 bei ver.di Gesundheit & Soziales externer Link mit Fotos/Videos
  • Gerade in systemrelevanten Berufen sind die Monatseinkommen deutlich unterm Durchschnitt
    „… In den aufgrund der Corona-Pandemie im Fokus stehenden systemrelevanten Wirtschaftsbereichen erzielten vollzeitbeschäftigte Fachkräfte 2019 im Durchschnitt folgende Bruttomonatsverdienste: – in Krankenhäusern (zum Beispiel in der Gesundheits- und Krankenpflege) 3.281 Euro, – in Altenheimen 2.702 Euro und – im Lebensmitteleinzelhandel 1.840 Euro. Der Durchschnittsverdienst aller Fachkräfte im Produzierenden Gewerbe und Dienstleistungsbereich betrug zum Vergleich 2.785 Euro brutto pro Monat. Der Anteil an Teilzeitarbeit war im Gesundheits- und Sozialwesen mit 57,9 Prozent sowie im Einzelhandel mit 53,6 Prozent am höchsten. Der Durchschnitt im Produzierenden Gewerbe und Dienstleistungsbereich lag dagegen bei 27,4 Prozent. Die erwähnten systemrelevanten Fachkräfte identifizieren die Statistiker mit der „Leistungsgruppe 3“: Arbeitnehmer/-innen mit schwierigen Fachtätigkeiten, für deren Ausübung in der Regel eine abgeschlossene Berufsausbildung, zum Teil verbunden mit Berufserfahrung, erforderlich ist. Und der Blick auf deren Einkommen zeigt: Egal, wo sie tätig sind – sie verdienen im Schnitt deutlich weniger als die sonstigen Beschäftigten im selben Wirtschaftsbereich. Besonders deutlich wird das in Krankenhäusern, wo Pflegekräfte deutlich weniger verdienen als das ärztliche Personal. Andererseits sind hier die Einkommen wieder deutlich höher als im Bereich „Herstellung von Nahrungs- und Futtermitteln“ oder im Lebensmitteleinzelhandel. Und gerade die beiden letzten Wirtschaftsbereiche zeigen ja, dass sie auch in Epidemien weiterhin systemrelevant sind. Es fließt in Deutschland also viel zu wenig Geld in die wirklich wichtige Nahrungsmittelversorgung. Hier zeigt die Billigpreispolitik der großen Einzelhandelskonzerne fatale Folgen, die sich in ihrer Schärfe auch nach Corona zeigen werden, denn gerade die Bauern haben bei diesem Preisdruck längst massive Existenzprobleme. Und der Blick auf die Krankenhäuser zeigt nur die halbe Wahrheit, denn dort sind eher nicht die Einkommen das Problem, sondern die auf Kante gesparten Arbeitsbedingungen mit überlangen Schichten, viel zu geringem Personaleinsatz und entsprechender Überlastung für Ärzt/-innen und Pflegekräfte. Mit Lohnerhöhungen kann man sich hier nicht freikaufen. Die Arbeitsbedingungen für die Beschäftigten müssen sich deutlich verbessern…“ Beitrag von Ralf Julke vom 3. Mai 2020 bei der Leipziger Internetzeitung externer Link
  • Die zentrale Rolle von Frauen im Kampf gegen die Corona-Krise 
    „Die COVID-19-Pandemie hat schwerwiegende Konsequenzen für unsere Gesundheit, unsere wirtschaftliche Zukunft und unser soziales Gefüge. Dabei sind Frauen in verschiedener Hinsicht besonders betroffen. Sie stellen einen Großteil der Beschäftigten im Gesundheitswesen und anderen systemrelevanten Berufen, etwa in der Kindernotbetreuung und der Lebensmittelversorgung. Damit setzen sie sich einem erhöhten Infektionsrisiko aus. Trotzdem sind sie in diesen Berufen unterdurchschnittlich bezahlt und genießen oft ein geringes Ansehen. Gleichzeitig tragen Frauen einen Großteil der Last zu Hause, wenn Schulen und Kinderbetreuungseinrichtungen geschlossen werden, denn es gibt bei der unbezahlten Arbeit seit langem geschlechtsspezifische Ungleichheiten. Zudem tragen Frauen ein höheres Risiko von Arbeits- und Einkommensverlusten und sehen sich in Krisen- und Quarantänezeiten eher Gewalt, Ausbeutung, Missbrauch oder Belästigung ausgesetzt. Die OECD-Kurzstudie „Women at the Core of the Fight against COVID-19 Crisis” untersucht genau diese Rollen, die Frauen in der Krise ausfüllen, und die Gefahren, denen sie ausgesetzt sind. In einem Webinar in Zusammenarbeit mit dem DIW haben wir die Studie am 9. April 2020 einem deutschsprachigen Publikum vorgestellt…“ Veröffentlichung des Webinars vom und beim OECD Berlin Centre Blog am 9. April 2020 externer Link mit der Power Point Präsentation von Monika Queisser, mit Daten zu Geschlechterdifferenzen im OECD-Vergleich und Handlungsempfehlungen für die Politik sowie der Power Point Präsentation von Josefine Koebe, wissenschaftliche Mitarbeiterin am DIW Berlin, mit Fokus auf die Situation in Deutschland
  • Noch mehr schuften. Schlecht bezahlte Dienstleister bekommen während der Corona-Krise Applaus vom Balkon, während ihre Jobs noch härter werden
    Die Spaltung der Arbeitswelt in Arbeiter und Angestellte hat man lange nicht so deutlich gesehen wie in diesen Tagen. Das Coronavirus sortiert die Beschäftigten: Während die einen stundenlang in Videokonferenzen hängen, fahren die anderen Tag für Tag an ihre Arbeitsstätten. Es sind vor allem Angehörige schlecht bezahlter Dienstleistungsberufe, die jetzt die soziale Infrastruktur am Laufen halten und zu Helden verklärt werden, während ihnen die Privilegierteren allabendlich vom Balkon vorm Homeoffice aus kollektiven Applaus spendieren. Viele unserer neu entdeckten Helden arbeiten zu so niedrigen Löhnen, dass sie sich schlicht kein Auto leisten können. Sie sind auf den öffentlichen Nahverkehr angewiesen – staatliches Abstandsgebot hin oder her. Man darf in Berlin zwar nicht allein mit einem Buch auf der Parkbank sitzen, mit einem Dutzend niesender Mit-Passagiere im U-Bahn-Abteil aber schon. Da der Takt von Bussen und Bahnen ausgedünnt wurde, sind sie trotz gesunkener Fahrgastzahlen im Berufsverkehr oft überfüllt. Wie sieht es erst am Arbeitsplatz aus? In den Logistikzentren der großen Supermarktriesen ist von Krise keine Spur: „Bei uns werden gerade massiv zusätzliche Leiharbeiter eingestellt“, sagt ein gewerkschaftlicher Vertrauensmann aus einem Lidl-Zentrallager bei Augsburg. Von hier werden über 90 Discounter in der Region beliefert. Hart ist die Arbeit ohnehin, doch das ist nichts im Vergleich zur aktuellen Lage. Fühlt er sich geschützt? „Na ja.“ Es gibt Aushänge mit der Aufforderung, zwei Meter Abstand zu halten. Doch im Alltag ist das praktisch unmöglich, wenn auf einmal Dutzende Leute mehr im Betrieb sind. Ein ähnliches Bild zeigt sich bei Amazon im nordrhein-westfälischen Rheinberg. Dort laufen so viele Pakete über die Packtische wie selten. (…) Auch bei der Warenlieferung steigt das gesundheitliche Risiko. Der Arbeitstag eines LKW-Fahrers dauert schon in normalen Zeiten oft mehr als 13 Stunden. Im Zuge der Corona-Krise wurde das Sonntagsfahrverbot aufgehoben, Vorschriften zu Lenk- und Ruhezeiten sollen gelockert werden…“ Artikel von Jörn Boewe und Johannes Schulten vom 6.04.2020 bei Der Freitag online externer Link
  • [In der Schweiz ist es nicht anders] „Während ihr klatscht – denke ich an…“
    „Während ihr klatscht, bin ich vor allem verwirrt. Während ihr klatscht, denke ich, falls es Menschen gibt, die erst jetzt merken, was wertvoll ist, dann ist die aktuelle Krise ihr kleinstes Problem.“ (…) Während ihr klatscht, ist ein Teil von mir auch ergriffen und bewegt, weil es vor allem die Pflegefachfrauen sind, die ich schon seit jeher bewundere für das, was sie tun. Weil ich weiss, wie es hinter den Kulissen aussieht. Ich denke wieder an meine Mutter, die in den 90ern, als meine Tante, meine Grossmutter, mein Stiefvater und ich in einer Eineinhalbzimmerwohnung lebten, für uns alle sorgte, weil sie die Einzige war, die arbeiten durfte. Dass ich es bis heute unfassbar finde. Ich denke an ihre Morgen-, Spät- und Nachtschichten und daran, wie sie mir eben damals, als ich mich dann für eine Ausbildung entscheiden sollte, sagte, ich solle auch ins Gesundheitswesen. Kranke und Tote wird es immer geben – hatte sie gesagt. Das ist wohl dieses „systemrelevant“ von dem wir heute so viel lesen. Ich denke, für sie war es klar, dass man einer Arbeit nachgehen soll, die man ausüben kann, sobald eine Krise kommt. Denn Krisen wurden für Menschen wie sie eine Selbstverständlichkeit. Und während ihr klatscht, werde ich auch sauer, weil ich weiss, wie seit jeher gespart, zusammengestrichen und ausgeblendet wird, wenn es um das Gesundheitswesen geht. Ich denke auch daran, dass es vor allem die Frauen sind, die diese Berufe machen und dass sie schon so viel länger Heldinnen sind und nicht erst seit Covid-19. Wie unsichtbar sie sonst sind. Sie sind meiner Mutter nicht unähnlich. Ich denke daran, welche rassistischen Aussagen ich von Patienten aufschnappte in der Cafeteria oder in den Wartezimmern, weil das Deutsch von einer Pflegenden nicht gut genug oder weil ihr Deutsch zu Hochdeutsch ist. Und dabei denke ich, dass es so manche Krankenpflegerin gibt, die trotz Sprachmangel in Kompetenz, Fachwissen und Fähigkeit so manchen Arzt übertrumpft. (…) Ich denke aber auch daran, was ich an diesem Betrieb nicht mag. Ich habe selten so viel Konservatismus erlebt wie in gewissen Spitälern. Wer sie leitet und wie sie geleitet werden, wo die Entscheidungen gefällt werden, den Sexismus und die unfassbar steilen Hierarchien. Ich denke über Sonderrechte nach und Verhaltensarten. Ich denke, ich weiss auch, warum ich es manchmal fast nicht aushielt, warum ich ausbrechen wollte. Ich denke auch an die Ärzt*innen, die schon davor Leben gerettet haben. Ich denke aber auch an einige Ärzte, die ganz viel zum Unwohlsein in diesem System beitragen. An die Arroganz; an die, welche mich unnötigerweise über Tippfehler belehrten, obwohl ich am Literaturinstitut studiert habe; an den Arzt, der mich von hinten mit einem Kugelschreiber pikste, weil ich nicht sofort auf seine Frage reagierte; an den einen, der mir, als ein Stück Fisch am Mittagstisch auf mein Bein fiel, sagte: Fisch zu Fisch; an den Urologen, der die Harnröhrenabstriche bei schwulen Männern absichtlich tiefer, länger und somit schmerzhafter gestaltete, damit sie „ENDLICH LERNEN EIN KONDOM ZU BENUTZEN“; an das Gefühl, dass sich einstellt, wenn dich jemand durch deine Position und deinen Nachnamen schlichtweg als dumm liest…“ Kolumne von Ivona Brdjanovic vom 05.04.2020 im schweizerischen Blog „das Lamm“ externer Link – es geht zwar um die Schweit, aber kaum anders, siehe daher dazu auch das Dossier: Auch in Deutschland stehen dem Corona-Virus (politisch gewollt) knappe Ressourcen des Gesundheitswesens gegenüber
  • [Transparent-Kampagne] „Applaus ist nicht genug! Gerechte Löhne für Pfleger*innen, Verkäufer*innen…“ 
    AKU Wiesbaden: [Transparent-Kampagne] „Applaus ist nicht genug! Gerechte Löhne für Pfleger*innen, Verkäufer*innen…“Seit Wochen bestimmt der Corona-Virus und seine Auswirkungen auf unsere Gesellschaften fast alle Nachrichten. Und in diesen Wochen hat sich einiges verändert. Die Grenzen sind für Menschen dicht, Waren kommen durch. In Spanien und Italien sterben inzwischen täglich hunderte am Virus Erkrankte. In Griechenland sind zehntausende Geflüchtete in Lagern unter unmenschlichen Bedingungen eingepfercht. Die europäische Solidarität, sprich Krankenhauskapazitäten, die Aufnahme von Geflüchteten, oder sonstige Hilfe, ist minimal bis nicht vorhanden. Inspiriert aus Italien und Spanien wird in den Massenmedien und über private Kanäle mobilisiert, jeden Abend um 21 Uhr auf die Balkone und an die Fenster zu treten, und kollektiv, den in der Pflege eingesetzten Menschen, für ihre wichtige und aufopferungsvolle Arbeit in diesen düsteren Zeiten zu applaudieren. Eine schöne Geste. Und wie immer in Krisenzeiten – und nicht nur dann – ist es so, dass es die Frauen sind, die den Laden am Laufen halten und die dann auch mal richtig doll gelobt werden. Die gleichzeitig seit Wochen von Wirtschaftsverbänden geforderten Milliardenzahlungen und Zuschüsse für die vom Virus bedrohten Konzerne und Betriebe sind inzwischen verabschiedet. Allein in Deutschland werden 156 Milliarden Euro locker gemacht. Was nun plötzlich geht nachdem wir mindestens ein Jahrzehnt auf jede Forderung von unten das Dogma der schwarzen Null als Antwort bekamen. Nach dreißig Jahren Klassenkampf von oben ist das für (fast) alle auch scheinbar selbstverständlich. Kein Wort dagegen ist zu hören, endlich die Löhne der Pfleger*innen, Verkäufer*innen, Betreuer*innen u.a. zu erhöhen. Ihnen soll dafür jetzt kollektiv applaudiert werden, oder besser gesagt, die in den dicht bewohnten  Stadtvierteln lebenden Niedriglohngruppen, beklatschen sich selbst, wenn sie dafür nach Sonderschichten nicht zu müde sind. (…) Deshalb, Applaus ist gut, ist Balsam für die Seele, macht aber weder satt noch bezahlt er die Miete. Applaudieren wir also all den Frauen und Männern, die täglich ihre Kräfte aufopfern, sogar ihr Leben riskieren, damit die Gesundheitsversorgung, die Lebensmittelversorgung, die Fürsorge von Pflege- und Betreuungsbedürftigen aufrechterhalten wird. Doch lassen wir es nicht dabei bewenden: Sorgen wir dafür, dass Frauen – und nicht nur sie – endlich einen gerechten Lohn erhalten. Machen wir mit Transparenten und Fahnen auf jedem Balkon, an jedem Fenster klar, dass wir eine sofortige Lohnerhöhung für alle in diesen Bereichen Arbeitenden fordern. Machen wir klar, dass Krankenhäuser nicht dazu da sind um Profit zu erwirtschaften, sondern das auch nach dem Ende der Corona-Krise die staatlichen Ausgaben für das Gesundheitssystem zumindest verdoppelt werden müssen. Mehr Ärzt*innen, mehr Pfleger*innen, mehr Betten, besseres Essen usw. Gleiches gilt für alle Bereiche der öffentlichen Daseinsfürsorge wie Wasser, Strom, Gas, Müll, öffentlicher Nahverkehr usw… Alle Gelder für jetzt Entlassene müssen unbürokratische Zuschüsse ohne Gegenleistung sein. (…) Aktionsideen: Transparente mit Forderungen aus den Fenstern. Transparente vor Krankenhäusern, Alten-, Pflege-, Obdachlosenheimen und Supermärkten aufhängen. Transparente fotografieren und über soziale und sonstige Medien verbreiten…“ Kampagne am 31.3.2020 von AKU Wiesbaden gestartet externer Link
  • Systemrelevante Berufe: Kostenloser Applaus reicht nicht!
    Krankenpfleger, Verkäuferinnen, LKW-Fahrer – sie alle halten in der aktuellen Corona-Krise den Laden am Laufen. Was erhalten sie dafür? Höchste gesundheitliche Risiken und Applaus. Was verdienen Sie? Viel zu wenig! Mit „Corona-Boni“ ist es nicht getan. Flächendeckende Tarifverträge mit einer höheren Bezahlung müssen her. Und das nicht erst seit Corona…“ Schlaglicht 13/2020 vom 02.04.2020 von und bei DGB Niedersachsen externer Link
  • Lohngerechtigkeit: Tausende Pflegekräfte und Verkäufer müssen aufstocken
    Viele Beschäftige, auf die es in der Corona-Krise besonders ankommt, müssen Sozialleistungen in Anspruch nehmen. Das geht aus der Antwort auf eine Schriftliche Frage der Linksfraktion hervor. Im Jahr 2018 mussten beispielsweise mehr als 50 000 Verkäuferinnen und Verkäufer Leistungen der Grundsicherung beantragen, obwohl sie sozialversicherungspflichtig beschäftigt waren. Zumindest können aber einige der Beschäftigten nun auf Prämien hoffen. (…) Zuletzt hatten mehrere große Ketten, darunter Rewe, Lidl, Kaufland, Aldi und Real, für ihre Beschäftigten einen Bonus ausgelobt, als Dank für die Arbeit in den Lagern, an den Regalen und Kassen. Wie es aussieht, soll dieser Bonus auch steuerfrei sein, ähnlich wie in Frankreich. Angesichts der erschwerten Bedingungen erhielten die Beschäftigten diesen Bonus zu Recht, twitterte Bundesfinanzminister Olaf Scholz (SPD) am Sonntag. „Ich werde am Montag die Anweisung erlassen, dass ein solcher Bonus bis 1500 Euro komplett steuerfrei sein wird.“ Der Linkspartei geht das nicht weit genug. Scholz‘ Vorschlag sei zwar richtig, sagt Bartsch. „Er löst aber nicht das Grundproblem viel zu niedriger Löhne.“ Stattdessen solle die Bundesregierung den Mindestlohn und entsprechende Branchenmindestlöhne anheben. „Die Stützen unseres Landes haben mehr Wertschätzung, vor allem auch mehr Geld verdient.““ Artikel von Michael Bauchmüller vom 30. März 2020 in der Süddeutschen Zeitung online externer Link
  • 500 Euro Prämie: ver.di fordert Anerkennung für die Heldinnen und Helden dieser Tage
    Die derzeitigen Arbeitsbelastungen sind für viele Beschäftigte in versorgungsrelevanten Bereichen enorm. Die Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft (ver.di) fordere die Arbeitgeber deswegen auf, in allen betroffenen Bereichen eine besondere Anerkennung von zusätzlich 500 Euro je Monat, in dem die Krise andauert, zu zahlen, sagte der ver.di-Vorsitzende Frank Werneke: „Unsere Forderung an die Politik lautet: Dieser Betrag soll steuerfrei sein“. „Die Beschäftigten im Gesundheitswesen, in Versorgung und Handel, bei der Bundesagentur für Arbeit – und das sind nur Beispiele –, halten dieses Land für uns alle am Laufen. Sie stehen unter extremen Belastungen und gefährden zum Teil in besonderer Weise ihre eigene Gesundheit. Die Arbeitgeber müssen sich dafür erkenntlich zeigen“, sagte Werneke. (…) Die Sonderzahlungen ersetzten jedoch keinesfalls vernünftige tarifliche Regelungen: „Für die Zukunft sind deshalb dauerhaft bessere tarifliche Entgelte und Regelungen erforderlich. Das wird ver.di aufrufen, wenn die derzeitige Pandemie überwunden ist“, sagte Werneke. „Aber bereits jetzt gilt es, Danke zu sagen“, betonte der ver.di-Vorsitzende. Deshalb werde die Forderung nach der Anerkennungsprämie von 500 Euro erhoben, die ab sofort und unbürokratisch durch die Arbeitgeber gezahlt werden solle, zumal etwa die Einzelhandelsunternehmen, die derzeit geöffnet seien, gegenwärtig Extra-Profite einfahren würden.“ Pressemitteilung vom 27.03.2020 externer Link
  • Systemrelevante Jobs in Coronakrise: Ihr beklatscht euch selbst
    Unser Autor findet das Klatschen für Pflegekräfte verlogen. Er ist selbst Pfleger und fordert: Kümmert euch lieber um die Alten und Vulnerablen. Punkt 18 Uhr stehen sie auf den Balkonen und klatschen und jubeln und freuen sich. Zu Ehren aller Systemrelevanten, unter anderem in der Pflege. Selbst der Bundestag ist aufgestanden und hat applaudiert. Auch zu meinen Ehren. Neulich schrieb eine Kollegin auf Twitter, das sei wie jeden Tag Muttertag, wenn es immerzu Blumen gäbe, aber den Haushalt müsse die Frau dann trotzdem allein schmeißen. Sie wollen nett sein, die Klatschenden, aber nett hat eine große Schwester. Ich arbeite in einer Wohngruppe mit Menschen mit sogenannter geistiger Behinderung. Mit Glückwünschen und warmen Worten kenne ich mich aus. Ich weiß auch, was diese Glückwünsche heißen: „Schön, dass du diese Arbeit machst, ich könnte das nicht. Zum Glück muss ich mich da nicht drum kümmern.“ In dem Lob versteckt sich immer eine satte Prise Abwehr: Ich werde gelobt, damit sich niemand mit den Bewohner*innen auseinandersetzen muss, also jenen Menschen, die im Falle der Triage externer Link dann als Erste dem Tod überlassen werden, weil die halt keinen jucken. Den Klatschenden möchte ich drei Dinge sagen, erstens: Hört auf, den Pflegenden die Wange zu tätscheln, und kümmert euch um die alten, kranken, vulnerablen Menschen. Ja, auch die, die Europa gerade in Moria verrecken lässt externer Link; ein besonderer Platz in der Hölle ist für jene reserviert, die abends angesichts dieser Katastrophe im Ernst die Europahymne von den Balkonen singen. Zweitens: Der Applaus schmeckt schal. Seit Jahrzehnten hat man unsere Forderungen, die der Pflegenden, ignoriert, weggedrückt, abgetan. (…) Und nein, da geht es (nicht nur) um mein Gehalt, das lässt sich nicht mit 500 netto pro Nase einfach zuschütten. Es geht darum, wie es in den Heimen, den Krankenhäusern, den Wohngruppen aussieht. Ich kann mich an keine Reform erinnern, deren Ankündigung ohne den Zusatz „Kostenneutralität“ auskam, obwohl allen klar ist, dass die Bedarfe steigen. Und kaum eine*n hat es gejuckt. (…) Und drittens: Nein, Pflegende sind keine Heiligen. Ich will auf keinen Sockel gehoben werden, bloß damit ihr euch besser fühlt. Unter den Pflegenden sind Arschlöcher, Ignoranten und – ja – auch Rassist*innen. Wer die Pflege jetzt in den Himmel hebt, verdeckt das…“ Kommentar von Frédéric Valin vom 26.3.2020 bei der taz online externer Link
  • Coronavirus: Systemrelevante Löhne fehlen noch – Der Bundestag kann sich trotz seltener Einigkeit nicht auf das Nächstliegende einigen
    „… Die Beschlüsse zur Bekämpfung der Corona-Krisenfolgen gehen an diesem Mittwoch in rasender Geschwindigkeit vonstatten. Erst recht gemessen an ihrer Tragweite. Die zeigt sich an der gewaltigen Summe, über die der Bundestag zu befinden hat. 1400 Milliarden Euro stelle der Bund an Zahlungen, Krediten, Gewährleistungen und Garantien bereit, lobte Alexander Dobrindt (CSU). Nicht alles Geld wird sofort fließen, aber es ist Geld, das verfügbar sein muss. (…) Wenn kostenloses Mittagessen für Kinder in der Schule oder Kita jetzt wegfällt, kann das für manche Eltern ein großes Problem bedeuten, weil sie die Kosten nun aus dem Familienbudget bestreiten müssen. Eine vorübergehende Erhöhung des Hartz-IV-Regelsatzes, die die Grünen wie auch die Linke vorgeschlagen hatten, ist in den Gesetzen nicht enthalten. Dennoch herrscht eine ungewohnte Friedfertigkeit im Hohen Haus. (…) Amira Mohamed Ali, Fraktionsvorsitzende der Linken, fügt in ihrer Rede an, dass ihre Partei die Schuldenbremse schon immer als unzulässige Beschränkung staatlicher Handlungsfähigkeit abgelehnt hat. Darüber hinaus hat sie Forderungen über die jetzigen Pläne hinaus. Es fehlten wichtige Regelungen, sagt sie. So gelte es den Menschen in den »systemrelevanten« Berufen, die jetzt unter großem Einsatz das Leben am Laufen halten, mehr als warme Dankesworte zu spenden. Vielmehr sollte es einen sofortigen Lohnzuschuss in Höhe von 500 Euro geben. Das Kurzarbeitergeld solle von 60 auf 90 Prozent des Lohns erhöht werden und eine Lohnfortzahlung für Eltern solle gelten, die von Kita- und Schulschließungen betroffen sind. Kleine Renten und der Hartz-IV-Regelsatz sollte nach dem Willen der Linken um 200 Euro pro Monat aufgestockt werden. Das Gesetz sieht nun lediglich vor, die Leistungen in einem »vereinfachten Verfahren schnell und unbürokratisch zugänglich« zu machen, »um die Betroffenen zeitnah unterstützen zu können«.“ Beitrag von Uwe Kalbe bei neues Deutschland vom 25. März 2020 externer Link zu Corona-Schutzschild des Bundesfinanzministeriums externer Link
  • Kassiererin, Krankenpfleger, Müllwerker So viel verdienen die Corona-Helden des Alltags
    Sie sind die Helden der Coronakrise: Kassiererinnen, Pflegekräfte, Müllwerker. Nun werden die Dienstleister des Alltags teils beklatscht – aber sonst schlecht bezahlt. Ein Gehaltscheck. (…) Finanzminister Olaf Scholz (SPD) kündigte an, eventuelle Sonderprämien für den Einsatz in der Coronakrise von der Steuer zu befreien – und erhält dafür die Unterstützung aus der Unionsfraktion. Rewe hat bereits Prämien für die Mitarbeiter angekündigt, 20 Millionen Euro sollen es insgesamt sein – angesichts des boomenden Geschäfts einer der wenigen Gewinnerbranchen des Coronaschocks kann sich die Einzelhandelskette das auch gut leisten. Auch Aldi Süd ließ verlauten, über Sonderzahlungen nachzudenken. (…) Noch erfreuter wären die so rasant zu „Heldinnen und Helden des Alltags“ geadelten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern aber, wenn sie auch auf Dauer besser bezahlt würden. So fordert es nun Arbeitsminister Heil: „Die haben nicht nur warme Worte, sondern langfristig auch bessere Löhne verdient“, sagte er den Funke-Zeitungen, denn „Leistungsträger sind nicht nur Krawattenträger, sondern auch diejenigen, die jetzt im Supermarkt an der Kasse sitzen, die in Krankenhäusern Zusatzschichten schieben oder weiterhin unseren Müll entsorgen“. Die würden nämlich mitunter sehr niedrig bezahlt – allerdings könne man höhere Löhne nicht staatlich verordnen. (…) Daten des Statistischen Bundesamts geben Aufschluss über die durchschnittlichen Brutto-Monatsgehälter von Vollzeit-Angestellten dieser Berufsgruppen im vergangenen Jahr. Sonderzahlungen wie Urlaubs- und Weihnachtsgeld sind bereits eingerechnet. Angegeben sind die Gehälter unterschiedlicher Qualifikationen: Fachkräfte – also jene mit formaler Berufsausbildung, Angelernte – also jene ohne Ausbildung, aber Berufserfahrung sowie Ungelernte – also jene ohne Ausbildung und einfachen Tätigkeiten. Zum Vergleich sind auch die durchschnittlichen Bruttoverdienste aller Arbeitnehmer in Deutschland angegeben. (…) Die Daten machen klar: Tatsächlich liegen die Löhne aller genannten Berufsgruppen unter dem deutschen Durchschnitt – mit einer Ausnahme: In Krankenhäusern verdienen Arbeitnehmer etwas besser. Besonders schlecht bezahlt werden die Angestellten im Einzelhandel: Hier verdient man selbst mit abgeschlossener Berufsausbildung mit 2841 Euro rund 750 Euro weniger als den deutschen Durchschnitt – liegt also rund 20 Prozent unter dem Normalniveau. Bei An- und Ungelernten ist die Differenz etwas geringer, aber immer noch immens...“ Artikel von Florian Diekmann vom 25.03.2020 beim Spiegel online externer Link, siehe eine noch bessere Darstellung in „Systemrelevant ja, gut bezahlt nein“ bei de.statista.com externer Link

Siehe auch zum Thema: [Wichtige Debatte, wenn auch erst durch Corona] Was ist notwendige Arbeit? Und wer entscheidet darüber? und das Dossier: Sonderprämie von 1500 Euro in der Pflegebranche: „Einmalprämie und dafür den Mund halten? Nicht mit uns!“

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=164592
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