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[Approbationsordnung] Ärzte sollen mehr über Missbrauch der Medizin im Nationalsozialismus wissen

Theodor W. Adorno: Die Forderung, dass Auschwitz nicht noch einmal sei, ist die allererste an Erziehung„Der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung, Felix Klein, will angehenden Ärzten in ihrer Ausbildung mehr Wissen über den Missbrauch der Medizin während des Nationalsozialismus vermitteln lassen. Dazu solle die Approbationsordnung geändert werden – derzeit gebe es eine Lücke in der medizinischen Ausbildung, sagte Klein. Zu viele Mediziner hätten unzureichende Kenntnisse über die Rolle der Medizin im Dritten Reich. Das betreffe gerade ethische Fragen. So fehle es zum Beispiel an Kenntnissen über die menschenverachtenden Versuche des KZ-Arztes Josef Mengele und anderer Mediziner. „Das waren glatte Verstöße gegen den hippokratischen Eid“, betonte Klein. Es sei wichtig, Mediziner von heute stärker auf diese ethischen Fragen zu bringen. Die ethischen Grundlagen des Medizinerberufs müssten prüfungsrelevant werden…“ Beitrag vom 14. Februar 2021 im Ärzteblatt online externer Link – siehe dazu eine kleine Aufarbeitung anhand des Deutschen Ärztetags:

Ja, wer war eigentlich Josef Mengele? Mengele, „der gut ausgebildete und talentierte“ Erste Arzt des KZ Auschwitz, „verkörpert den gefährlichsten Typ eines Verbrechers. Seine Gefährlichkeit wächst proportional zu der Macht, die er in den Händen hält. Millionen schickt er in den Tod, weil sie nach der deutschen Rassentheorie »Untermenschen« sind, minderwertige Geschöpfe, schädlich für die Menschheit wie Ungeziefer. Ebendieser Verbrecher sitzt stundenlang neben mir, zwischen Mikroskopen, Desinfektionsgeräten und Reagenzgläsern, er steht mit blutbeflecktem Kittel und blutigen Händen am Sektionstisch, um besessen zu untersuchen und zu forschen. Zur Vermehrung der germanischen Rasse beizutragen ist seine Absicht. Sein Ziel: Es müssen genügend Deutsche vorhanden sein, um die zur Entvölkerung bestimmten tschechischen, ungarisch, polnischen, holländischen und anderen Gebiete wieder zu besiedeln, die dann neue »Lebensräume« des Dritten Reiches sind…“ So beschrieb (S.43f), der 1901 in Somlyo geborene und 1930 in Breslau promovierte jüdische Gerichtsmediziner, Miklós Nyiszli, als Arzt und Häftling in Auschwitz u.a. seine Erfahrungen mit und seine Eindrücke von Mengele in seinem März 1946 für die alliierte Nürnberger Prozessbehörde verfassten Bericht (später für eine Veröffentlichung überarbeitet und heute in Deutsch unter dem Titel „Ich war Doktor Mengeles Assistent“ bei Oswiecim 2004 zum Preis 14,99 Euro (213 Seiten) erhältlich). Seine hervorragenden Kenntnisse als erfahrener Gerichtsmediziner rettet Nyiszli und schließlich auch seiner Frau das Leben; er wurde „Doktor Mengeles Assistent“. Nyiszli konnte so einen sehr detallierten und faktenreichsten Hintergrundsbericht über Mengele Verbrechen und zu den Details der industriellen Massenvernichtung in Auschwitz für die Nachwelt als erschütternde Warnung verfassen.

Leider erlebte Nyiszli selbst, der Mai 1956 nach schwerer Erkrankung an einem Herzinfarkt verstarb, weder die erhoffte Bestrafung Mengeles noch die Veröffentlichung seines Berichts. Mengele wurde nie bestraft. Er wurde zwar 1947 in Wien kurzfristig verhaftet, kam jedoch auf bis heute mysteriöser „Weisung von oben“ rasch wieder frei und konnte schließlich 1949 nach Südamerika fliehen, wo er – nach neuster Forschung – 1979 in Brasilien beim Baden ertrank. Was Nyiszlis Bericht betrifft, ist es seiner Tochter, Zsuzsana zu verdanken, dass zumindest zunächst eine Veröffentlichung im Ausland möglich war. Erst 1992 gelang Friedrich Herber mit Unterstützung von Nyiszlis Enkelin, Monica, eine Herausgabe in deutscher Sprache, wobei es sich bei der aktuellen Version bei Oswiecim jedoch um eine Übersetzung von Angelika Bihari aus dem Ungarischen handelt.

Aber Mengele war nicht der einzige Arzt, der sich der NS-Ideologie verschrieb und jeglicher Bestrafung entkam. Ein Großteil der deutschen Ärzteschaft war nach 1933 Mitglied in der NSDAP. Wie der 115. Deutsche Ärztetag 2012 in seiner Nürnberger Erklärung, „an dem Ort also, an dem vor 65 Jahren 20 Ärzte als führende Vertreter der „staatlichen medizinischen Dienste“ des nationalsozialistischen Staates wegen medizinischer Verbrechen gegen die Menschlichkeit angeklagt wurden“, feststellte, war „das Ausmaß der Menschenrechtsverletzungen noch größer (…), als im Prozess angenommen. Wir wissen heute deutlich mehr über Ziele und Praxis der vielfach tödlich endenden unfreiwilligen Menschenversuche mit vielen tausend Opfern und die Tötung von über 200.000 psychisch kranken und behinderten Menschen, ebenso über die Zwangssterilisation von über 360.000 als „erbkrank“ klassifizierten Menschen. Im Gegensatz zu noch immer weit verbreiteten Annahmen ging die Initiative gerade für diese gravierendsten Menschenrechtsverletzungen nicht von politischen Instanzen, sondern von den Ärzten selbst aus. Diese Verbrechen waren auch nicht die Taten einzelner Ärzte, sondern sie geschahen unter Mitbeteiligung führender Repräsentanten der verfassten Ärzteschaft sowie medizinischer Fachgesellschaften und ebenso unter maßgeblicher Beteiligung von herausragenden Vertretern der universitären Medizin sowie von renommierten biomedizinischen Forschungseinrichtungen. Diese Menschenrechtsverletzungen durch die NS-Medizin wirken bis heute nach und werfen Fragen auf, die das Selbstverständnis der Ärztinnen und Ärzte, ihr professionelles Handeln und die Medizinethik betreffen…“ Entschließung im Beschlussprotokoll Seite 12 von 369 des 115. Deutschen Ärztetags in Nürnberg vom 22. bis 25. Mai 2012 externer Link

In dem Appell an die Delegierten in Nürnberg erwähnen die Erstunterzeichner nicht nur die erzwungene, „in zahlreichen Fällen tödliche medizinische Forschung an vielen tausend Versuchspersonen“, sondern auch „die Entlassung und Vertreibung „jüdischer“ und „politisch unzuverlässiger“ Ärztinnen und Ärzte und die Ausbeutung von Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern in medizinischen Institutionen bis hin zu Universitätskliniken und konfessionellen Krankenhäusern. (…) Viele der beteiligten Ärzte waren auch in der Nachkriegsmedizin in hervorgehobenen Positionen tätig. Ebenso wurden stigmatisierende und entwertende Begriffe und Handlungsweisen gegenüber kranken und behinderten Menschen in erheblichem Umfang auch nach 1945 weiter angewendet. Eine systematische Reflexion auf die Voraussetzungen für solche Denk- und Handlungsweisen fand über Jahrzehnte nicht statt…“ Doch endlich beschlossen die Ärzte 2012 in Nürnberg: Wir erkennen die wesentliche Mitverantwortung von Ärzten an den Unrechtstaten der NS-Medizin an und betrachten das Geschehene als Mahnung für die Gegenwart und die Zukunft. Wir bekunden unser tiefstes Bedauern darüber, dass Ärzte sich entgegen ihrem Heilauftrag durch vielfache Menschenrechtsverletzungen schuldig gemacht haben, gedenken der noch lebenden und der bereits verstorbenen Opfer sowie ihrer Nachkommen und bitten sie um Verzeihung. Wir verpflichten uns als Deutscher Ärztetag darauf hinzuwirken, dass die weitere historische Forschung und Aufarbeitung von den Gremien der bundesrepublikanischen Ärzteschaft aktiv sowohl durch direkte finanzielle als auch durch institutionelle Unterstützung, wie etwa den unbeschränkten Zugang zu den Archiven, gefördert wird.“ Aus der Begründung zur Nürnberger Erklärung Mai 2012 externer Link

Aber es dauerte noch neun weitere Jahre, bis der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung, Felix Klein, für eine Änderung der ärztlichen Approbationsordnung initiativ wurde, um „mehr Wissen über den Missbrauch der Medizin während des Nationalsozialismus vermitteln [zu] lassen“ und der dafür appelliert, dass ethischen Grundlagen des Medizinerberufs prüfungsrelevant werden. „Klein ist über das Thema nach eigenen Angaben „in Gesprächen mit dem Bundesgesundheitsministerium“. Ein Ministeriumssprecher bestätigte dies, der Entwurf für die neue Approbationsordnung solle im Herbst vorliegen“, so das Ärzteblatt am 14. Februar 2021 externer Link. Miklós Nyiszli oben erwähnter Bericht über Mengeles tödliches Wirken im KZ Auschwitz sollte dann für alle angehenden Ärzte Pflichtlektüre werden.

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=186789
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