Von Konzertveranstaltern und Schweinezüchtern. Zur aktuellen Situation von Konzertveranstaltern, Kulturarbeitern, Clubs und Spielstätten in der Corona-Krise

Coronavirus, die Hetze und der Ausnahmezustand: China im ShitstormIn diesem Aufsatz wird die aktuelle Situation von Konzertveranstalter*innen, Kulturarbeiter*innen, Clubs und Spielstätten in der Corona-Krise untersucht. Er gliedert sich in vier Teile: I. Verschiedene Formen der Ungleichheit innerhalb der Konzert- und Kulturszene. II. Wann werden Tourneen wieder stattfinden können? Wie ist die Situation der Konzertveranstalter*innen, Agenturen und Kulturarbeiter*innen? III. Zur Analyse und Kritik der Kultur-Fördermaßnahmen unter besonderer Berücksichtigung der Maßnahmen der Bundesregierung. IV. Was tun? Plädoyer für einen Neustart Konzerte – Draußen / Drinnen. Die vier Kapitel nehmen aufeinander Bezug, können aber auch unabhängig voneinander gelesen werden…“ Artikel von Berthold Seliger vom 10. Oktober 2020 bei telepolis externer Link und nun Teil 2:

  • Wie wirklichkeitsfremd darf Kulturpolitik eigentlich noch sein? New
    “Im ersten Teil wurde die Ungleichheit innerhalb der Konzert- und Kulturszene und die Situation der Konzertveranstalter*innen, Agenturen und Kulturarbeiter*innen behandelt. Wann werden die Konzerte und Tourneen wieder stattfinden können, war die Frage und: Was machen die Clubbesitzer? Aber gibt es nicht das Hilfsprogramm „Neustart Kultur“ der Bundesregierung? Eine Milliarde Euro wurden dafür zur Verfügung gestellt, was sich nach viel Geld anhört, eine Zahl mit vielen Nullen fürwahr – es sind aber angesichts eines Konjunkturprogramms zur Bekämpfung der Corona-Krise in Höhe von 130 Mrd. Euro gerade einmal 0,77 Prozent für die Kultur. (…) Aus Regierungskreisen war zu hören, dass diese Entscheidung gegen die Solo-Selbständigen vor allem auf Finanzminister Scholz (SPD) und Wirtschaftsminister Altmaier (CDU) zurückgeht – da mutet es fast schon zynisch an, wenn Peter Altmaier von sich behauptet, er sei es, „der mit aller Kraft Millionen Selbständige, Mittelständler, Freiberufler und Handwerker unterstützt.“ Nun, „mit aller Kraft“ haben da höchstens einzelne Bundesländer die Selbständigen und Kulturschaffenden unterstützt, allen voran das Land Berlin mit seinem Kultursenator Klaus Lederer (Die Linke), das mit umfassenden Soforthilfen dort eingesprungen ist, wo es die Bundesregierung versäumt hat, die Selbständigen zu unterstützen. Es lohnt sich, die eine Milliarde „Nothilfe Kultur“ genauer zu betrachten: Für den Bereich Musik sind in Summe gerade einmal 170,3 Millionen Euro vorgesehen, soviel wie für Darstellende Kunst und weniger als für Film und Kino (185 Mio. Euro). Wenn man dann noch pandemiebedingte Hilfen in Höhe von 30 Mio. und 5 Mio. für Musikverlage abzieht, bleiben für Musiker*innen, Clubs, Venues und Konzertveranstalter*innen gerade einmal 135 Mio. Euro übrig. Zum Vergleich: 100 Millionen Euro sind für die „Förderung pandemiegestützter Mehrbedarfe bei vom Bund regelmäßig geförderten Kultureinrichtungen und -projekten“ vorgesehen, also für die Institutionen, die ohnedies jedes Jahr vom Bund üppig subventioniert werden. Da haben wir sie wieder, die Ungleichgewichtung der Förderung von Zeitkultur und musealer Kultur. Es geht aber noch weiter, es geht in die Tiefen der bundesdeutschen Kulturpolitik: Wenn man sich die zahlreichen Regeln und bürokratischen Auflagen betrachtet, die mit der Förderung durch das „Neustart Kultur“-Paket einhergehen, kommt man aus dem Kopfschütteln nicht mehr heraus. Allein schon der bürokratische Wirrwarr grenzt an Wahnsinn und legt die Vermutung nahe, dass die Politik gar nicht will, dass der Zeitkultur tatsächlich geholfen wird. Nehmen wir zum Beispiel das mit 80 Mio. Euro ausgestattete „Förderprogramm für Livemusikveranstaltungen und Festivals“.(…) Die bürokratischen Details, die völlig realitätsferne Ausgestaltung und der unglaubliche Arbeitsaufwand bei der Antragstellung sorgen dafür, dass die Überbrückungshilfen des Wirtschaftsministeriums ihre Funktion kaum erfüllen: Bis zum 21.September wurden von den bereitstehenden 25 Milliarden Euro gerade einmal rund eine Milliarde Euro beantragt, während zwei Millionen Kleinunternehmer, Freiberufler und Selbständige um ihre Existenz kämpfen: Das Fiasko des Herrn Altmaier – und völlig rätselhaft, warum die Bundesregierung mit derart inkompetenter Sturheit an einem völlig ungeeigneten Konzept festhält und bei der Überbrückungshilfe nicht endlich einen fiktiven Unternehmerlohn und Zuschüsse zum Lebensunterhalt berücksichtigt. (…) Was also tun? Zum Erhalt der unabhängigen Zeitkultur sind effektive Soforthilfen nötig: • Wirksame und umfassende Hilfen zur Existenzsicherung von Clubs, Venues und soziokulturellen Zentren – dazu gehört essentiell auch ein Gesetz, das diesen Gewerbemietern erlaubt, ihre Nettomieten und Pachten für die Dauer der Zwangsschließungen um mindestens 60 Prozent zu reduzieren! • Umfassende Hilfen für örtliche Konzertveranstalter und Tourneeveranstalter • Ein prinzipielles „Kultur-Existenzgeld“ – eine Art Arbeitslosenversicherung für selbständige Kulturschaffende und Kulturarbeiter*innen, also für die Hunderttausenden Solo-Selbständigen im Kulturbereich, die unverschuldet in Not geraten sind und um ihre Existenz kämpfen. Bei all diesen Maßnahmen sollte im Mittelpunkt stehen, die fragile Infrastruktur der Zeitkultur langfristig zu retten. Nur wenn die lebendige Szene aus Venues, Veranstalter*innen und Kulturarbeiter*innen erhalten bleibt, nur wenn also eine Art Humus der Zeitkultur gerettet werden kann, können Musiker*innen und Bands langfristig ihre Tätigkeit ausüben, Musik machen und die kulturelle Vielfalt der Gesellschaft sichern…“ Artikel von Berthold Seliger vom 12.10.2020 bei Telepolis externer Link
Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=179386
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