Selbstausbeutung bekämpfen: EuGH fordert Arbeitszeiterfassung von verbeamteten Lehrkräften und Hochschulbeschäftigten

Dossier

StechuhrDer Europäische Gerichtshof urteilte: Die Arbeitszeit auch von verbeamteten Lehrkräften und Hochschulbeschäftigten muss stundenweise erfasst werden. Sinkt damit die Arbeitsbelastung? E&W hat beim Fachanwalt Peter Hauck-Scholz nachgefragt. (…) In Hessen haben Lehrerinnen und Lehrer bereits vor Jahren versucht, mit Selbstaufzeichnung ihrer Arbeitszeit gegen Mehrarbeit vorzugehen. Was ist daraus geworden? [Hauck-Scholz:] Die Lehrkräfte in Hessen sind mit diesen Aufzeichnungen vor Gericht gezogen. Sie haben gesagt: Die geltende Arbeitszeitverordnung für Lehrkräfte in Hessen ist unwirksam. Wir arbeiten ja viel mehr. Das ist damals vor Gericht gescheitert. Die richterliche Entscheidung dazu ist lesenswert, weil es eine solche anmaßende Abfertigung der Lehrkräfte ist – von oben herab, das sucht seinesgleichen. Eine derartige Abfuhr ist nach dem Urteil des EuGH nicht mehr möglich…“ Interview von Matthias Holland-Letz mit Peter Hauck-Scholz vom 13.10.2020 bei der GEW externer Link und dazu:

  • Eine Bildungssenatorin auf Abwegen: Im Berliner Bildungsausschuss mutiert der Arbeitsschutz durch Erfassung der Lehrkräftearbeitszeit zum Wettbewerbsnachteil New
    Der Bildungsausschuss des Abgeordnetenhauses tagte zur Erfassung der Lehrkräftearbeitszeit und es wurde ein Kampf um den thematischen heißen Brei: ein Teil der Fraktionen wollten mitten in selbigen rein, ein anderer Teil wollte lieber drumherum und Bildungssenatorin Günther-Wünsch (CDU) stellte beinahe beiläufig dar, dass Arbeitszeitverstöße durch die Lehrkräfte und nicht gewährleisteter Gesundheitsschutz den Job attraktiver machen würden. (…)
    Diese beiden Aspekte (Zeiterfassung und Gesundheitsschutz) hängen insofern zusammen und sie waren auch der Grund, aus dem sich nun auch der Bildungsausschuss des Abgeordnetenhauses sechs Jahre nach dem EUGH-Urteil und drei Jahre nach dem Urteil des Bundesarbeitsgerichts auch mit der Zeiterfassung der Lehrkräfte auseinandersetzte. (…)
    Entgegen der Darstellung der Senatorin sind Entlastung und Arbeitszeiterfassung keine zwei „unterschiedliche Paar Schuhe“, sondern zwei Seiten der selben Medaille. Die Arbeitszeiterfassung einerseits und die Entlastung der Lehrkräfte um die Stunden, die über dem gesetzlich Zulässigen liegen andererseits, sind der Auftrag, der sich aus geltendem Recht und der Rechtsprechung von EUGH und Bundesarbeitsgericht ergibt. In einem späteren Redebeitrag stellte sie dar, dass die Arbeitszeiterfassung die Flexibilität der Lehrkräfte einschränken würde, ihren Arbeitstag selbst zu strukturieren. (…)
    Die Senatorin erklärt im Parlament die ihr und ihrer Verwaltung obliegende Pflicht zum Arbeitsschutz der Mitarbeitenden zur individuellen Entscheidung der Beschäftigten und verklärt die Entgrenzung von Arbeitszeit und Freizeit zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Sie erklärt, dass Verstöße gegen Ruhezeiten ein Qualitätsmerkmal des Lehrkräfteberufs seien und dass es scheinbar eine gute Sache ist, Abends um 22 Uhr und am Wochenende nochmal arbeiten zu können, nachdem man seit 5 Uhr Morgens Kinder und zu pflegende Eltern umsorgt und über den Tag vor der Klasse gestanden hat. Es handelt sich hierbei um die Auffassung der obersten Dienstherrin von rund 35.000 Lehrkräften, die für die Bildung von rund 400.000 Schülerinnen und Schülern zuständig sind. Eine Bildungssenatorin deutet im Parlament die ihr obliegende gesetzlich verankerte Fürsorgepflicht um und erklärt deren Verletzung zum Wettbewerbsvorteil.
    Als Vater wünsche ich mir Lehrkräfte, die ausgeruht vor ihre Klasse treten können und als Arbeitnehmer würde ich einen Vertrag auf dieser Grundlage nicht unterschreiben. Als Bürger bin ich sprachlos, wie „meine“ Landesregierung mit ihren Beschäftigten umgeht...“ umfangreicher Beitrag von Marco Fechner vom 18.12.2025 auf seinem Blog externer Link „Berliner Mischung“ samt Hintergründen und einem Video der besprochenen Sitzung („Fehlender Arbeitsschutz als Wettbewerbsvorteil. Eine Bildungssenatorin auf Abwegen.“)
  • Studie der Uni Göttingen belegt: Hamburger Lehrkräfte arbeiten regelmäßig über der Belastungsgrenze
    „… Im Durchschnitt überschreiten die befragten Lehrkräfte die jährliche Soll-Arbeitszeit von 1.770 Stunden um rund 75 Stunden. Besonders alarmierend: Ein Viertel der Vollzeitkräfte überschreitet während der Schulzeit die gesetzlich zulässige Höchstarbeitszeit von 48 Wochenstunden. Insgesamt haben 735 Lehrkräfte im zweiten Schulhalbjahr 2023/24 ihre Arbeitszeit dokumentiert. Die Ergebnisse zeichnen ein klares Bild: 63 Prozent der Lehrkräfte leisten Mehrarbeit, häufig in Form von Abend- und Wochenendarbeit, wiederkehrenden Spitzenbelastungen und ohne ausreichende Erholungszeiten. (…) „Die starre Lehrerarbeitszeitverordnung von 2003 bildet die tatsächliche Arbeitszeit längst nicht mehr ab. Zwei Stunden pro Woche fehlen systematisch, neue Aufgaben summieren sich inzwischen auf über zehn Stunden wöchentlich…“ Pressemitteilung vom 29. September 2025 der GEW Hamburg externer Link mit weiteren Infos und den Forderungen nicht nur nach zusätzlichen Vollzeitstellen
  • Berlin: Senat plant Pilotprojekt zur Arbeitszeiterfassung an Schulen – Gewerkschaft und Schulleitungsverbände zeigen sich unterschiedlich optimistisch
    „Pro Jahr leistet eine Lehrkraft in Berlin im Schnitt 100 Stunden Mehrarbeit. Das sind Überstunden, die sich das Jahr über anhäufen und nicht abgebaut werden können. Das ergab eine Studie der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) Berlin. Zu der Frage, wie Berlin die Überlastung von Lehrkräften in den Griff bekommen könnte, kann sich der Senat nun doch eine Pilotphase zur Erfassung der Arbeitszeit an Schulen vorstellen. Das Pilotprojekt hatte die GEW im Rahmen ihrer Studie empfohlen. Bisher hatte die Senatsbildungsverwaltung auf ein einheitliches Vorgehen der Bundesländer gepocht. Die Arbeitszeit und damit auch etwaige Überstunden von Lehrkräften werden derzeit an deutschen Schulen nicht erfasst. Das widerspricht einem Urteil des Bundesarbeitsgerichts (BAG) von 2022, wonach Arbeitgeber verpflichtet sind, ein System einzuführen, das die von den Arbeitnehmer*innen geleistete Arbeitszeit misst. Denn, so entschied das Bundesarbeitsgericht auf Grundlage eines Urteils des Europäischen Gerichtshofs: Die gesamte Arbeitszeit der Arbeitnehmer*innen in Deutschland ist aufzuzeichnen. (…) Eine vom ehemaligen Bundesarbeitsminister angekündigte Reform des Arbeitszeitgesetzes, welche dem richtungsweisenden Urteil des BAG Rechnung getragen hätte, sei nie über den Status eines Entwurfs hinausgekommen. Daher sei der Senat nun zu eigenen Schritten bereit. (…) Zur weiteren Konkretisierung will der Senat mit den Gewerkschaften und den Schulleitungsverbänden sprechen. Wie die GEW, der Interessenverband Berliner Schulleitungen (IBS) und die Vereinigung der Berliner integrativen Sekundarschulen, Schulleiterinnen und Schulleiter (BISSS) mitteilen, steht eine Kontaktaufnahme seitens des Senats allerdings noch aus.“ Artikel von Christian Lelek vom 4. Juli 2025 in Neues Deutschland online externer Link
  • Über 2 Millionen Stunden unbezahlte Mehrarbeit pro Jahr an den Berliner Schulen: GEW Berlin fordert Arbeitszeiterfassung für Lehrkräfte
    • GEW BERLIN fordert Arbeitszeiterfassung für Lehrkräfte.
      Laut einer neuen Studie arbeiten Berliner Lehrkräfte im empirischen Mittel rund 100 Stunden mehr pro Jahr als die Berliner Beamt*innen und Angestellte mit einer 40-Stunden-Woche
      Über 2 Millionen Stunden unbezahlte Mehrarbeit* pro Jahr an den Berliner Schulen. Die erstmals für Berlin wissenschaftlich erhobenen Daten basieren auf einer umfassenden Erhebung der tatsächlichen Arbeitszeit über ein gesamtes Schuljahr. Die Ergebnisse zeichnen ein drastisches Bild: Während der Schulwochen überschreiten durchschnittlich 30 Prozent der Vollzeit-Lehrkräfte die gesetzliche Arbeitsschutzgrenze von 48 Stunden pro Woche. Insgesamt leisten 64 Prozent der Lehrkräfte Mehrarbeit*. Besonders betroffen sind neben Schulleitungen und Gymnasiallehrkräften auch Teilzeitkräfte – je geringer der Teilzeitumfang, desto höher die Mehrarbeitsbelastung. „Dies deutet darauf hin, dass viele Lehrkräfte Teilzeit wählen, um die Aufgabenflut zu bewältigen und so faktisch ihren Arbeitsschutz selbst finanzieren.“, schlussfolgert Martina Regulin, Vorsitzende der GEW BERLIN. „Diese Überlastung ist keine Ausnahme, sondern Alltag – mit Elterngesprächen am Abend, Korrekturen in der Nacht und Unterrichtsvorbereitungen am Wochenende“, so Regulin weiter. „Der Senat spart auf Kosten der Lehrkräfte – das ist ein Skandal. Das Deputatsystem bildet die tatsächlich geleistete Arbeit nicht ab. Es regelt nur den Unterricht und Funktionen, also nur ein gutes Drittel der gesamten Tätigkeit, aber nicht die vielen Aufgaben, die unsere Kolleg*innen zusätzlich übernehmen müssen, um gute Bildungsqualität sicherzustellen. Wir fordern: Der Senat muss die tatsächliche Arbeitszeit vollständig erfassen und gemeinsam mit den Personalräten verbindliche Regelungen zum Abbau der Mehrarbeit* schaffen. Die chronische Überlastung muss gestoppt werden – für die Gesundheit der Lehrkräfte, für die Qualität der Bildung und um den Beruf wieder attraktiv zu machen“, betont Regulin. (…) Wir fordern zum Einstieg ein einjähriges Pilotprojekt zur digitalen Arbeitszeiterfassung, das unter Mitbestimmung der Personalräte durchgeführt wird. Die Erfahrungen und Ergebnisse der Studie müssen hierbei einbezogen werden. Nur so kann eine Grundlage für faire und realistische Arbeitszeitregelungen geschaffen werden.“ Die GEW BERLIN stellt klar: Überlastung ist messbar! Arbeitszeiterfassung ist der Hebel für gerechte, faire und gesunde Arbeitsbedingungen. Jetzt ist der Senat am Zug. *Mehrarbeit: Hierbei handelt es sich nicht um die Mehrarbeit nach § 9 der Berliner AZVO, die dienstlich angeordnet und auszugleichen bzw. zu vergüten ist, sondern um eine empirisch festgestellte Differenz von SOLL und IST und wird in Verbindung mit der Veröffentlichung der Studie umgangssprachlich in Abgrenzung zu „Überstunden“ und „Zuvielarbeit“ benutzt.“ GEW-Pressemitteilung vom 4. Juni 2025 externer Link mit Link zur gesamten 407-seitigen Studie ‚2025 Arbeitzeit-Arbeitsbelastung-Berlin
    • Arbeitszeiterfassung jetzt – für Schutz, Entlastung und faire Bedingungen
      „Der Arbeitgeber ist rechtlich verpflichtet, die tatsächliche Arbeitszeit zu erfassen – das haben der Europäische Gerichtshof (2019) und das Bundesarbeitsgericht (2022) klargestellt. – Arbeitsschutz gilt auch für Lehrkräfte. Berliner Lehrkräfte leisten pro Woche tausende unbezahlte nicht erfasste Mehrarbeit durch ausufernde Tätigkeiten und erhöhtes Arbeitsvolumen – Das ist nicht tragbar. Das ist Ausbeutung. Die Studie der Kooperationsstelle zeigt: – Arbeitszeiterfassung ist machbar. – Sie schafft greifbare Daten zur Entlastung. – Sie schützt vor ausufernden und strukturell steigenden Anforderungen. Jetzt braucht es politischen Willen – und Druck von uns. Unsere Forderung an den Senat: – Start eines zu Beginn einjährigen Pilotprojekts zur digitalen Arbeitszeiterfassung – mit Evaluation & Mitbestimmung durch die Personalräte. – Schluss mit Ignoranz: Der Arbeitgeber muss seine Fürsorgepflicht ernst nehmen und nachweisen, dass die Arbeit in der vorgegebenen Zeit zu schaffen ist – oder sie reduzieren. – Außerunterrichtliche Aufgaben und Unterrichtsverpflichtung müssen reduziert werden – auf Basis der realen Arbeitszeit. – Kleinere Klassen einführen und multiprofessionelle Teams als zusätzliche Stellen ausbauen. Unsere Botschaft: – Wir zeigen: Überlastung ist messbar – Wir fordern Arbeitszeiterfassung – sofort. – Schluss mit Aufgaben, die einfach „oben drauf“ kommen. – Schluss mit Arbeitsbedingungen, die krankmachen – Realitäten abbilden, Strukturen verbessern, Gesundheit schützen (…) – Bring einen Antrag in die Gesamtkonferenz ein, z. B.: „Die Schule fordert den Senat zur sofortigen Einführung eines Pilotprojekts zur digitalen Arbeitszeiterfassung auf.“ – Fordere, dass die Schulkonferenz das Thema behandelt – gemeinsam mit Eltern- und Schüler*innenvertretungen…“ Kampagnen-Seite der GEW Berlin vom Juni 2025 externer Link mit Links zu diverses Plakat- und Info-Material
    • Siehe auch das Dossier: Kleinere Klassen für weniger Belastung: GEW Berlin fordert einen Tarifvertrag (nicht nur) zum Gesundheitsschutz der Lehrkräfte
  • Arbeitszeiterfassung an Schulen: Jede Stunde zählt!
    Längst ist klar, dass alle Arbeitgeber verpflichtet sind, die Arbeitszeit zu erfassen, um die Beschäftigten vor gesundheitsgefährdenden Arbeitszeiten zu schützen – auch an Schulen. Doch die Länder spielen auf Zeit.
    Die neueste Meldung stammt aus Bremen: Dort kündigte die Bildungssenatorin Sascha Karolin Aulepp (SPD) Mitte Februar in einer Pressemitteilung an, das Land wolle – gemeinsam mit anderen Bundesländern – eine Pilotstudie zur Erfassung der Arbeitszeit von Lehrkräften durchführen, begleitet von der Telekom-Stiftung. Begründet wird das Projekt mit dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) zur Arbeitszeiterfassung. Erreicht werden soll die Umsetzung des Urteils laut Aulepp durch „moderne Arbeitszeitmodelle, die gerecht und flexibel sind“. Und da das Bundesarbeitsgericht (BAG) schon vor fast anderthalb Jahren klargestellt hat, dass das „wie“ einer Arbeitszeiterfassung mitbestimmungspflichtig ist, schiebt die Bremer Bildungssenatorin hinterher, sie sei bereits „mit den Interessenvertretungen im Gespräch“.
    Arbeitszeiterfassung funktioniert bei jedem Arbeitszeitmodell
    Die Ankündigung aus Bremen ist typisch für die Diskussion über Arbeitszeiterfassung bei Lehrkräften. Dabei werden zwei Fragen vermischt, die zunächst einmal unabhängig voneinander sind (…) Falls der Arbeitgeber die Arbeitszeit erfasst und er dabei feststellen sollte, dass die erfasste Arbeitszeit gesundheitsgefährdend ist, so müsste er für die Zukunft die Arbeit anders planen. Aber zunächst ist die Arbeitszeiterfassung, also das schlichte Messen von Stunden und Minuten („Anfang, Ende und Pausen“), mit jedem Arbeitszeitmodell kompatibel. Auch wenn – wie heute in 15 von 16 Bundesländern – nur die Unterrichtsverpflichtung durch den Dienstherrn und Arbeitgeber vorgegeben ist, spricht nichts dagegen, täglich festzuhalten, wann und wie viel jede Lehrkraft gearbeitet hat.
    GEW: Arbeitszeiterfassung ist kein Instrument der Leistungs- und Verhaltenskontrolle.
    Der Gewerkschaftstag der GEW hatte sich 2022 klar für die Erfassung der Arbeitszeit an Schulen ausgesprochen…“ GEW-Beitrag vom 06.03.2024 externer Link mit umfangreichen Hintergründen

Siehe zum Thema:

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=179493
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