Zehn Jahre Zukunftsbremse – (endlich) keine Zukunft für die Schuldenbremse?

Dossier

Austerity killsDeutschland diskutiert die Schuldenbremse – und zwar erfreulich kritisch. Stimmen aus der Politik stellen sie in Frage. Und sogar das Arbeitgeber-Institut der deutschen Wirtschaft bringt kritische Beiträge. Die Schuldenbremse, 2009 im Grundgesetz verankert, soll die Neuverschuldung von Bund und Ländern strikt begrenzen. Inzwischen zeigt sich: Die Schuldenbremse ist eine Zukunftsbremse. Sie verhindert Investitionen und wich­tige Staatsausgaben. Und sie nimmt dem Bund wie den Ländern finanzielle Handlungsmöglichkeiten in wirtschaftlichen Krisenzeiten. (…) Die Kritik an der Schuldenbremse ist also berechtigt – nicht aber jedes Motiv dahinter. Manche wollen sie abschaffen, um Steuern für Unternehmen oder Gutverdienende senken zu können. Andere wollen die Rüstungsausgaben erhöhen. Ökonomisch und gesellschaftlich sinnvoll wäre beides nicht. Stattdessen brauchen wir mehr Geld für Bildung, Gesundheit, Wohnen, Energiewende sowie Verkehr…“ Wirtschaftspolitik aktuell 06 / 2019 vom April 2019 externer Link von und bei ver.di. Siehe dazu:

  • Die Anstalt vom 12. März 2024: Schuldenbremse voraus! (Oder: Christian Lindner als Notlage) New
    Die deutsche Wirtschaft steckt in der Krise. Zeit für eine satirische Rezessionsanalyse in der Anstalt. Schuldenbremse oder Investitionen? Letzter Anker oder volle Fahrt voraus?Video der Sendung beim ZDF externer Link und:

    • Der beste Dialog daraus: „Neffton: „Jetzt erkenne ich die Notlage, die es uns erlauben würde die Schuldenbremse auszusetzen.“
      Lindner: „Welche Notlage sollte das sein?“
      Neffton: „Christian Lindner
      „“
    • Und der umfangreiche Faktencheck zur Sendung vom 12. März 2024 externer Link
  • Austerität: «Die Geschichte lässt sich als Waffe gebrauchen»
    „Wenn Regierungen sich einen Sparkurs verschreiben, hat das weniger mit wirtschaftlichen Notwendigkeiten zu tun als mit dem Versuch, demokratische Bestrebungen von unten abzuwürgen.
    Die italienische Ökonomin und Historikerin Clara E. Mattei hat zu den Ursprüngen der Austeritätspolitik im Faschismus geforscht. Im Interview von Daniel Hackbarth in der WOZ Nr. 50 vom 14. Dezember 2023 externer Link präsentierte Mattei ihre Forschungsergebnisse: „… Betrachtet man etwa die Jahre 1919 und 1920, die in Italien nicht von ungefähr als «biennio rosso» – die zwei roten Jahre – gelten, war die demokratische Alternative zugleich eine Alternative zum Kapitalismus: Da ging es darum, die Lohnarbeit zu überwinden, man fragte, wie sich die Arbeit ohne Kapital selbst managen könnte. Man stellte also die Fundamente des Systems infrage. Ignoriert man diese Zeit, dann verliert man aus dem Blick, wie antidemokratisch der Kapitalismus eigentlich ist. Denn in den dreissiger Jahren schienen dann ja Kapitalismus und Demokratie plötzlich synonym. (…) Die Geschichte dagegen, die ich erzähle, besagt, dass Austerität kein Fehler im System ist, sondern zu dessen Struktur gehört. (…) Die Geschichte, die ich (…) erzähle, betont, dass der Staat permanent mittels Austerität interveniert, um Alternativen zum Kapitalismus zu verhindern. Das ist nur offensichtlicher in Augenblicken, in denen die existenzielle Krise des Systems akuter ist, wie am Ende des Ersten Weltkriegs. (…) Wenn die Leute die Grundlagen des Kapitalismus infrage stellen und beginnen, konkrete Alternativen zu entwickeln, lässt sich beobachten, wie der Staat Ressourcen von der Breite der Bevölkerung abzieht, um stattdessen die investierende Klasse zu schützen und zu subventionieren. Hier hat man es also auch mit einer staatlichen Intervention zu tun, die aber Arbeiter:innen schwächt, indem man ihre Situation prekärer macht: Man vergrössert die industrielle Reservearmee, um diejenigen, die auf Lohnarbeit angewiesen sind, gefügiger zu machen. Auch dieser Punkt wird durch das falsche Narrativ von Staat und Markt verzerrt: Der Staat interveniert dezidiert mittels Austerität – und das ist nicht einfach «schlechte Wirtschaftspolitik», sondern sehr wirkungsvoll, um die Stabilität der Klassenverhältnisse und damit das reibungslose Funktionieren des Kapitalismus zu sichern. Vergessen wir nicht, dass Ausbeutung die Grundlage ökonomischen Wachstums ist und gleichzeitig voraussetzt, dass sich die Leute in Lohnarbeitsverhältnisse fügen. Genau das stellt Austerität sicher: Sie erhöht die Abhängigkeit aller vom Markt. (…) Der entscheidende Punkt ist nicht, ob der Staat Geld ausgibt, sondern wofür er es ausgibt. Wenn man Sozialausgaben kürzt und die dadurch frei werdenden Ressourcen an den militärisch-industriellen Komplex transferiert, sie für Subventionen für Investoren und Vermögensverwalter verwendet oder um Banken zu retten, dann ist das Austerität. Dasselbe in Sachen Besteuerung: Es geht nicht um das Erhöhen von Steuern per se, sondern um regressive Besteuerung, also Steuererhöhungen für die Leute, während zugleich diejenigen auf Vermögen und Profite gesenkt werden. Es kommt also darauf an, wer profitiert und wer verliert. Dieser Punkt kann kaum überbetont werden, weil dann nämlich klar wird, dass auch eine keynesianische Interventionspolitik absolut mit Austerität vereinbar ist – genauso wie es der Staatskorporatismus im italienischen Faschismus war. All diese Dinge drehten sich letztlich darum, privates Kapital zu schützen und die arbeitende Bevölkerung in die Prekarität zu zwingen, sodass sie keine andere Möglichkeit hat, als auch niedrige Löhne zu akzeptieren. (…) Der Faschismus in seiner ursprünglichen Gestalt unter Benito Mussolini verfolgte eindeutig den Zweck, die Arbeiter:innenklasse zu zerschlagen. Er entstand ja nicht zufällig in einer Zeit, in der die proletarische Bewegung stark war. Und er entstand in Allianz mit dem liberalen Establishment, das sich vom Faschismus die nötige Durchschlagskraft versprach, um die Klassenverhältnisse wieder zu stabilisieren. Austerität und Faschismus gingen Hand in Hand. Für die Faschisten war Austerität ein ausgezeichnetes Mittel, um sich die Zustimmung des liberalen Establishments zu sichern, auch international. Was mich vor allem interessiert hat, waren die Kontinuitäten von Faschismus und Liberalismus: Beide zeichnet die autoritäre Behauptung aus, über die ökonomische Wahrheit zu verfügen, die aber letztlich natürlich ganz im Interesse der herrschenden Klasse ist. Vergleicht man Liberalismus und Faschismus anhand ihrer tatsächlichen Geschichte, könnte man also sagen, dass sie beide primär das Ziel verfolgten, den Kapitalismus zu verteidigen. So gesehen stehen sie sich viel näher, als man meinen könnte…“
  • Kein Geld da für Klimaschutz und Soziales? Lächerlich! Geld, Einfluss, und Lobbyismus: Über den Grund der Haushaltskrise spricht kaum jemand…
    • Achim Truger: Die Schuldenbremse muss grundlegend reformiert werden
      „Der Ökonom und Sachverständige im Rat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung Achim Truger beschreibt, wie eine grundlegende Reform der Schuldenbremse aussehen muss und welche vier Aspekte die Politik dabei berücksichtigen sollte. (…) Erstens sollten öffentliche (Netto-)Investitionen in geeigneter Definition von der Schuldenbremse ausgenommen werden, damit sie unabhängig von der Haushaltslage und evtl. bestehendem Konsolidierungsdruck sicher getätigt werden können („Goldene Regel“). Um Sorgen bezüglich der Übernutzung und mangelnder Nachhaltigkeit zu zerstreuen, könnte eine Obergrenze von zum Beispiel einem Prozent des Bruttoinlandsprodukt (BIP) angesetzt werden. Konflikte mit den EU-Fiskalregeln ließen sich vermeiden, wenn diese bei der anstehenden Reform entsprechend angepasst würden. Zweitens sollte über mehrere Jahre ein schrittweiser Ausstieg aus der Nutzung von Notlagenkrediten ermöglicht werden, damit nach Ende der Notlage keine abrupten Konsolidierungsschritte gefordert werden. Bei Einführung der Schuldenbremse mussten die hohen Defizite aus der Finanzkrise auch nicht in einem Schlag reduziert werden, sondern es gab eine Übergangsfrist von sechs Jahren für den Bund und zehn Jahren für die Länder. Drittens sollte die Tilgungspflicht für Notlagenkredite entfallen. Nominale Schuldentilgungen sind aus ökonomischer Sicht nicht nötig, um Nachhaltigkeit der Staatsversschuldung zu gewährleisten und könnten stattdessen auch zu einer Überkonsolidierung und unnötig verengten Spielräumen in der Zukunft führen. Viertens schließlich sollte das Kontrollkonto der Schuldenbremse symmetrisch bewirtschaftet werden. Das heißt, es sollten nicht nur Überschreitungen einen Schwellenwertes erfasst und durch entsprechende Kürzung der Haushaltspielräume im den Folgejahren negativ sanktioniert werden, sondern es sollten auch früher erzielte Überschüsse durch Übererfüllung der Schuldenbremse für höhere Ausgaben in der Zukunft eingesetzt werden dürfen.“ Einblick bei der DGB-Gegenblende am 6. Dezember 2023 externer Link
    • [DGB] Wie weiter nach dem Verfassungsurteil?
      „Mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts wird ein Großteil der Gelder aus dem Klima- und Transformationsfonds sowie dem Wirtschaftsstabilisierungsfonds gesperrt. Damit sollten über mehrere Jahre z.B. Ausgaben für Klimaschutz und Transformation gestemmt werden. Um die wirtschaftliche Zukunftsfähigkeit zu sichern, braucht es neben einer Reform der Schuldenbremse, höhere Einnahmen. (…) Die Bundesregierung muss nun schnell rechtssichere Pflöcke einschlagen, die die notwendigen Investitionen in die Infrastruktur und die Unterstützung für den klimaneutralen Umbau langfristig sicherstellen. (…) Zudem muss endlich eine investitionsfreundliche Reform der Schuldenbremse her. Ein erster notwendiger Schritt ist, eine realistische Berechnung der aktuellen konjunkturellen Lage. Denn in Krisenzeiten, bei unterausgelasteter Produktion, gibt auch die Schuldenbremse etwas mehr Raum für die Kreditaufnahme (…). Die Bundesregierung negiert bislang das Ausmaß der Unterauslastung und schränkt damit den Verschuldungsspielraum unnötig ein. Die Berechnungsmethode anzupassen, reicht allerdings nicht aus, um die immensen Finanzierungsbedarfe zu decken. Hierfür braucht es weitere Reformschritte bei den Schuldenregeln. In diesem Sinne muss auch der aktuelle Reformprozess der EU-Fiskalregeln genutzt werden. (…) Darüber hinaus sollten öffentliche Unternehmen wie z.B. die Bahn als Investitionshebel eingesetzt werden. Dafür muss ihre Eigenkapitalbasis gestärkt werden. Solche finanziellen Transaktionen sind von der Schuldenbremse ausgenommen. Ein neues zweckgebundenes Sondervermögen im Grundgesetz würde ermöglichen, die Finanzierung von wichtigen Zukunftsaufgaben überjährig, langfristig und rechtssicher zu stemmen. Gleichzeitig muss auch die Einnahmeseite gestärkt werden: z.B. durch eine Reform der Erbschaftsteuer, eine Finanztransaktionssteuer, die Wiedereinführung der Vermögensteuer und durch einen einmaligen Lastenausgleich. Die Erhöhung des CO2-Preises wäre hingegen ungerecht. Er belastet vor allem kleine Einkommen.“ DGB-Klartext 42/2023 vom 1. Dezember 2023 externer Link
    • Kein Geld da für Klimaschutz? Lächerlich!
      „Großes Wehklagen in der großen Politik. Das Verfassungsgericht streicht die Verwendung von nicht ausgeschöpften Finanzfonds, und prompt fällt die Finanzierung der Klimaschutzinvestitionen des Staates zusammen (wobei man noch in Frage stellen muss, ob es hier immer um klimafreundliche Ausgaben handelt). Aber halt, es gäbe durchaus noch Möglichkeiten: Jedes Jahr bleiben erneut riesige Geldmengen übrig, nicht verfügbar für den privaten Konsum und überflüssig für den Bedarf an Sachanlageninvestitionen. (…) Einbegriffen sind hier auch die Einkommen der Millionen Selbständigen, also alle Nicht-Arbeitnehmer, Nicht-Lohnempfänger, auch wenn es sich um Einmannbetriebe oder um Scheinselbständige handelt. (…) Auffällig: Die Netto-Investitionen (= Investitionen in neue Sachanlagen), die ja der eigentlich Zweck der Gewinne sind, machen in jedem Jahr seit 2002 weniger als 15 % der Bruttogewinne aus. Nicht benötigte Gewinne (zur freien Verwendung für Finanzanlagen, Spekulation, Ausschüttung etc.) liegen seit 2004 in jedem Jahr höher als 200 Mrd. Euro. (…) Nur die wenigsten der Millionen Selbständigen sitzen im Hinterzimmer und zählen ihre Aktien; die meisten arbeiten unmittelbar als Fliesenleger oder Kioskpächter oder Radlkurier oder auch als Ärztin oder Rechtsanwältin usw. Das ist konkrete wertschaffende Arbeit, es ist nicht wirklich Kapitalertrag, auch wenn es formal kein Lohneinkommen ist. (…) Kapitalgewinne in marktnahen Bereichen: Das ist der verbleibende Rest, die Kapitalgewinne von Unternehmen und Konzernen, die voll in der kapitalistischen Konkurrenz stehen gegen die eigenen Beschäftigten um den Anteil an der Wertschöpfung (Profit- versus Lohnquote), und natürlich auch in der Weltmarktkonkurrenz gegen ausländische Nebenbuhler. Wir sehen (…), dass der Anteil der konkurrenzstarken deutschen Konzerne am gesamten Unternehmereinkommen – und auch am gesamten Volkseinkommen – in den letzten etwa 20 Jahren massiv zugenommen hat. (…) Geld ist im reichen Deutschland wirklich genug da. Neue Staatsschulden sind nicht nötig. (…) Beispiel RWE: Früher schwankte der RWE-Profit um die 2 Mrd. Euro pro Jahr, durchaus sehr auskömmlich. Seit 2022 liegt er dreimal so hoch, Marktlagengewinne nennt sich das. RWE ist, wie man das ja auch erwarten konnte, Inflationsgewinner. (…) Eine Gewinnbesteuerung wäre natürlich ungleich ertragreicher bei der aktuellen Frage, wo man die nach dem Verfassungsgerichtsurteil fehlenden 60 Mrd. Euro herkriegen könnte, als der Vorschlag des rechtsradikalen bayerischen Wirtschaftsministers und ökonomischen Analphabeten, welcher in einem ZDF-Interview felsenfest darauf beharrte, dass die fehlenden 60 Mrd. von den Bürgergeld-Empfängern und von den Flüchtlingen bezahlt werden sollten. Es steht aber wohl zu erwarten, dass es eher nach der Aiwanger-Richtlinie gehen wird.“ Mit Grafiken unterstützter Beitrag von Franz Garnreiter am 01. Dezember 2023 beim isw München externer Link
    • Geld, Einfluss, und Lobbyismus: Über den Grund der Haushaltskrise spricht kaum jemand
      „Investitionsstau wird größer, der Haushalt kleiner. Und der Bundestag billigt den Irrweg der Regierung. Wer profitiert von diesem Systemfehler? (…) Ich weiß aus eigener Erfahrung, basierend auf vielen Haushaltsdebatten, dass der vermeintliche Sparzwang vor allem als Disziplinierungsmittel betrachtet wird. Durch den Sparzwang wird verdeutlicht, dass nicht viel zu erwarten ist. Mit der Schuldenbremse wurde ein ideales Instrument geschaffen, das absurd in die Verfassung aufgenommen wurde. Dieses willkürliche, unflexible Instrument erhielt damit einen ähnlichen Rang wie das im Grundgesetz verankerte Sozialstaatsprinzip (Artikel 20)! Noch mehr: Das Sozialstaatsprinzip ist sehr unverbindlich und kaum überprüfbar. Die Schuldenbremse hingegen ist sehr konkret und überprüfbar. Hinzu kommt, dass sich das Parlament sein zentrales Recht, die Aufstellung des Budgets, immer mehr aus der Hand nehmen lässt. Wie bei allen anderen wichtigen Gesetzen und Maßnahmen gibt praktisch die Regierung den Kurs vor. Nur deshalb kommt dem Finanzminister eine Bedeutung zu, die er theoretisch gar nicht haben sollte. Der Bundestag sollte das eigentliche Entscheidungszentrum sein. Er sollte die Regierung kontrollieren und beauftragen. Aber das ist Geschichte. Die Regierung bestimmt allein, und der Bundestag nickt weitgehend alles ab, denn die Mitglieder der Regierungsfraktionen verstehen sich nicht als Korrektiv oder souveräne Volksvertreter, sondern als Erfüllungsgehilfen der Regierung. Das Meiste wird einfach durchgewinkt, und selbst beim Haushalt wird nur noch um Kleinigkeiten gerungen. Ein Teil der Profitlobby hat viel mehr Spielraum und Einfluss auf das Geld der Bevölkerung. Bei den Lobbygeschenken an bestimmte Gruppen wie die Autolobby, Pharmakonzerne und Rüstungsindustrie ist auch von dem sonst propagierten „Sparen“ nichts zu merken. Einmal eingeführte Subventionen fließen jedes Jahr, egal, wie sinnvoll sie sind. (…) Ein besonderes Beispiel ist der Bereich Militär und Verteidigung. Hier wird besonders viel getrickst und getäuscht. (…) Das angebliche „Kaputtsparen“ der Verteidigung ist eine Lüge. Wenn es um mächtige Lobbys geht, ist immer genug Geld da. (…) Es geht eben nicht darum, die nächste Generation vor zu vielen Schulden zu bewahren, sondern darum, die Profite einiger weniger zu sichern. Dabei wird jede Belastung der Zukunft in Kauf genommen, auch der „Kollateralschaden“, dass sich die Menschen immer mehr von der Politik abwenden oder denen zuwenden, die die Demokratie abschaffen wollen.“ Beitrag von Marco Bülow vom 30. November 2023 bei Telepolis externer Link – leider ist Bülow einiger der wenigen, der die verfassungsrechtlichen Veränderung von Sozialstaat zu kapitalistischer Wirtschaftspolitik zumindest anspricht. Auch das BVerfG macht hier mit. Denn eigentlich schreibt das GG keine bestimmte Wirtschaftspolitik vor. Sie ist auch nicht mit Art. 1 i.V.m. Art 20 wie das Sozialstaatsgebot vereinbar…
    • Kredit der Macht: Staatsschulden – was sie sind, was sie leisten und für wen sie ein Problem sind
      „Trotz enormer Investitionsbedarfe für einen sozial-ökologischen Umbau hält auch die Ampelkoalition an der Schuldenbremse grundsätzlich fest. Damit bewahrt sie sich einen politisch konstruierten Sachzwang, um staatliche Ausgabendisziplinierung und -kürzungen zu begründen, wenn es ins Konzept passt. Denn obwohl die Erzählung von den Vorteilen eines schlanken Staats im Zuge der Pandemiebekämpfung Risse bekommen hat, ist der Marktfundamentalismus in der Praxis weiterhin dominant. Zu seiner Rechtfertigung gibt es viele Mythen, die in den Alltagsverstand eingesickert sind. Etwa, dass zu hohe Staatsschulden künftige Generationen belasten. Auch die Europäische Zentralbank (EZB) steht wegen ihrer Anleihekäufe und Zinspolitik zur Krisenbekämpfung immer wieder in der Kritik, zum Beispiel weil sie Sparer*innen angeblich enteigne. Die vorliegende Publikation klärt über diese und viele andere Mythen im Zusammenhang mit Staatsverschuldung und Zentralbankpolitik auf und erläutert ausführlich, wie die EZB arbeitet: Geldschöpfung, Leitzinspolitik und das Agieren in der Krise («Kreditgeber letzter Instanz», Strategien von «fiskalischer Dominanz» und «finanzieller Repression») werden anschaulich und in verständlicher Sprache beschrieben. Das ist wichtig, denn eine gesellschaftliche Linke, die den gängigen marktliberalen Mythen etwas entgegensetzen will, muss die Hemmschwelle für die Beschäftigung mit solchen komplexen Themen senken und mit verständlichen Argumenten und Bildern in der Öffentlichkeit Gehör finden, um Debatten zu beeinflussen. Denn noch immer  gilt: Die Schuldenbremse gehört abgeschafft…“ Hinweis auf die bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung im Dezember 2021 erschienene 75-seitige Broschüre von Stephan Kaufmann und Ingo Stützle externer Link – immer noch aktuell
  • Das grundsätzliche Problem bleibt die Schuldenbremse – immer mehr Stimmen für deren Reform/Abschaffung 
    • Verfassungsgerichtsurteil: Schuldenbremsen-Reform unvermeidbar
      Durch das Urteil vom Bundesverfassungsgericht fehlen Milliarden für Klimaschutz und Transformationsprojekte. Deshalb aber Kürzungen im Sozialbereich und bei Zukunftsinvestitionen zu fordern, ist unverantwortlich. Stattdessen muss die Schuldenbremse jetzt ausgesetzt werden. An einer grundlegenden Reform führt dennoch kein Weg vorbei, meint das #schlaglicht 39/2023 aus Niedersachsen.
      Nun ist das Kind endgültig in den Brunnen gefallen. Mit seinem letzte Woche verkündeten Urteil hat das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) den Bundeshaushalt 2021, und damit 60 Mrd. Euro, die aus Coronamitteln in den Klima- und Transformationsfonds (KTF) umgebucht wurden, für null und nichtig erklärt. Hierdurch klafft eine riesige Lücke bei Investitionen, die in den nächsten Jahren für Klimaschutz und Transformation eingeplant gewesen sind. Und zusätzlich herrscht große Unsicherheit darüber, inwieweit auf Bundes- und Länderebene auch andere Sondertöpfe von der aktuellen Rechtsprechung betroffen sein könnten.
      Hände weg vom Rotstift
      Die jubelnde CDU/CSU-Fraktionen, die die Klage eingereicht hatte, und Teile der FDP wollen als Konsequenz strikte Priorisierungen im Haushalt vornehmen und dafür die Axt bei den Sozialleistungen anlegen, um so die Löcher zu stopfen. Mal abgesehen von der Tatsache, dass der Fehlbetrag die Etats mehrerer Bundesministerien übersteigt, zeugen solche Pläne von einer sozialen Eiseskälte, die nicht zu verantworten ist. Statt harte Einschnitte anzudrohen und damit Existenzängste zu schüren, ist jetzt mehr denn je finanzielle Sicherheit gefragt.
      Investitionen für die Transformation
      Ebenso darf nicht die Situation entstehen, dass drängende Zukunftsausgaben unter die Räder geraten. Seit Jahren kratzen staatliche Nettoanlageinvestitionen an der Nulllinie (siehe Grafik). Gleichzeitig beträgt der Mehrbedarf an öffentlichen Investitionen zur Erreichung der Klimaneutralität jährlich 20 Mrd. Euro. Um den Klimaschutz und den Umbau der Wirtschaft voranzutreiben, muss jetzt genug Geld in Bahninfrastruktur, Elektromobilität, Ladenetze, Wasserstoff- und Halbleitertechnologien fließen. Andernfalls wird es zu sehr kostspieligen Langzeitschäden kommen…“ #schlaglicht vom 23.11.2023 beim DGB Niedersachsen externer Link
    • Schuldenbremse: Sich selbst angeleint
      Der Nachtragshaushalt verschafft der Bundesregierung nur kurzfristig Spielraum. Das grundsätzliche Problem bleibt: die Schuldenbremse
      Die Geschichte der Schuldenbremse ist ein deutsches Drama in mehreren Akten. Nachdem das Bundesverfassungsgericht mit einem Paukenschlag den Klima-Sondertopf als nicht verfassungsgemäß eingestuft hat, folgt nach einigem Chaos nun die Mitteilung, auch für das Jahr 2023 soll die Schuldenbremse ausgesetzt bleiben. Das ist eine gute Nachricht. Doch selbst wenn der Stopp für die Energiepreisbremse und den Klimatopf abgewendet wird, ist die allgemeine Sparpolitik der Regierung nicht vom Tisch. Denn bereits vor dem Aus für die Schattenhaushalte hielt man es in einem reichen Land mit einer der geringsten Schuldenquoten im internationalen Vergleich für sinnvoll, Essenzielles zu kürzen: sei es bei den Plänen für die Kindergrundsicherung, bei Mitteln für Antisemitismus- und Rassismusbekämpfung oder dem Digitalisierungspaket. Die Liste ließe sich fortführen. Die Schuldenbremse ist zudem nicht abgeschafft, sondern nur erneut ausgesetzt. (…)
      Solide Haushaltspolitik setzt voraus, dass längerfristig gedacht wird. Das weiß jede Unternehmerin. Die Sparpolitik bleibt zu sehr in der Kurzfristigkeit und dem Denken in Geldflüssen verhaftet und vernachlässigt die längere Frist und die Vermögensseite. Hinzu kommt, dass Staatsausgaben systemisch sowohl auf der Ausgabenseite als auch auf zukünftige Einnahmen wirken. So untergräbt die Sparpolitik zukünftige Steuereinnahmen, wenn die Wirtschaft abgewürgt wird. Man kann Finanzminister Christian Lindner nun zurecht fehlenden ökonomischen Sachverstand vorwerfen. Aber zur Wahrheit gehört auch, dass die Schuldenbremse ein zentrales Projekt der ersten Großen Koalition unter Angela Merkel war und abgesehen von der Linken keine andere Partei ihre Abschaffung fordert. Zudem schien es zuletzt auch in der Bevölkerung weiterhin große Zustimmung zur Schuldenbremse – nicht jedoch zu tatsächlichen Sparmaßnahmen – zu geben. (…)
      Ökonomisierung scheint aktuell politische Alternativlosigkeit zu implizieren, doch der ökonomische Sachzwang, der die Schuldenbremse vermeintlich erfordert, existiert nicht. Es mag eine Erzählung geben, die dies nahelegt, aber diese steht neben einer Vielfalt von anderen ökonomischen Deutungen und politischen Handlungsmöglichkeiten…“ Artikel von Elsa Egerer vom 24.11.2023 im ND online externer Link
    • Schuldenbremse: Lieber abschaffen statt immer wieder aussetzen?
      Haushaltssperre für die Ampel. Es klafft ein Milliardenloch im Haushalt. Ein schneller Ausgleich ist wegen der Schuldenbremse eigentlich nicht möglich. Jetzt soll sie nochmals ausgesetzt werden. Aber muss die Schuldenbremse nicht besser komplett weg?…“ Text und Video des Beitrags von Dominic Possoch, Anna Feininger und Adrian Dittrich vom 25.11.2023 in BR externer Link – ein Überblick über die Positionen
  • Hat das Bundesverfassungsgericht – natürlich ungewollt – eine überfällige Debatte zum (Sinn und) Unsinn der Schuldenbremse angeregt?
    • Ausgetrickst – nun heißt es in Sachen Schulden Farbe bekennen
      Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts muss es eine Diskussion über die Schuldenbremse geben. Warum Schluss sein muss mit fiskalischen Tricks. (…) Mit seiner Entscheidung, die Umwidmung der Gelder aus dem Coronafonds in einen Klimafonds für verfassungswidrig zu erklären, bringt das Gericht die Regierung in eine Lage, in der die ohne neue Tricksereien großes wirtschaftliches Unheil anrichten wird. Man wird aus allen Ecken Geld zusammenkratzen, um die eingegangenen Verpflichtungen des Klimafonds zu erfüllen, aber das Ergebnis wird sein, dass die Fiskalpolitik noch weit stärker, als es bisher schon der Fall war, der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung Schaden zufügen wird, weil die übrigen staatlichen Ausgaben sinken. Dabei dürfte, wie immer, das Zusammenstreichen des Sozialhaushalts an vorderster Front stehen. (…) Wer ständig die Schuldenbremse verteidigt (so Lindner gerade im Spiegel), kann jetzt nicht einmal sagen, dass das Urteil große Probleme und womöglich sogar unüberwindliche Probleme mit sich bringen wird. Lindner hat der Schuldenbremse ja sogar gegen jede Vernunft eine „höhere Weisheit“ attestiert und von leichter Hand verneint, dass die Einhaltung der Schuldenbremse der Wirtschaft schadet. Von Beginn an hätte diese Regierung mutig in die Auseinandersetzung um die Schuldenbremse gehen und der Bevölkerung erklärten sollen, welch gravierende Folgen die Anwendung der Schuldenbremse nach sich zieht. Man täte sich heute viel leichter, der Bevölkerung nahezubringen, dass es so nicht geht. Auch hätte man offen sagen sollen, welchen Bärendienst sich die deutsche Politik selbst angetan hat, als sie nach der Finanzkrise von 2008/2009 ohne sachlichen Grund, aber in blanker Panik die Bremse quasi über Nacht in die Verfassung schrieb. Das Schlimmste ist jedoch, dass sich auch diese Regierung jeder Diskussion in der Öffentlichkeit und in Europa darüber verweigert, wie eng die deutschen Überschüsse in der Leistungsbilanz mit den zwischenzeitlichen „Erfolgen“ bei der Konsolidierung des Staatshaushaltes zusammenhängen. (…) In einer Welt, in der der gesamte Privatsektor per Saldo Einnahmeüberschüsse aufweist, also spart, kann der Staat nur dann auf Defizite verzichten, wenn das Ausland hohe Einnahmedefizite akzeptiert. Damit verstößt Deutschland – ebenso wie die Niederlande (und übrigens weitere EU-Staaten) – zwar permanent gegen die in der EWU gemeinsam beschlossenen Regeln, kann sich darüber aber großzügig hinwegsetzen, weil die EU-Kommission ihrer Aufgabe als Hüterin der Verträge nicht nachkommt. Insofern ist es vielleicht ganz gut, dass das Verfassungsgericht den Haushaltstricksereien einen Riegel vorschiebt. Man wird merken, dass die Schuldenbremse in einer Situation, in der die Wirtschaft in großen Schwierigkeiten steckt, aber noch keine nationale Notlage zu konstatieren ist, den Staat in seiner Handlungsfähigkeit ohne jeden Grund einschränkt. (…) Das Gericht hat nur die Artikel des Grundgesetzes, die seine Entscheidung leiten. Ob die Artikel eine innere Weisheit haben, entzieht sich der Kenntnis des Gerichts. Eine Regierung darf sich nicht einfach dumm stellen, weil sie einen viel weiteren Auftrag von den Bürgern hat. Gesetzesänderungen sind das alltägliche Geschäft der Regierung. Sie darf auch vor Änderungen des Grundgesetzes nicht zurückschrecken, wenn sich herausstellt, dass ein einst von einer Vorgängerregierung eingeschobener Artikel, der keineswegs konstitutiv für die deutsche Verfassung ist, großen Schaden anzurichten vermag. In diesem Sinne muss die Schuldenbremse viel stärker auch von der Regierung in der öffentlichen Diskussion infrage gestellt werden…“ Kommentar von Heiner Flassbeck vom 16. November 2023 in Telepolis externer Link
    • Die Schuldenbremse muss weg
      Der Plan der Ampel, Restgeld aus dem Coronatopf in die Klimapolitik umzuleiten, funktioniert nicht. Mittel für die Transformation müssen trotzdem her. (…) Die Verfassungsrichter urteilten, die Schuldenbremse sei grundsätzlich einzuhalten und könne nicht durch Sondervermögen umgangen werden. Und sie verweisen darauf, dass die Bremse nur im Falle von Naturkatastrophen oder außergewöhnlichen Notsituationen, die sich der Kontrolle des Staates entziehen, aufgehoben werden darf.
      Jetzt braucht es Investitionen
      Damit machen die Richter auf das eigentliche Problem aufmerksam: die Schuldenbremse. Die hatte 2009 eine Große Koalition von Union und SPD im Grundgesetz verankert. Der damalige SPD-Fraktionsvorsitzende Peter Struck erklärte, es sei absurd anzunehmen, die Schuldenbremse würde den Staat knebeln. Er irrte. Denn der Staat müsste heute dringend Hunderte von Milliarden investieren – in den klimaneutralen Umbau der Wirtschaft, in die marode Infrastruktur, in die Bildung. Dank Schuldenbremse fehlt das Geld dazu. Der Klimawandel ist nun mal keine Naturkatastrophe, die eine Ausnahme im Sinne des Grundgesetzes erlaubt. Bekämpft werden muss er dennoch, und zwar über Jahrzehnte hinweg. Die Schuldenbremse muss reformiert werden oder weg. Bremse gerettet, Erde tot ist keine Option.“ Kommentar von Anna Lehmann vom 15.11.2023 in der taz online externer Link
    • Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Nachtragshaushalt: BUND und Paritätischer Gesamtverband fordern Aussetzen der Schuldenbremse
      Zur heutigen Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Umwidmung der Corona-Hilfen in den Klima- und Transformationsfonds erklären Olaf Bandt, Vorsitzender des Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND) und Ulrich Schneider, Hauptgeschäftsführer Der Paritätische Gesamtverband: „Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts bedeutet, dass viele Milliarden für unabdingbare Klimaprojekte und deren sozial gerechte Ausgestaltung fehlen werden. Die Bundesregierung muss in dieser Situation eine Aussetzung der Schuldenbremse einleiten, um Zukunftsprojekte beispielsweise im Gebäudebereich und bei der Finanzierung der Erneuerbaren nicht zu gefährden.““ Meldung vom 15. November 2023 bei BUND externer Link – Aussetzen ist dabei sehr defensiv…
    • ver.di-Vorsitzender Frank Werneke nach Bundesverfassungsgerichtsurteil zum Nachtragshaushalt: „Reform der Schuldenbremse ist jetzt unabdingbar!“
      Pressemitteilung vom 15.11.2023 externer Link – Reform auch…
  • Entprivatisiert euch! Als Erstes müssen wir die Ideologie des schlanken Staates hinter uns lassen: Sie verhindert dringend nötige Investitionen, schwächt Institutionen und begünstigt Reiche
    Im Lichte der Coronapandemie mit staatlich organisierten Test- und Impfangeboten sowie milliardenschweren Staatshilfen für Galeria Karstadt Kaufhof, Lufthansa und TUI mehren sich die Abgesänge auf das neoliberale Zeitalter. Von der Coronakrise als dem „letzten Sargnagel für den Neoliberalismus“ (Marcel Fratzscher) ist ebenso die Rede wie vom „Coronaschock, der den Neoliberalismus in eine letale Krise stürzen“ wird (Bert Rürup). Selbst Christian Lindner gab im Frühjahr 2020 im Deutschen Bundestag zu verstehen: „Jetzt ist die Stunde des Staates. Wir brauchen ihn bei allem, was über die Fähigkeit, individuell Verantwortung zu übernehmen, hinausgeht.“ Es drängt sich angesichts der zahlreichen unerwarteten „Staatsbekenntnisse“ die Frage auf, ob nun eine Rückkehr des Staates und damit der öffentlichen Daseinsvorsorge bevorsteht. Gründe gäbe es genug. Preise für den öffentlichen Personennahverkehr steigen selbst dort, wo Bus- und Bahnfahrpläne ausgedünnt oder Haltestellen aufgegeben werden. Mehr als 1.000 kommunale Badeanstalten wurden in den vergangenen zehn Jahren geschlossen, obwohl sich finanzschwache Familien den Besuch privat betriebener „Spaßbäder“ vielfach nicht mehr leisten können. Die Schließung von Postfilialen, die Ausdünnung der Zustellungsintervalle und die regelmäßige Anhebung des Briefportos bemängeln selbst Politikerinnen und Politiker, die sonst auf den Markt als Allheilmittel für wirtschaftliche Prosperität und gesellschaftlichen Fortschritt setzen. Seit der Privatisierung der Altersvorsorge à la Riester und Rürup grassiert selbst in der Mittelschicht die Sorge, dass man seinen Lebensstandard im Ruhestand nicht wird aufrechterhalten können. Die Privatisierung des Mauterhebungsunternehmens Toll Collect, deren Scheitern den Bund knapp eine Milliarde Euro kosten dürfte, dokumentiert die mit zahlreichen Privatisierungen verbundenen volkswirtschaftlichen Flurschäden ebenso wie die unter dem Dach der Tank & Rast GmbH gebündelten Autobahnraststätten (…) Dennoch bleibt abzuwarten, ob die nächste Bundesregierung nach der Überwindung der Coronakrise zur Politik des „schlanken“ Staates zurückkehrt und den Privatisierungskurs fortsetzt. Jedenfalls würde sich eine Intensivierung der Debatte lohnen, die zuletzt von Mariana Mazzucato unter dem Stichwort „Re-imagining public value“ angestoßen wurde. Die italo-amerikanische Ökonomin hat anhand der Entstehungsgeschichte bedeutender technischer Innovationen wie dem Navigationssatellitensystem GPS, dem Internet und Mikroprozessoren eindrucksvoll aufgezeigt, dass staatliches Kapital für die Entwicklung vieler technologischer Neuerungen unverzichtbar war und ist. Vielleicht gelangt die künftige Bundesregierung auch zu der Einsicht, dass ein Steuersystem, das Arbeit diskriminiert und Kapital privilegiert, nicht nur die Kluft zwischen Arm und Reich vertieft, sondern auch den Privatisierungsdruck erhöht…“ Artikel von Tim Engartner vom 12.10.2021 im Freitag Ausgabe 39/2021 externer Link
  • Klassenkampf mit der Notenpresse? Manche Linke machen es sich schwerer, als sie müssten. Wie die Modern Monetary Theory helfen kann 
    „Die Modern Monetary Theory (MMT) ist so neu wie kontrovers. (…) So werfen einige Sozialistinnen und Sozialisten der MMT vor, sie würde die Klassenfrage ignorieren, Machtkämpfe einfach mit der Notenpresse lösen wollen oder den Kapitalismus gar bestärken Stimmt das? Eins nach dem anderen! Ja, die MMT gibt keine Antwort auf die Klassenfrage. Ja, sie zeigt, wie man die Macht der Arbeiter mit der Notenpresse verbessern kann. Nein, die MMT stärkt weder den Kapitalismus noch den Sozialismus. Denn sie ist weder eine politische noch eine gesellschaftliche Theorie noch ein politisches Regime oder Reformpaket. Die MMT ist eine Geldtheorie oder, genau genommen, eine Anleitung für das Geldsystem. Sie zeigt uns, was Geld ist, wo es herkommt und warum es wichtig ist, die Bedeutung des staatlichen Währungsmonopol zu verstehen. Die wohl bedeutsamste Einsicht der MMT lautet: Geld ist keine knappe Ressource. Das Währungsmonopol gibt dem Staat viel mehr wirtschaftspolitischen Handlungsspielraum als andere Denkschulen nahelegen, was vor allem daran liegt, dass sie die Konsequenzen der staatlichen Monopolstellung ignorieren. Und die sind weitreichend. Da der Staat unter anderen Bedingungen agiert als ein Währungsnutzer, sind seine Ausgaben nicht etwa durch die Höhe der Steuereinnahmen begrenzt, sondern durch reale Ressourcen, die in staatlicher Währung zum Verkauf stehen, und durch eigens auferlegte politische Regelungen wie etwa die Schuldenbremse. Ein Staat kann in der eigenen Währung auch nicht pleite gehen und ist weder von den Finanzmärkten und noch vom Geld der Superreichen abhängig. Auch das Preisniveau und die Arbeitslosenquote werden maßgeblich durch den Staat beeinflusst. Sozialistinnen und Sozialisten sollten verstehen, dass die MMT eine Linse ist, derer sie sich bedienen können, um den Staat und das Geldsystem für die eigene Sache nutzen zu können. Dafür müssen sie der MMT natürlich sozialistische Werte überstülpen. Dies würde die Einsicht eröffnen, dass man nicht Robin Hood spielen muss, um Leuten mit kleinen Geldbeuteln größere zu verschaffen und dass man sich einen größeren Staatssektor und die Förderung von wirtschaftsdemokratischen Strukturen finanziell leisten kann; es würde zeigen, dass die Rückabwicklung von Privatisierungen und der Ausbau der öffentlichen Daseinsvorsorge nicht am Geld scheitern müssen; es würde klar werden, dass der Staat Vollbeschäftigung erzeugen und damit die Verhandlungsmacht der Beschäftigten stärken kann. Und letztlich würde deutlich werden, dass die Verteilungsfrage und die Finanzierungsfrage nicht in einen Topf gehören…“ Artikel von Maurice Höfgen vom 7. Oktober 2021 bei Jacobin.de externer Link

    • Anm.: Die Sichtweise von Thomas Piketty zum Problem des „Gelddruckens“ ist gar nicht so anders ist (auch wenn er die MMT nicht namentlich erwähnt). Piketty ist nur davon überzeugt, dass Umverteilung besser ist als Gelddrucken, weil es 1. um Machtverhältnisse (Demokratie) geht und 2. um eine Rückführung der Geldmenge auf die reale Wirtschaftsleistung, die allerdings beim privaten Vermögen schon länger nicht mehr gegeben ist. Klar aber ist, dass Gelddrucken nicht beim Systemerhalt (Rettung des Reichtums) stehen bleiben darf, wie es aktuell der Fall ist – ohne dass dies am System groß was ändert. Dass „Drucken“ für die Bestände der Reichen zeigt jedoch, dass so etwas für die Armutsbekämpfung eigentlich auch möglich ist. Es geht also eher um die Frage: Für wen druckt z.B. die EZB Geld? Dass es eben nicht an der Geldmenge liegt, zeigt Höfgen gut auf…
  • Streit um die Schuldenbremse: Berlin diskutiert, ab wann die fiskalpolitischen Daumenschrauben in Deutschland und der EU wieder angezogen werden sollen 
    „In den deutschen Funktionseliten toben Auseinandersetzungen über die Zukunft der „Schuldenbremse“ in Deutschland wie auch in der EU. Führende Think-Tanks warnen, setze man die Schuldenbremse, die im Kampf gegen die Pandemie vorläufig aufgehoben wurde, allzu rasch wieder in Kraft, dann werde dies europaweit den „Aufschwung abwürgen“. Zudem seien in diesem Fall neue Auseinandersetzungen mit den Vereinigten Staaten zu erwarten – wegen der stetigen deutschen Handelsüberschüsse. Berliner Regierungspolitiker sprechen mittlerweile davon, die klare Beschränkung der zulässigen Staatsschulden frühestens 2023 oder 2024 wieder einzuführen. Auch unternehmernahe Wirtschaftsinstitute signalisieren Zustimmung zu einer möglichen Lockerung der Schuldenbremse, um Steuererhöhungen zu vermeiden. Gleichzeitig warnen jedoch mehrere einstige Bundesfinanzminister davor, die Schuldenbremsen EU-weit zu lockern: Dies werde dazu führen, dass Deutschland über seine Bonität für die Schulden anderer Staaten in Mithaftung gezogen werde, heißt es; dann brächen „in Europa alle Dämme“. (…) Tatsächlich liegt die Staatsverschuldung der Bundesrepublik – dank jahrelanger Exportüberschüsse, die sich als Defizite auch anderer Eurostaaten manifestierten – weit unter dem Niveau der Eurozone. Deutschlands Staatsschuld stieg pandemiebedingt zwischen dem 3. Quartal 2019 und dem 3. Quartal 2020 von 61 Prozent des BIP auf 70 Prozent. Die gesamte Eurozone hingegen erreichte im dritten Quartal des vergangenen Jahres eine Schuldenquote von 90 Prozent. Neben Italien wiesen beispielsweise Portugal (130 Prozent des BIP) und Griechenland (199 Prozent) eine besonders hohe Verschuldung auf. Bis Ende 2020 stieg die Schuldenlast der Eurozone bereits auf 100 Prozent der Wirtschaftsleistung; in Frankreich waren es 118 Prozent, in Spanien 123 Prozent, in Italien 161 Prozent.“ Bericht vom 19. Mai 2021 von und bei German-Foreign-Policy.com externer Link
  • Troika nach Berlin: »Schuldenbremse« auf dem Prüfstand 
    „Die »Schuldenbremse« ist volkswirtschaftliches Harakiri. Die politische Mehrheit eines der reichsten Staaten der Welt hat sich vorgenommen, die eigene Wirtschaft schrumpfen zu lassen, und dieses Ziel sogar grundgesetzlich verbrieft. Mit Vernunft hat Kapitalismus allerdings nichts zu tun. Es ging der herrschenden Klasse schlicht und ergreifend darum, die Profite der Konzerne zu sichern – ohne Rücksicht auf Verluste. Wenn die öffentliche Hand permanent unterfinanziert bleibt, haben es Spekulanten und Konzerne leichter: Staatliche Fürsorge wie Bildung und Gesundheit wird dem Markt preisgegeben. Dadurch steigt der Druck auf die Beschäftigten, die mehr Geld für öffentliche Leistungen wie Krankenversicherung oder Schwimmbadbesuche ausgeben müssen. Was kümmert es die Herrschenden? Anscheinend eine ganze Menge. Die herrschende Klasse in Deutschland ist schlichtweg zu weit gegangen. Sie ist nicht mehr in der Lage, für Wachstumsimpulse zu sorgen. Schon vor Ausbruch der Coronapandemie war die deutsche Wirtschaft auf Rezessionskurs. Gleichzeitig steigen die Gewinne der Konzerne und die Privatvermögen unaufhaltsam. Der Staat wird seiner Aufgabe nicht mehr gerecht, zwischen den Kapitalfraktionen zu vermitteln und überschüssigem Kapital gewinnbringende Anlagemöglichkeiten zu verschaffen. Deshalb kam der Vorstoß, an der »Schuldenbremse« zu rütteln, am Dienstag von ganz oben. Merkel hatte ihren Kanzleramtschef Helge Braun vorgeschickt. »Diese Krise wird Gewinner und Verlierer unter den Volkswirtschaften hervorbringen«, warnte er in einem Gastbeitrag im Handelsblatt. Niedrigere Steuern und Lohnnebenkosten als Bestandteil einer »Erholungsstrategie für die Wirtschaft« reichten nicht. Beinahe kleinlaut forderte Braun deshalb eine Grundgesetzänderung, »die begrenzt für die kommenden Jahre einen verlässlichen degressiven Korridor für Neuverschuldung vorsieht«. Selbstverständlich gelte aber weiterhin: »Eine stabile Schuldenregel ist für Deutschland unabdingbar und eine Verpflichtung gegenüber kommenden Generationen.« Auch wenn Braun nur eine vorübergehende Lockerung der Kürzungsklausel ins Spiel brachte, bezog er am Mittwoch öffentlich Prügel – vor allem aus seiner eigenen Partei. Der Arbeiterklasse wird kein Millimeter zugestanden. Die Füchse unter der Finanzoligarchie wittern allerdings in der Krise ihre Chance. Michael Hüther, Präsident des unternehmernahen Instituts der deutschen Wirtschaft, schlug vor, einen »›Deutschlandfonds‹ als Haushalt mit eigenständiger Rechtsperson« ins Leben zu rufen, der die dringend benötigten öffentlichen Investitionen tätigen könne. Als Vorbild steht der EU-»Stabilitätsmechanismus« (ESM) Pate: Öffentliche Haushalte werden von Wirtschaftsprüfern wie McKinsey überwacht, Parlamente haben kein Mitbestimmungsrecht mehr. Die Troika soll auch in Deutschland regieren.“ Artikel von Simon Zeise in der jungen Welt vom 28. Januar 2021 externer Link
  • [Modern Monetary Theory (MMT)] Das Ende der schwarzen Null? 
    „Die Corona-Krise hat das neoliberale Diktat der Schuldenbegrenzung untergraben. Jetzt ist die Zeit für staatliche Investitionen in einen starken Green New Deal, der Nachhaltigkeit und Gemeinwohl ins Zentrum stellt. Das Geld ist da. (…) Ein wesentliches Ergebnis der MMT ist die Unterteilung in Emittenten und Nutzer einer Währung. Der Staat ist Schöpfer der Währung und die Zentralbank verwaltet das Zahlungssystem, quasi eine riesige Excel-Tabelle mit Kontoständen der Banken. Ähnlich wie wir Konten bei unseren Banken haben, führen die Banken ihre Konten bei der Zentralbank. So führt etwa die Federal Reserve Bank als fiskalischer Agent des Staates auch die Zahlungen der US-Regierung in Washington aus. Die Bundesregierung der USA erzeugt durch ihre Ausgaben neues Zentralbankgeld, welches sie später über Steuern wieder vernichtet. Dabei erhöht die Zentralbank einfach den Kontostand des Empfängers, wenn die Bundesregierung Geld ausgibt. Zahlt eine US-Amerikanerin Steuern, dann reduziert die Zentralbank das Konto der dazugehörigen Bank um den entsprechenden Betrag. Man kann sich das Ganze vorstellen wie im Kino. Hier werden Tickets verkauft und dann am Einlass wieder zurückgenommen. Die eingesammelten Tickets haben keinen »Wert« und landen im Papiermüll. Digitale Tickets, die per Handy vorgezeigt werden, verfallen einfach. Das Kino bekommt sie nicht zurück. So ist es auch bei den modernen Zentralbanken, wenn sie digitales Geld erzeugen. (…) Dieser Sichtweise zufolge sind Staatsschulden schlecht, denn sie führen dazu, dass irgendwann andere Länder für diese Staatsverschuldungen zahlen müssen. Dabei wird übergangen, dass die EZB das Ausfallrisiko der Staatsanleihen der Eurozonenländer, unabhängig von den Ratingagenturen, auf null setzten könnte – wenn sie denn wollte. Das Ausfallrisiko ist also immer schon eine politische Variable, keine »fiskalische«. Das gleiche gilt übrigens für die Zinsen der EZB, die ebenfalls eine Steuervariable sind und kein »Marktergebnis«. (…) Es ist wissenschaftlich nicht belegt, dass willkürliche Referenzwerte, wie etwa die anvisierte Obergrenze einer Staatsverschuldung von 60 Prozent des BIPs, irgendeinen positiven Effekt auf eine Gesellschaft haben. Auch die Zahlen der Defizite bei den Maastricht-Regeln und der Schuldenbremse sind willkürlich. Die Alternative zu einer technokratischen Steuerung besteht in der Ausrichtung an Kennzahlen wie etwa der Arbeitslosenquote. Wenn wir Bürgerinnen und Bürger haben, die arbeiten wollen, aber keinen Arbeitsplatz finden, warum soll der Staat dann nicht einfach seine Ausgaben erhöhen und diese Menschen beschäftigen? Unsere Gesellschaft hat schließlich viele Defizite und es gibt einiges zu tun. Die Idee, dass die Bürgerinnen und Bürger gegenüber dem Staat Rechte und Pflichten haben, ist zentral. Der Staat hat diese Rechte wiederum durchzusetzen. Das Recht auf Bildung erfordert etwa, dass in Deutschland Schulen und andere Bildungseinrichtungen vom Staat bezahlt werden und größtenteils kostenfrei zugänglich sind. Neben fundamentalen Rechten wie dem Recht auf körperliche Unversehrtheit garantiert der Staat aber auch das Recht auf Gesundheitsversorgung, Rente, eine heile Umwelt und vieles weitere. Auch ökonomische Rechte zählen dazu, wie das Recht auf einen Arbeitsplatz, das in der allgemeinen Erklärung der Menschenrechte verankert ist. (…) Ein besseres Gesundheitssystem, das einer Notsituation wie der Corona-Pandemie gewachsen wäre, ließe sich durch eine Erhöhung der Staatsausgaben und Ressourcen realisieren: Krankenhäuser könnten mehr Betten einrichten und mehr Personal zu besseren Löhnen einstellen. Auch eine sichere Rente ließe sich verwirklichen, wenn der Staat die staatlichen Renten erhöhen und ineffiziente Programme wie die Riester-Rente zurücknehmen würde. Und die EZB könnte für die Zahlungsfähigkeit der Eurozonenländer garantieren, so dass niemand mehr Angst vor einem Crash haben müsste. (…) Erst wenn wir beginnen, die verfügbaren Ressourcen so einzusetzen, dass sie das Gemeinwohl und nicht die Profite der Unternehmen und ihrer Lobbyisten steigern, erleben wir eine Neuausrichtung unserer Wirtschaftspolitik…“ Artikel von Dirk Ehnts vom 3. Dezember 2020 bei Jacobin externer Link – vereinfacht gesagt, dient Geld demnach ausschließlich dem Gemeinwohlinteresse. Z.B. wäre danach die Finanzierung eines BGE kein Problem. Die EZB schafft einfach das dafür notwendige Geld. Fertig. Wichtig ist nur, dass das Geld ausgeben wird und nicht wie z.B. beim Bargeld irgendwo gehortet wird. Man kann auch sagen: Dass das bisher vorherrschende Verständnis von Schulden ausschließlich auf dem Grundsatz basiert, dass Schulden immer ein (vermögender) Gläubiger gegenübersteht, der am Geldverleihen verdient und dadurch Macht ausübt – was aber gar nicht sein muss… Siehe dazu:

    • Moderne Monetäre Theorie: Gelddrucken bis zur Vollbeschäftigung?
      „Der Modernen Monetären Theorie (MMT) scheint die Quadratur des kapitalistischen Kreises geglückt. Vollbeschäftigung, Sozialstaat, Wirtschaftswachstum und die ökologische Wende – all dies sei nur eine Frage der expansiven Geldpolitik, so die zentrale These der MMT. Dieser neokeynesianischen, in der sozialistischen Linken der Vereinigten Staaten sehr populären Geldtheorie zufolge können Regierungen, die ihre Währung kontrollieren, die Staatsausgaben frei erhöhen, ohne sich um Defizite sorgen zu müsse. Denn sie können jederzeit genug Geld drucken, um ihre Staatsschulden in ihrer Währung abzuzahlen. Inflation sei dieser Theorie zufolge so lange kein Problem, wie die Ökonomie nicht an natürliche Wachstumsgrenzen stoße oder es ungenutzte ökonomische Kapazitäten gebe, wie etwa Arbeitslosigkeit. Gelddrucken bis zur Vollbeschäftigung – darauf zielt diese nachfrageorientierte Wirtschaftsstrategie ab. Zumeist verweisen Befürworter der MMT auf die expansive Geldpolitik der US-Notenbank Fed, die 2007 bis 2009 und 2020 mit Billionenbeträgen die strauchelnden Finanzmärkte stützte. Da die als »Quantitative Lockerungen« bezeichnete Gelddruckerei anscheinend keine Inflationsschübe nach sich zog, will die MMT diese Krisenmaßnahmen gewissermaßen zur Leitlinie links-sozialdemokratischer Wirtschaftspolitik erheben. Durch expansive Geldpolitik soll das Angebot der Ware Geld so lange erhöht werden, bis eben die Nachfrage gedeckt sei, bis die Arbeitslosigkeit verschwunden ist und die Wirtschaft ordentlich brummt. Ignoriert wird dabei der Zusammenhang zwischen den quantitativen Lockerungen und dem Wachstum des aufgeblähten spätkapitalistischen Finanzsektors. Die Gelddruckerei der Fed (wie die der Europäischen Zentralbank) führte sehr wohl zu einer Inflation – zur Inflation der Wertpapierpreise auf den Finanzmärkten, die gerade während des diesjährigen Pauperisierungsschubs in den USA neue Rekorde aufstellten. Zudem wandeln sich die Notenbanken zu Sondermülldeponien des Finanzsystems, da sie im Verlauf ihrer billionenschweren »Lockerungsübungen« schlicht den ganzen Finanzmarktschrott aufkaufen, der die Finanzmärkte destabilisiert. Die Folge: Die Bilanzsumme der Fed ist von rund 877 Milliarden Dollar 2008 auf rund 7,2 Billionen im November 2020 angeschwollen. Bei der EZB verhält es sich ähnlich…“ Artikel von Tomasz Konicz vom 28. Dezember 2020 in neues Deutschland online externer Link – tatsächlich wird die MMT oft als Allerweltslösung betrachtet. Doch so, wie eine wachsende Geldmenge keine Arbeitslosigkeit beseitigt, ist diese auch nicht dafür verantwortlich. So erzeugte die oben erwähnte extrem gewachsene Bilanzsumme der Zentralbank in den USA auch nicht zufällig bisher keine Inflation. Zu dieser Annahme kommt Konicz nur mit einer bestimmten Interpretation. Steigende Börsenwerte als „Inflation der Wertpapierpreise“ (Finanzmarktschrott) zu bezeichnen, macht jedoch deutlich, wo die Problematik liegt: Denn (nicht nur) die Anleger verstehen ihren höheren Börsenwert ja als Wertsteigerung und nicht als Entwertung. Deshalb reduziert sich ein denkbarer linker Ansatz zur MMT nur darauf, dass zu wenig Geld kein Argument für soziale Sparmaßnahmen sind (aber auch kein Argument für Verzicht auf Umverteilung). Einfach deshalb nicht, weil ja immer mehr Geld „gedruckt“ wird und trotzdem die Armut wächst…
  •  Die „Schwarze Null“ ist Geschichte. Aber hat sie eine Zukunft?
    „Zum ersten Mal seit sieben Jahren wird der deutsche Staat 2020 wieder ein Jahr mit einem Haushaltsdefizit abschließen, und zwar mit dem mit Abstand größten Defizit aller Zeiten. Auch 2021 ist allein im Bundeshaushalt mit einem hohen zwei- oder sogar dreistelligen Milliardendefizit zu rechnen. Die Schuldenquote des Gesamtstaates dürfte nächstes Jahr ein neues Rekordniveau erreichen. Rote Zahlen, so weit das Auge reicht. Bleibt die „Schwarze Null“ also eine bloße Episode, die besonderen Umständen wie einem langen Exportboom und einem historisch niedrigen Zinsniveau zu verdanken war, aber keine bleibenden Auswirkungen auf die öffentlichen Finanzen hinterlässt? Oder markiert sie einen grundlegenden Einschnitt in der Geschichte der deutschen Staatsfinanzen, der auch über die Corona-Krise hinaus wirksam bleiben wird? Die Antwort auf diese Frage wird nicht allein davon abhängen, wie tief der von der Pandemie ausgelöste Wirtschaftseinbruch ausfällt und wie groß die als Reaktion geschnürten Rettungspakete noch werden. Mindestens ebenso wichtig ist, wie sehr die „Schwarze Null“ mittlerweile zu den fiskalpolitischen Grundkoordinaten der Bundesrepublik zählt. Ist sie bereits so tief verankert, dass sie selbst angesichts der schwersten Wirtschaftskrise der Nachkriegszeit nicht dauerhaft infrage gestellt wird? Oder war sie auch schon vor Corona angreifbar geworden und erlebt jetzt ihr überfälliges Ende? (…) Anders als die Großen Koalitionen der Jahre ab 2013 wird die kommende Bundesregierung den Haushalt nicht mit einer Finanzpolitik der ruhigen Hand ausgleichen können. Stattdessen würde sie politisch schmerzhafte Maßnahmen auf der Einnahmen- oder der Ausgabenseite ergreifen müssen, um einem erneuten Überschuss näherzukommen. Paradoxerweise könnte es einer Bundesregierung, an der CDU/CSU beteiligt sind, dabei leichter fallen, auf solche Maßnahmen zu verzichten. Denn es ist leicht ausrechenbar, auf welch fundamentalen Widerstand der Opposition ein linkes Regierungsbündnis stoßen würde, das einen dauerhaften Bruch mit der Politik der „Schwarzen Null“ vollziehen würde. Die Union, die ja gewissermaßen das politische Copyright an diesem Symbol hält, könnte hingegen mit viel größerer Glaubwürdigkeit dafür eintreten, dass weitere Defizite schlicht notwendig seien. Die Erfahrungen anderer Länder mit Haushaltsüberschüssen scheinen keine eindeutige Antwort auf die Frage zu bieten, ob Krisen eher den Abschied von Überschusspolitik einleiten oder ob sie diese sogar stärken. Für beide Konstellationen lassen sich Beispiele finden. (…) Dabei kann die Corona-Krise sowohl als Rechtfertigung für den Abschied von der „Schwarzen Null“ verwendet werden als auch für deren Neubelebung. Sicher ist nur: Wer auch immer sich durchsetzt, wird hinterher behaupten, Corona belege die Richtigkeit der eigenen Strategie.“ Artikel von Lukas Haffert vom 20. November 2020 bei der Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) externer Link
  • Schuldenbremse ausgebremst. Die politische Debatte über Sinn und Unsinn einer Schuldengrenze
    „Bis zur Corona-Krise galt in Deutschland eine „Schwarze Null“ als Staatsräson. (…) Das Coronavirus verbreitete sich in der EU zu einem ungünstigen Zeitpunkt. (…) Die Bundesregierung pumpte mehr Geld in die eigene Wirtschaft als alle anderen EU-Staaten zusammen. Damit drohten sich die wirtschaftlichen Unterschiede in Europa weiter zu verstärken, wie schon nach der Finanzkrise von 2008. Um dies zu verhindern, setzten Deutschland und Frankreich mit der „Initiative zur wirtschaftlichen Erholung Europas nach der Krise“ ein entschiedenes Zeichen der Solidarität. (…)Auf Widerstand stieß allerdings bei einigen Regierungen auch die Vorstellung von Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron und Bundeskanzlerin Angela Merkel, einen Großteil des Geldes des Wiederaufbaus als Zuschüsse zu gewähren, die nicht zurückgezahlt werden müssen. Gegenwehr kam vor allem von jenen Staaten, die als die „geizigen Vier“ von sich reden machten. Österreich, Dänemark, Niederlande und Schweden sind allesamt Nettozahler in der EU, sie zahlen also in den Haushalt mehr ein als sie herausbekommen. Die „geizigen Vier“ verlangten, dass die Hilfen vor allem als Kredite gewährt werden sollten. Später stieß zu dieser Gruppe, die vor allem „ökonomische Länderinteressen“ eint, noch Finnland hinzu. (…) Wegen des neuartigen Coronavirus setzte die Bundesregierung die Schuldenbremse für 2020 und 2021 aus, wie es das Grundgesetz in einer „außergewöhnlichen Notsituation“ erlaubt (Artikel 115 GG). Niemand müsse sich aber deswegen um die Stabilität des Landes sorgen, so der Ökonom Jens Südekum: Der Anteil der Schulden an der Wirtschaftsleistung bleibe auch dann im internationalen Vergleich gering. Und selbst Lars Feld, Vorsitzender der Wirtschaftsweisen und seines Zeichens ausgewiesener Anhänger der Schuldenbremse, sprach von einer „enormen Unsicherheit, ob der Aufschwung hält“, weshalb man durchaus von einer „fortgesetzten Notsituation“ sprechen könne. Die Bundesregierung ihrerseits will von 2022 bis 2024 die Schuldenbremse wieder einhalten. Eine „Schwarze Null“ werde man aber wohl nicht vor 2025 erreichen, so der CDU-Haushaltsexperte Eckhardt Rehberg. Die Folgen der Krise werden noch lange im Haushalt zu spüren sein. Greift die Schuldenbremse, dann dürfte der Bund von 2022 bis 2024 nur zwischen fünf und zehn Milliarden Euro an Krediten aufnehmen. Es ist fraglich, ob das ausreichen wird. Damit sind nach der nächsten Bundestagswahl Diskussionen über Steuererhöhungen oder Ausgabenkürzungen vorprogrammiert. Wer beides verhindern will, müsste die Schuldenbremse des Grundgesetzes lockern. Das Thema ist noch lange nicht vom Tisch.“ Artikel von Caspar Dohmen vom 20. November 2020 bei der Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) externer Link – Vor allem bestätigt sich nun, dass es idiotisch war, eine bestimmte wirtschaftpolitische Ideologie ins Grundgesetz zu verankern. Ob Schulden notwendig sind und in welcher Höhe, hängt maßgeblich von den anderen Grundrechten als Staatszielbestimmung, insbesondere der Sozialstaatsverpflichtung aus Art. 1 i.V.m. Art. 20 GG, ab.
  • [Infrastrukturatlas] „Schwarze Null“: Republik auf Verschleiß – Die Infrastruktur in Deutschland ist überaltert 
    „Wer denkt beim Thema Infrastruktur schon ans Planschen? Dabei zeigt sich gerade bei Schwimmbädern, dass in Deutschland seit mehr als zwei Jahrzehnten die Infrastruktur auf Verschleiß gefahren wird. (…) Die finanzielle Hauptlast der gesellschaftlichen Infrastruktur tragen Städte und Gemeinden. Gerade Schwimmbäder stehen daher häufig im Fokus der Politik, wenn Kommunen Geld sparen müssen. Die Schuldenlast vieler Städte und Gemeinden ist hoch. Andernorts, in wohlhabenden Kommunen, wurden dagegen neue Bäder gebaut oder umfassend saniert. Es geht also in Sachen Infrastruktur auch um Gerechtigkeit, sozialen Ausgleich und gleiche Lebensbedingungen in »abgehängten« Regionen. Hochgerechnet ergibt der von den Kommunen geschätzte Investitionsrückstand für das Jahr 2019 ein Gesamtvolumen von rund 147 Milliarden Euro, heißt es im »Infrastrukturatlas«, den die Heinrich-Böll-Stiftung am Mittwoch in Berlin veröffentlichte. Ein Ost-West-Thema ist das laut der Studie übrigens nicht. So hat die Infrastruktur besonders in Nordrhein-Westfalen gelitten. (…) In der Bevölkerung habe ein Umdenken eingesetzt, hat die den Grünen nahestehende Böll-Stiftung festgestellt. 80 Prozent interessierten sich nun für das Thema Infrastruktur und wollten keine Republik auf Verschleiß. Bis zur Coronakrise galt Infrastruktur noch als sperriges Thema, eher was für Spezialisten. Im Zuge der Covid-19-Pandemie war plötzlich ersichtlich, wie sehr alle im privaten und öffentlichen Leben auf Infrastrukturen angewiesen sind. Doch selbst wenn die Politik daraus bald die richtigen Schlüsse ziehen sollte und erheblich in eine verbesserte Infrastruktur investierte, erwarten die Experten der Böll-Stiftung keine rasche Verbesserung der Lage. So werde die Ertüchtigung der Eisenbahn, die in normalen Zeiten bereits überlastet ist, erst in zehn, zwanzig Jahren wirklich zu erfahren sein.“ Beitrag von Hermannus Pfeiffer bei neues Deutschland vom 11. November 2020 externer Link zum Infrastrukturatlas bei der Heinrich-Böll-Stiftung externer Link
  • Schuldenbremse und „Schwarze Null“: Wem sie nützten und wer sie begründete 
    Die Festlegung, öffentliche Schulden dürften den Wert von 60 Prozent des Bruttoinlandprodukts nicht überschreiten, ist in der EU in der Krise über Bord geworfen worden. Vergleichbares erfolgte für die in Deutschland beschlossene, nochmals schärfere Regel einer „Schwarzen Null“, wonach Einnahmen und Ausgaben grundsätzlich ohne Einnahmen aus Krediten auszugleichen sind. Doch die Aufgabe dieser Schuldenbremsen erfolgt nur auf Zeit – verbunden mit der Verpflichtung zur baldigen Rückführung der Staatsschuld. Diese Regelungen können und sollten verschwinden – denn es handelte sich von Beginn an nicht um wissenschaftlich gestützte Erkenntnisse, sondern um Zahlen-Märchen mit dem Ziel, bisheriges Eigentum und Aufgabengebiete des Staates der privaten Verwertung zugänglich zu machen. (…) Die Schuldenbremse, also die Begrenzung der Verschuldung der öffentlichen Hand, hat die unangenehme Eigenschaft, den Staat an Aktivitäten gerade dann zu hindern, wenn es am nötigsten ist: Wenn das Bruttoinlandsprodukt sinkt, steigt automatisch der Anteil der öffentlichen Schuld – auch wenn sich die Staatsausgaben und das Ausgabenverhalten nicht ändern. Die Schuldenbremse zwingt Staaten zur Einschränkung der Aufgabenerfüllung gerade dann, wenn die Wirtschaft stagniert oder gar rückläufig ist, wie aktuell in der Wirtschafts- und Corona-Krise. (…) Dass auch nur irgendjemand, der ein wenig von Produktion, Preisen, Kreditzinsen und ungewissen Einnahmen versteht, daran glauben konnte, es gäbe seit Jahrhunderten eine natürliche und immer gleiche Grenze der Staatsverschuldung, gehört zu den großen Erstaunlichkeiten in der Geschichte der menschlichen Verirrungen.“ Artikel von Jürgen Bönig am 9. Oktober 2020 bei der Lunapark21 externer Link
  • … vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern – Moralisierung der Verschuldung
    „Im Gegensatz zu anderen Ländern wird in Deutschland die Verschuldung mit dem persönlichen Versagen im calvinistischen Sinn gleichgesetzt, weil wegen der nicht gelebten protestantischen Askese und mangelndem Fleiß und Arbeitseifer der gepriesene wirtschaftliche Wohlstand nicht erreicht wurde. Der religiöse Überbau bedeutet auch, dass nach den fetten Jahren, in denen man in Saus und Braus gelebt hat, magere Jahre folgen müssen, indem man sich wohl verhalten und Reue zeigen muss. Für das Kreditaufnehmen gibt es das Wort Schuldenmachen, das das Wort Schuld beinhaltet und so auf etwas moralisch höchst Verwerfliches schließen lässt. Die Sache mit der sprachhistorischen Moralisierung scheint sich bei uns derzeit zum Drama zu entwickeln. Auch auf der staatlichen Ebene soll ganz im neoliberalen Sinn auch politisch die Priorität auf den Abbau der Schulden gelegt werden und man kreierte eine Schuldenbremse, um Staatsschulden abzubauen, obwohl Schulden machen die wirtschaftliche Entwicklung erst ankurbelt. Das Ergebnis der Schuldenbremsung sind die ausgebliebenen Investitionen in der gesamten Infrastruktur, wo kaum noch etwas funktioniert. Begleitet wird das noch mit dem irren Argument der neoliberalen Vordenker, dass wir unseren Kindern möglichst keine Schulden hinterlassen dürfen. Allerdings hinterlassen wir ihnen heute die ganzen Mängel bei Straßen, Streckennetzen, Bahnhöfe, S-Bahn-Ausstattung, Schulgebäuden, Lehrern, Kita-Erziehern, medizinische Notaufnahmen, Breitbandnetze, Tankstellennetze für Elektroautos, Gebäudesanierungen zum Klimaschutz, vernünftige Mindestrenten und die flächendeckende Ausstattung mit Internet… (…) Mithilfe des Kredits können sich die Kapitalisten dabei sowohl als Kreditgeber als auch als Kreditnehmer bereichern. Wenn aber die Angehörigen der subalternen, also der niedrigen Klassen zu Kreditnehmern werden, werden Teile ihrer Einkommen dann als Zinszahlungen kapitalisiert und es bilden sich Ausbeutungsverhältnisse. Der Kredit kann somit den einen noch reicher machen und den anderen nie. Es sei denn, er wird auch zum Kapitalisten. Aber das ist dann wieder eine moralische Frage des einzelnen Menschen?“ Beitrag vom 18. November 2019 vom und beim Gewerkschaftsforum Dortmund externer Link
  • Wirtschaftsforscher fordern Ende der »Schwarzen Null« 
    „Ein rasches Ende der »Schwarzen Null« fordern führende deutsche Wirtschaftsforschungsinstitute. In seltener Einmütigkeit raten die Institute Bundesfinanzminister Olaf Scholz (SPD) davon ab, an einem ausgeglichenen Bundeshaushalt um jeden Preis festzuhalten. Die Politik solle stattdessen die öffentlichen Haushalte »mit der Konjunktur atmen lassen«. Die Forscher begründen ihre Absage an Scholz mit der Konjunktur in Deutschland, die sich im laufenden Jahr weiter abgekühlt habe. »In beiden Quartalen des Sommerhalbjahrs dürfte die Wirtschaftsleistung geschrumpft sein«, sagte Claus Michelsen, Konjunkturpolitiker am gastgebenden Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW), auf einer Pressekonferenz am Mittwoch in Berlin. Für das vierte Quartal erwarten die Forscher trotz des Weihnachtsgeschäfts nur ein Mini-Wachstum. Die Prognose des gewerkschaftsnahen Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK), das nicht mehr an der Gemeinschaftsdiagnose beteiligt ist, fällt sogar noch pessimistischer aus. Industrie und exportorientierte Wirtschaftszweige befinden sich bereits in einer Rezession. Da jene vor allem im Westen arbeiten, sind die Erwartungen für Ostdeutschland freundlicher. (…) Beim Klimaschutz raten die Wirtschaftswissenschaftler zu einem CO2-Preis, der alle weiteren Maßnahmen überflüssig mache. Das jetzige Klein-Klein in der Klimapolitik führe lediglich zu »Rent-Seeking«, starke Lobbygruppen profitierten übermäßig von staatlichen Subventionen. Umsonst gebe es den Klimaschutz allerdings nicht. Erforderlich sei ein »Konsumverzicht der heutigen Generationen« zugunsten von Investitionen in emissionsärmere Energieerzeugung und Verkehrsinfrastruktur. Die Gemeinschaftsdiagnose wird zwei Mal jährlich erarbeitet vom ifo Institut in München, IfW in Kiel, IWH in Halle, RWI in Essen und vom DIW. Sie dient der »Orientierung« der Bundesregierung.“ Beitrag von Hermannus Pfeiffer bei neues Deutschland online vom 2. Oktober 2019 externer Link, siehe dazu:

    • Gemeinschaftsdiagnose Herbst 2019: Konjunktur kühlt weiter ab – Industrie in der Rezession
      „… Die führenden deutschen Wirtschaftsforschungsinstitute haben ihre Konjunkturprognose für Deutschland deutlich nach unten korrigiert. Waren sie im Frühjahr noch von einer Zunahme des Bruttoinlandsprodukts von 0,8% im Jahr 2019 ausgegangen, erwarten sie nun nur noch 0,5%. Gründe für die schwache Entwicklung sind die nachlassende weltweite Nachfrage nach Investitionsgütern, auf deren Export die deutsche Wirtschaft spezialisiert ist, politische Unsicherheit und strukturelle Veränderungen in der Automobilindustrie. Die Finanzpolitik stützt hingegen die gesamtwirtschaftliche Expansion. Für das kommende Jahr senken die Konjunkturforscher ebenfalls ihre Prognose auf 1,1% nach noch 1,8% im Frühjahr. „Die deutsche Industrie befindet sich in einer Rezession, die inzwischen auch auf die unternehmensnahen Dienstleister durchschlägt“, sagt Claus Michelsen, Leiter der Abteilung Konjunkturpolitik des gastgebenden Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin). „Dass die Wirtschaft überhaupt noch expandiert, ist vor allem auf die anhaltende Kauflaune der privaten Haushalte zurückzuführen, die von den guten Lohnabschlüssen, Steuererleichterungen und Ausweitungen staatlicher Transfers gestützt wird.“ (…) Der Beschäftigungsaufbau verliert als Folge der konjunkturellen Abkühlung an Fahrt; die Industrie hat jüngst sogar Stellen abgebaut. Hingegen stellen Dienstleister und die Bauwirtschaft weiter ein. In diesem Jahr rechnen die Institute daher mit einem Beschäftigungsaufbau von 380.000 Stellen. In den kommenden beiden Jahren werden voraussichtlich nur noch 120.000 beziehungsweise 160.000 neue reguläre Arbeitsverhältnisse geschaffen. Die Arbeitslosenquote steigt im Jahr 2020 auf 5,1% von 5,0% im Jahr 2019 und dürfte dann im Jahr 2021 wieder auf 4,9% sinken. Die Verbraucherpreise werden weiterhin nur moderat um 1,4% im Jahr 2019, 1,5% im Jahr 2020 und 1,6% im Jahr 2021 zulegen. Die Überschüsse des Staats sind in diesem Jahr mit voraussichtlich rund 50 Mrd. Euro noch beträchtlich. Allerdings schmelzen sie bis zum Jahr 2021 auf rund 4 Mrd. Euro…“ DIW-Pressemitteilung vom 2. Oktober 2019 externer Link
  • Warum ein Ende der Schuldenbremse die Rechten empfindlich schwächt 
    „Die Kampagne »International solidarisch: Schluss mit Austerität« fordert, die »Schuldenbremse« abzuschaffen. Für die Hamburgische Verfassung hat sie hat sich Volksinitiative »Schuldenbremse streichen« angemeldet und sammelt Unterschriften dafür. Wir dokumentieren einen Auszug aus einer Broschüre der Kampagne. (…) Der Kampf gegen die Austeritätspolitik ist ein wesentlicher Schritt zur progressiven Lösung der aktuellen globalen Krise. Er ist insofern auch ein entscheidender Faktor für den Erhalt und die Ausweitung demokratischer Verhältnisse. Der Einzug der AfD in den Bundestag und eine immer skrupelloser auftretende gesellschaftliche Rechte offenbaren die verheerenden Auswirkungen der neoliberalen Politik für demokratische Prozesse und wie sehr eine rigide Austerität und sozialer Kahlschlag allerlei reaktionären Kräften in die Hände spielen. Schon das rechtliche »Schuldenabbaugebot« im Grundgesetz und in zahlreichen Landesverfassungen beschneidet die Handlungsspielräume des Bundestags und der Landesparlamente signifikant. Dringend notwendige parlamentarische Initiativen zur Reduzierung des Investitionsstaus in Bezug auf öffentliche Gebäude, Einrichtungen und Dienstleistungen werden so behindert. Die über 100 Milliarden Euro, die für einen sinnvollen Ausbau der öffentlichen Daseinsvorsorge mindestens nötig wären, sind ohne Steuererhöhungen mit einem Haushalt, der auf die Einhaltung der Schuldenbremse verpflichtet ist, kaum zu haben. Eine Diskussion darüber soll schon im Keim erstickt werden. Wenig überraschend und auch politisch gewollt, entwickelt eine Gesellschaft, die jahrelang von parlamentarischer Belanglosigkeit, fehlenden öffentlichen Investitionen, Kürzungen und Privatisierungen traktiert ist, den für antidemokratische Tendenzen empfänglichen Nährboden. (…) Die Überwindung der Austerität eröffnet den Raum für neue demokratische Perspektiven und damit auch die bewusste Neugestaltung der ökonomischen Verhältnisse. Diese (Re-) Politisierung und damit Revitalisierung der Öffentlichkeit ist notwendige Bedingung für die Verwirklichung von Demokratie, Frieden und sozialer Gerechtigkeit. Sie ist das wirksamste Mittel gegen AfD, Trump und Co.“ Dokumentation vom 19. September 2019 bei Blickpunkt WiSo externer Link

    • Anm.: Klingt wie Aufstehen. Eine Krise des Kapitalismus wird nicht mehr als Chance für dessen linke Überwindung gesehen, sondern dessen Stabilisierung nur noch als Mittel gegen Rechts (obwohl sich gerade die Rechten z.B. in Polen um eine Schuldenbremse überhaupt nicht kümmern). Übrigens wird die Schuldenbremse im Grundgesetz – nicht nur hier – selbst nach herkömmlichen Rechtsverständnis völlig falsch interpretiert. Im Falle einer ernsthaften Bedrohung der Demokratie gilt sie nicht. Hier fordert nach Art. 115 GG eine „außergewöhnliche Notsituation“ nur eine Mehrheitsbeschluss des Bundestags. Dies gilt auch speziell im Verhältnis zu Art. 1 und zum Sozialstaatsgebot. Weshalb im Falle z.B. von noch mehr Flüchtlingen trotz Schuldenbremse notfalls verfassungskonform auch ungebremste Schulden gemacht werden dürfen. Klar sollte doch sein: Selbst wenn das BVerfG die Schuldenbremse abnickte, meinte es damit doch nicht, dass sich hiernach nun alle Grundrechte zu richten haben. Die Linken sollten deshalb (auch bei der Klimaproblematik) lieber die aktuellen Ausreden „Schuldenbremse“ als verfassungsfeindlich, als praktisch nicht relevant betrachten, statt hier ein Mittel gegen den Kampf gegen Rechts zu konstruieren. Aber wie heute gesagt – nicht nur die NDS hoffen auf einen reformierten Kapitalismus als Rettung vor rechter Gefahr…
  • Deutschland: neue Kritik an Schuldenbremse 
    „Die Debatte über die Schuldenbremse wird endlich auch in Deutschland geführt. Zehn Jahre nach ihrer Verankerung im Grundgesetz und dem Siegeszug durch Europa wird die Schuldenbremse von einer zunehmenden Anzahl von ÖkonomInnen infrage gestellt. Dabei war die Schuldenbremse nie wissenschaftlich zu begründen, sondern immer ein politisches Projekt. (…) „Doubts grow over Germany’s balanced budget rule“ – mit dieser Schlagzeile in der „Financial Times“ vom 28. April 2019 erreichte die Debatte um die Problematik der Schuldenbremse auch die internationalen Medien. Das Interessante daran: Neben einer Gruppe von ÖkonomInnen, die die Schuldenbremse bereits vor zehn Jahren skeptisch beurteilte, treten nun auch ehemalige BefürworterInnen gegen die Schuldenbremse auf, allen voran Michael Hüther, der Direktor des Instituts der deutschen Wirtschaft Köln. (…)Es ist erfreulich, dass die Schuldenbremse und ihre negativen Wirkungen endlich breit diskutiert werden. Es bedarf dringend eines Mehr an Investitionen, denn Generationengerechtigkeit heißt nicht, marode Schulen, Straßen und Brücken zu vererben. Auch auf europäischer Ebene gibt es zarte Pflänzchen wie den Juncker-Plan („EFSI“) zur Stabilisierung der Investitionen. Es wurde in der Debatte in Deutschland darauf hingewiesen, dass die Fokussierung allein auf die Schuldenbremse zu ausbleibenden Investitionen führen könnte. Daher muss der Fokus auf Investitionen gerichtet werden, ohne diese gegen den Sozialstaat auszuspielen.“ Beitrag von Klemens Himpele vom 20. Mai 2019 beim A&Wblog externer Link
  • Das verlorene Jahrzehnt – die (neue) Debatte um die Schuldenbremse 
    „Die Debatte über die Schuldenbremse wird endlich geführt – das Argument, dass man diese auf Grund geänderter Bedingungen nun angehen müsse, ist aber falsch. Die Schuldenbremse war ökonomisch nie zu begründen und immer ein politisches Projekt. Bis zur Großen Finanzreform des Jahres 1969 orientierte sich das Staatsschuldenrecht in Deutschland (West) an Artikel 87 der Weimarer Reichsverfassung – die Kreditaufnahme war zur Finanzierung von Staatsausgaben nicht zulässig (…). Mit der Großen Finanzreform des Jahres 1969 wurden Kredite neben den Steuereinnahmen zu einem regulären Instrument zur Finanzierung von Staatsaufgaben, namentlich der Investitionen. Sinnigerweise hatte sich die Haushaltspolitik am gesamtwirtschaftlichen Gleichgewicht zu orientieren – eine Zielsetzung, die heute kaum noch eine Rolle spielt (ein ausgeglichener Außenhandelssaldo etwa wird seit Jahren nicht einmal mehr eingefordert). Damit war letztlich auch eine aktive Konjunkturpolitik gefragt. Die Kreditaufnahme des Staates war dabei investitionsgebunden, die »Goldene Regel« schrieb vor, dass Schulden nur in Höhe staatlicher Investitionen aufgenommen werden durften. Einer jeden Neuverschuldung stand daher immer ein Zugang an Vermögenswerten gegenüber. Erst diese Regelung ermöglichte den Ausbau öffentlicher Infrastruktur in den 1970er Jahren. Gemeinsam mit den ebenfalls 1969 im Grundgesetz verankerten Gemeinschaftsaufgaben (von Bund und Ländern) wurde so die politische und ökonomische Grundlage für den Ausbau des Sozial- und Wohlfahrtsstaates gelegt. Münch und Meerwaldt (2002) nennen dies »das herausragende Beispiel für den kooperativen Föderalismus in der Bundesrepublik Deutschland.« Nur durch die Bundesstaatsreformen des Jahres 1969 war die Bildungsreform der 1970er Jahre (beispielsweise Hochschulausbau, BAföG) möglich; die Große Finanzreform mit den Gemeinschaftsaufgaben ist das zentral politische Instrument für die Durchsetzung einer öffentlichen Investitionspolitik. (…) Mit den beiden Föderalismusreformen 2006 und 2009 wurde der Grundbestand des kooperativen Föderalismus beendet und es begann ein verlorenes Jahrzehnt für die Bundesrepublik Deutschland. Durch die Übertragung der Kompetenzen im Bildungsbereich an die Länder wurden gemeinsame politische Projekte erschwert (es beginnt die Zeit der Umgehungsstrategien über diverse Pakte im Hochschulbereich) und faktische Blockadeoptionen geschaffen. Andererseits wurde die »Goldene Regel« (die bereits durch die Maastricht-Kriterien eingeschränkt war) außer Kraft gesetzt…“ Beitrag von Klemens Himpele vom 9. Mai 2019 bei Blickpunkt WiSo externer Link
  • Debatte um die Schuldenbremse: Eine Reform ist überfällig! 
    „Marode Straßen, langsames Internet, fehlende Bildungsausgaben: 10 Jahre nach der Einführung der Schuldenbremse leidet die Bundesrepublik flächendeckend unter den fehlenden Investitionen. Damit Deutschland zukunftsfähig bleiben kann, muss die Schuldenbremse abgeschafft und durch eine nachhaltige Finanzpolitik ersetzt werden, fordert der DGB-klartext. (…) Allein die Kommunen sehen im Bereich Bildung einen Investitionsrückstand in Höhe von fast 50 Mrd. Euro. Bei Straßenbau und Verkehrsinfrastruktur sind es ca. 40 Mrd. Euro (…) Trotzdem, und obwohl Kreditzinsen so niedrig sind wie nie, wird weiter gespart. Der Staat macht sogar Überschüsse und drückt die Staatsverschuldung unnötig unter jede festgesetzte Obergrenze. Denn selbst wenn man die in den EU-Regeln willkürlich festgelegte Schuldenstandsgrenze von 60 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) für sinnvoll hält, gilt: Deutschland könnte diesen Wert auch mit deutlichen Mehrausgaben erreichen und halten, weil die Wirtschaft, also das BIP, ja auch wächst. (…) Damit Deutschland zukunftsfähig bleibt, muss die Schuldenbremse durch eine nachhaltige Finanzpolitik ersetzt werden. Bislang setzt der Staat nur auf eine passive Zukunftsvorsorge in Form von Schuldentilgung. Wir brauchen eine aktive Zukunftsvorsorge durch öffentliche Investitionen, um Wohlstand und Arbeitsplätze zu sichern. Außerdem muss der Staat wieder mehr Personal einstellen. Die Kürzungen der vergangenen Jahre – beispielsweise in den Baubehörden – sind die heutige Ursache für Probleme und Verzögerungen bei Investitionsvorhaben…“ DGB-Klartext 16/2019 vom 26. April 2019 externer Link

Siehe zum Thema im LabourNet:

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=147365
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