70 Jahre Grundgesetz – 70 Jahre Verfassungswirklichkeit: eine kritische Bilanz – Über die lange Tradition, Freiheitsrechte im Namen von Freiheit und Sicherheit zu demontieren

"Eine Demokratie haben wir schon lange nicht mehr - Abschied von einer Illusion" von Wolfgang Koschnik erschien am 1. April als Buch beim Westend Verlag „… Vor 70 Jahren verkündete der Parlamentarische Rat in einer feierlichen Sitzung – nach Genehmigung durch die westlichen Besatzungsmächte – das Grundgesetz, das mit Ablauf des 23. Mai 1949 in Kraft trat. Das ist die Geburtsstunde der Bundesrepublik Deutschland. Dieses historische Ereignis wird zu Recht gefeiert – haben wir doch ein Grundgesetz, um das uns viele in der Welt beneiden. Es war eine historisch angemessene Konsequenz aus den leidvollen Menschheitserfahrungen mit dem Faschismus und zwei verheerenden Weltkriegen – wenn auch von heute aus betrachtet mit einigen Defiziten und späteren „Verstümmelungen“, wie es der Schriftsteller Navid Kermani ausgedrückt hat. Auch wir sind anlässlich des 70. Jahrestags hier zusammengekommen. Allerdings nicht so sehr, um zu jubeln (das überlassen wir anderen), sondern um kritische Bilanz zu ziehen und uns zentrale Fragen zu stellen: Wie es in den vergangenen Jahrzehnten um Achtung und Qualität der Grundrechte und des demokratischen Rechtsstaates bestellt war, welche dunklen Kapitel der gesellschaftlichen Verdrängung entrissen werden müssten und wie es heute um Demokratie, Freiheitsrechte und Rechtsstaat bestellt ist bzw. künftig bestellt sein wird. Kurz: Inwieweit Verfassung und Verfassungswirklichkeit übereinstimmen oder aber auseinanderklaffen. Sie ahnen es schon: Das wird keine Festrede…“ Rolf Gössner geht in seiner am 3. Oktober 2019 bei Telepolis veröffentlichten Rede (1. Teil) externer Link auf der GEW-Fachtagung zum Thema „Autoritäre Wende? Demokratie und Grundrechte auf dem Prüfstand“ im DGB-Haus in Frankfurt am Main kritisch auf die folgenden dunklen Kapital deutscher Verfassungsrechtsgeschichte ein: „1. Erstes dunkles Kapitel: Kommunistenverfolgung der 1950er/60er Jahre (…) 2. Zweites dunkles Kapitel: Berufsverbote-Politik der 1970er und 80er Jahre (…) 3. Drittes dunkles Kapitel: „Deutscher Herbst“ im Ausnahmezustand (…) 4. Die 1980er Jahre: politisch-soziale Bewegungen unter Terrorverdacht (…) 5. Volkszählungsurteil: Geburtsstunde des „informationellen Selbstbestimmungsrechts“…“ Siehe nun:

  • [Teil 2] Szenenwechsel: Von der alten in die neue Bundesrepublik New
    Im ersten Teil haben wir uns mit der alten Bundesrepublik mit ihren nicht aufgearbeiteten dunklen Grundrechtsverletzungskapiteln und ihren auch lichten Momenten in Sachen Grundrechtserweiterung. Jetzt widmen wir uns der Zeit nach der sog. Wende seit den 1990er Jahren bis heute. Auch in diesen drei Jahrzehnten sind weitere düstere Kapitel zu beklagen. Statt einer sinnvollen Erweiterung musste das ehemals westdeutsche, nun gesamtdeutsche Grundgesetz sogleich gehörig Federn lassen – der Schriftsteller Navid Kermani sprach von „Entstellung“ und „Verstümmelung“. Nur zwei Jahre nach der sog. Wende erlebten wir eines der schwersten Verbrechen in der Geschichte der Republik: den Solinger Brand- und Mordanschlag von 1993, bei dem fünf junge Angehörige der Familie Genç ums Leben kamen. Nur drei Tage vor diesem rassistischen Anschlag hatte – nach einer verantwortungslosen Angstdebatte um „Asylantenflut“ und „Überfremdung“ – eine große Koalition aus CDU, FDP und SPD das Grundrecht auf Asyl demontiert. (…) Dieses Jahr, im März 2019, jährte sich der völkerrechtswidrige Nato-Luftkrieg gegen Jugoslawien zum 20. Mal – noch ein „Jubiläum“ der besonderen Art. Es war das erste Mal, dass die (seinerzeit rot-grün regierte) Bundesrepublik mit ihrer Bundeswehr an einem Angriffskrieg teilnahm – befeuert durch Falschinformationen gegenüber einer überwiegend pazifistisch eingestellten Öffentlichkeit, ohne UN-Mandat und damit unter Bruch des Völkerrechts und unter Verletzung des Grundgesetzes. (…) Die Bundesrepublik und ihre Bundeswehr waren und sind auch an weiteren völkerrechtswidrigen Angriffskriegen und Kriegsverbrechen beteiligt. Entgegen den Vorgaben des Grundgesetzes in Art. 87a („Der Bund stellt Streitkräfte zur Verteidigung auf“) ist die Bundeswehr längst von einer Verteidigungs- zu einer weltweit agierenden Interventionsarmee mutiert. (…) Einen großen, ja epochalen Einschnitt in Menschenrechte und Völkerrecht erlebten wir mit den Anschlägen in den USA vom 11.09.2001 und den staatlichen Reaktionen hierauf. Diese lösten weltweit eine Gewaltwelle aus, die zu Krieg und Terror, Folter und Elend führte – also zu gravierenden Menschen- und Völkerrechtsverletzungen. Und zwar nicht so sehr durch die zahllosen Terrorakte, die wir seitdem erlebten, sondern (so eigentümlich es klingen mag) in weit größerem Maße durch die Art und Weise der Terrorbekämpfung – eines katastrophalen „Kriegs gegen den Terror“, der zu teils dramatischen Einschränkungen der Bürger- und Freiheitsrechte in westlichen Demokratien führte und zu wahren Verwüstungen im Nahen und Mittleren Osten. In der Bundesrepublik bescherte uns der seit 9/11 ausufernde Antiterrorkampf die umfangreichsten Sicherheitsgesetze, die in der bundesdeutschen Rechtsgeschichte jemals auf einen Streich verabschiedet worden sind (2001 ff.). (…) Inzwischen wächst aber längst zusammen, was nicht zusammen gehört, werden wichtige Lehren aus der deutschen Geschichte weitgehend entsorgt – mit der Folge einer zunehmenden Machtkonzentration der Sicherheitsbehörden, die sich immer schwerer demokratisch kontrollieren lassen. (…) Ich empfinde es mehr als schockierend, mit welcher ideologischen Verbissenheit dieser Inlandsgeheimdienst, neben vielen anderen linksorientierten Personen und antifaschistischen Gruppen, mich und mein Engagement als Anwalt, Journalist und Bürgerrechtler jahrzehntelang beobachtet hatte – während sich zeitgleich auf der anderen Seite Neonazis, rechte Gewalt und NSU-Terror fast unbehelligt entwickeln, ihre Blutspur durch die Republik ziehen und zehn Menschen ermorden konnten. Hinzu kommen jene fast 200 Menschen, die seit 1990 von anderen rassistischen und neonazistischen Tätern umgebracht worden sind. (…) Wann endlich wird sich die Erkenntnis durchsetzen, dass systematische Gefahren für Menschen und Menschenrechte auch von staatlicher Seite, vom staatlichen Gewaltapparat drohen? (…) Grund- und Freiheitsrechte müssen nicht nur gefeiert und geschützt, sondern Tag für Tag neu erkämpft werden. (…) Ein Kampf für soziale und ökonomische Gerechtigkeit, für soziale Sicherheit und Prävention, für faire Integration und Bildung, für ein Ende der Waffenexporte an Diktaturen und in Krisen- und Kriegsgebiete, für Rüstungskonversion und zivile Konfliktprävention, für eine humane Flüchtlingspolitik und konsequente Umwelt-, Klima- und Friedenspolitik…“ 70 Jahre Grundgesetz – 70 Jahre Verfassungswirklichkeit: eine kritische Bilanz – Teil 2 von Rolf Gössner am 06. Oktober 2019 bei telepolis externer Link
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