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Tunesien

Regierungsumbildung nach Mord an Oppositionspolitiker, Generalstreik, Demos & Gegendemonstrationen. Unterdessen schreitet die „Normalisierung“ mit IWF & globalem Kapital voran…

Artikel von Bernard Schmid vom 27.2.2013

Regierungsumbildung nach Mord an Oppositionspolitiker, Generalstreik, Demos & Gegendemonstrationen. Unterdessen schreitet die „Normalisierung“ mit IWF & globalem Kapital voran…  

Die Lage in Tunesien „beruhigt“ sich ebenso wenig wie in Ägypten. In beiden Ländern bekommen die islamistischen Regierungsparteien die Lage nicht in den Griff, haben aus Sicht vieler Menschen in keiner Weise zur Verbesserung der Lebenssituation beigetragen, und rufen durch ihre repressiven Vorhaben und Praktiken breite Widerstände hervor. Durch den Verzicht auf wichtige Regierungsämter versucht die tunesische Haupt-Regierungspartei En-Nahdha nun, die Situation halbwegs in den Griff zu bekommen. Gleichzeitig wurden nun erste Verhaftungen von Verdächtigen im Mordfall Chokri Belaïd bekannt gegeben. Unterdessen tut sich Negatives hinter den Kulissen des Getöses im Parteienstreit: So wurde der Gesetzentwurf zur Schuldenstreichung sang- & klanglos zurückgezogen. Ein wichtiger Rückschritt wurde auf diese Weise vollzogen

Zum ersten Mal seit dem 26. Januar 1978 riefen die tunesischen Gewerkschaften am 08. Februar dieses Jahres zum Generalstreik auf. Dies hatte der Vorstand des Gewerkschaftsdachverbands UGTT (Union générale tunisienne du travail – Allgemeine tunesische Werktätigen-Union) kurzfristig zwei Tage zuvor beschlossen. Der Streikaufruf wurde äußerst massiv befolgt.

Alle Flugverbindungen von und nach Tunis mussten am Tag des Ausstands annulliert werden, der Flughafen wurde geschlossen. Die öffentlichen Verkehrsmittel blieben in den Stunden, in denen die Menschen gewöhnlich zur Arbeit fahren, ungewöhnlich leer. Gleichzeitig versammelten sich in der tunesischen Hauptstadt Zehntausende, vielleicht Hunderttausende Menschen. Die französische Nachrichtenagentur AFP sprach von „über 50.000“ Demonstrierenden. Die tunesische Armee wiederum, die mit der „Aufrechterhaltung der Ordnung“ beauftragt worden war, sprach ihrerseits von „1,4 Millionen“, was von vielen Oppositionellen triumphierend übernommen wurde – die Zahl weist allerdings ein gewisses (erhebliches) Glaubwürdigkeitsproblem auf, Tunis hat 750.000 und das gesamte Land 11 Millionen Einwohner/innen…

Bei dem Streik und den Protestzügen handelte sich um eine Reaktion der Opposition und der Gewerkschaften auf die Ermordung von Chokri Belaïd, des Rechtsanwalts und führenden Politikers der „Volksfront“ oder – besser übersetzt – „Front der Unterklassen“ (französisch Front populaire, arabisch dschaba schaabiya). Bei ihr handelt es sich um ein Bündnis der Linken und radikalen Linken, das aus insgesamt elf Organisationen zusammengesetzt ist und derzeit die drittstärke politische Kraft in Tunesien bildet.

Chokri Belaïd war am 06. Februar 13 früh um kurz vor 8 Uhr vor seiner Haustür, durch die Türen seines Autos hindurch, erschossen worden. Nach bisherigem Kenntnisstand wurden vier Kugeln auf ihn abgefeuert. Zwei davon trafen ihn tödlich, in den Kopf und ins Herz. Die Identität der Mörder war zunächst unbekannt, doch gab die Opposition und ein Gutteil der Presse die politische Verantwortung entweder den Salafisten – dem extremen Flügel des politischen Islam, welcher in Rechtsopposition zur amtierenden Regierung steht, aber Verbindungen in einen Flügel der Regierungspartei En-Nahdha hinein unterhält – oder aber den „Ligen zum Schutz der Revolution“ (LPR).

Letztere bilden ein Kampagnenorgan, das aus Teilen der Basis der islamistischen Regierungspartei En-Nahdha besteht und in den letzten vier Monaten wiederholt durch Störungen von Versammlungen oppositioneller politischer Kräfte oder von Gewerkschaften auffiel. Am 18. Oktober 2012 gab es dabei den ersten Toten, den lokalen Parteiverantwortlichen der Partei Nidaa Tounès („Appell Tunesiens“) in der südtunesischen Stadt Tatouine. Nidaa Tounès ist eine Partei, die derzeit zur wichtigsten Herausforderin der Regierungspartei En-Nahdha wurde und mit einiger Wahrscheinlichkeit die nächsten Wahlen gewinnen durfte. Sie umfasst ziemliche unterschiedliche Kräfte, von rechten Bürgerlichen bis hin zu Feministinnen, die durch eine gemeinsame Opposition gegen die Islamisten zusammengehalten werden. Die Partei weist in ihren Reihen frühere Anhänger und Funktionäre der  Ben Ali-Diktatur auf, besitzt aber auch einen Gewerkschaftsflügel. Ihr örtlicher Vorsitzender in Tataouine, Lotfi Nakdh, starb am 18. Oktober bei einer Schlägerei mit LPR-Mitgliedern, die sich vor dem Parteibüro versammelt hatten.

Am 04. Dezember attackierten die LPR dann eine Versammlung der UGTT vor ihrem Sitz in Tunis. Beinahe wäre es deswegen bereits im Dezember, am 13. Des Monats, zu einem Generalstreik gekommen. Er wurde jedoch infolge von Vereinbarungen zwischen der Regierung und der UGTT (die eine Untersuchung der Vorfälle beinhalten) zunächst abgesagt.

Regierungsumbildung

Im Februar wurde es jedoch nunmehr ernst. Die Regierungspartei En-Nahdha verspürte den starken Druck, der nun auf ihr lastete, da ihr Umfeld in breiten Kreisen des Mordes an dem Oppositionspolitiker Belaïd angeklagt wurde. Der amtierende Premierminister Hamadi Jebali – gleichzeitig Generalsekretär der islamistischen Partei – kündigte noch am 06. Februar 13 (dem Tag des Mordes) an, er werde den Rücktritt der Regierung einreichen und selbige durch ein „Technokratenkabinett“ ohne Parteizugehörigkeit ablösen. Dieses solle in Erwartung bald abzuhaltender Neuwahlen amtieren.

Ursprünglich – noch im Spätherbst/Winter  – waren Neuwahlen zum tunesischen Parlament bereits für den 13. Juni 13 angekündigt worden, doch war dieser Wahltermin de facto schon wieder aufgegeben worden. Die Verfassungsgebende Versammlung, die im Oktober 2011 gewählt wurde und zugleich als provisorisches Parlament fungiert, hätte theoretisch überhaupt nur für ein Jahr amtieren soll. Doch ihr Mandat wurde faktisch immer wieder verlängert, und ein Ende ist noch nicht genau abzusehen, da die Ausarbeitung der neuen Verfassung nicht vorankommt. Oft werden die Arbeiten durch En-Nahdha blockiert, da die Partei immer wieder versucht, ihre ideologischen Obsessionen im Verfassungstext zu verankern, bevor sie Rückzieher vollführt; so wollten Teile von En-Nahdha ursprünglich einen Bezug auf die Scharia in den Text aufnehmen, bevor die Parteispitze dieses Vorhaben am 25. März 2012 offiziell definitiv aufgab. Zugleich wurde eine auch schon seit Juli 2012 angekündigt Umbildung der provisorischen Regierung immer wieder blockiert, u.a. weil erhebliche Teile von En-Nahdha die Schlüsselministerien (Inneres, Verteidigung, Justiz…) nicht aufgeben wollten, obwohl sie zugleich um eine Verbreiterung der Basis des Regierungsbasis und die Aufnahme weiterer Parteien bemüht waren. Bislang regiert En-Nahdha mit zwei kleineren Formationen, der sozialdemokratischen Partei Ettakatol und dem bürgerlichen „Kongress für die Republik“ (CPR).

Das Vorhaben von Hamadi Jebali stieß jedoch in seiner eigenen Partei zunächst auf heftige Widerstände. Dort berief man sich auf die „demokratische Legitimität“ ihrer Mehrheit an Sitzen – einer relativen Mehrheit für En-Nahdha, und absoluten für die Regierungskoalition „Troika“ – infolge der Wahl vom 23. Oktober 2011, bei der sich die Wähler/innen allerdings offiziell nur über ein einjähriges Mandat auszusprechen hatte. Und man berief sich darauf, dass „die Krise politisch ist und deswegen politische Kräfte in der Regierung sitzen müssen“. Gleichzeitig fanden aber auch schlicht personelle Machtkämpfe innerhalb der Partei statt. Hamada Jebali warf schließlich am  19. Februar 13 die Flinte ins Korn und kündigte seinen Rücktritt an.

Mobilisierung der Islamisten

En-Nahdha mobilisierte gleichzeitig an zwei aufeinanderfolgenden Samstagen, am 09. Februar (mit rund 3.000 Menschen) und am 16. Februar (mit rund 12. bis 15.000 Teilnehmer/innen) und konnte einen Teil ihrer Basis mobilisieren, u.a. mit einer Argumentation gegen die „französische Einmischung“. Die Steilvorlage dafür hatte ihr der rechtssozialdemokratische Innenminister Manuel Valls mit hemdsärmeligen Sprüchen über „den islamischen Faschismus“, der „überall zunehme“, und über Tunesien allgemein (das Land sei „kein Vorbild“) geliefert. Mit ihrer realen Mobilisierung blieb En-Nahdha allerdings hinter jener der Opposition und der Gewerkschaften ganz erheblich zurück.

Seit dem 22. Februar scheint En-Nahdha nun auf einen neuen Kurs gegangen zu sein, der ihr die Stabilisierung der politischen Situation ermöglichen soll. Die Partei ernannte den bisherigen Innenminister Ali Laareyedh zu ihrem Kandidaten für den Posten des Premierministers. Dies wurde durch Staatspräsident Moncef Marzouki (CPR) akzeptiert, welcher ihn mit der Regierungsbildung beauftragte. Laareyedh – er war unter dem alten Regime 14 Jahre lang aus politischen Gründen inhaftiert, davon zehn Jahre in Einzelhaft, und wurde selbst gefoltert – zählt wie viele frühere politische Gefangene zum „offeneren“ Flügel von En-Nahdha. Er selbst wird nicht zum ideologisch bornierten Teil gerechnet. Allerdings trägt er als Innenminister seit Ende 2011 die politische Verantwortung dafür, dass die Staatsmacht die Salafisten weitgehend gewähren ließ, ebenso wie für die polizeiliche Repression etwa gegen den regionalen Generalstreik in Siliana von Ende November 12 (wo erstmals Schrotmunition eingesetzt wurde). Es ist durchaus möglich, dass die Polizei – von der relevante Teile aus der Ben Ali-Diktatur stammen, und nie ausgetauscht wurden – zum Teil seiner Kontrolle entglitt, doch ist keine öffentliche Kritik von ihm als politisch verantwortlichem Minister gegenüber den Polizeikräften bekannt. Die Toleranz gegenüber Salafisten, die Alkoholverkäufer, Studierende oder Lehrende an manchen Universitäten (wie Al-Janouba) oder Künstler terrorisierten, erklärt sich wiederum nicht so sehr aus Laarayedhs eigenen Positionen: Er dürfte keine Sympathien für diese Strömung hegen. Allerdings war er darum bemüht, als „große Integrationsfigur“ auf alle Flügel von En-Nahdha – von denen einer zu den Salafisten hin strebt – zu wirken. Dieser Flexibilität, wenn nicht diesem Opportunismus, verdankt er sicherlich neben anderen Faktoren seinen Aufstieg an die Spitze.

Symbolische Garantien

Am Abend des 22. Februar 13, an dem seine Ernennung bekannt wurde, bemühte Laarayedh sich nun erkennbar um eine „integrierende“ Wirkung gegenüber anderen politischen Kräften, außerhalb des politischen Spektrums. Er erklärte in einer ersten Stellungnahme, er wolle „der Premierminister aller Tunesierinnen und Tunesier“ sein, und fügte hinzu: „eingedenk der Tatsache, dass Männer und Frauen gleiche Rechte und Pflichten haben“. Durch diese Erinnerung an die Gleichheit vor dem Gesetz (die in Tunesien seit 1957 festgeschrieben ist, womit es unter allen arabischsprachigen Ländern einen weiten Vorsprung hatte) gab er den politischen Kräften, die den ideologischen Obsessionen der Islamisten fern stehen, eine symbolische Garantieerklärung ab.

In der letzten Februarwoche  2013 wurden dann erste Verhaftungen in der Mordsache Chokri Belaïd erklärt. Zunächst wurde zu Wochenbeginn erklärt, es gebe drei Verdächtige, die Algerier seien – was kurz darauf dahingehen korrigiert wurde, sie seien lediglich über die algerisch-tunesische Grenze eingereist, könnten aber sehr gut auch Tunesier sein. Am 25. Februar wurde präzisiert, es gebe einen Hauptverdächtigen: Der mutmaßliche Todesschütze sei ein 31jähriger Hersteller von Aluminiummöbeln aus Kram, einem ärmeren Vorort von Tunis. Es stellte sich schnell heraus, dass die genannte Person auch Mitglied der o.g. „Ligen“ (LPR) war. Am darauffolgenden Tag, dem 26. Februar, wurde allerdings präzisiert, er sei doch nicht der mutmaßliche Todesschütze – sondern der Motorradfahrer, der das Fluchtfahrzeug gesteuert habe, während der verbleibende mutmaßliche Schütze flüchtig sei. Der Noch-Innenminister und künftige Premier Laareyedh erklärte dazu, die insgesamt vier Tatverdächtigen gehörten einer „extremen religiösen Strömung“ an, die „mit dem, was man als salafistische Richtung bezeichnet, in Verbindung“ stehe.

Dadurch gibt Laareyedh der Opposition scheinbare Garantien dafür, dass die Verbindungen zwischen dem Regierungslager und den Salafisten wirklich gekappt sind. Tatsächlich wirkt es so, als sei nun zwischen der Hauptströmung von En-Nahdha und den Salafisten das Tischtuch wirklich zerschnitten. Sicherlich finden im islamistischen Lager rundherum auch Richtungs- und Machtkämpfe statt. Unklar ist, wie in dem Zusammenhang die Ankündigung des bisherigen landesweiten Vorsitzenden der LPR – Mohammed Maalej – vom 16. Februar 13 zu bewerten ist, er trete von diesem Amt zurück, um eine (eigene) politische Partei zu gründen. Bis dahin wurden die LPR in weiten Kreisen eher als schlagender Arm von En-Nahdha eingestuft.

Das globale Kapital zufrieden…

Zweifellos forderten die führenden Großmächte – USA und Europäische Union – von En-Nahdha, deren Führung der Regierungsgeschäfte sie grundsätzlich befürworten, eine Verbreiterung der politischen Basis des Kabinetts. Um nämlich die „nötigen wirtschaftlichen Reformen“, mit einer stärkeren Legitimität ausgestattet, besser durchsetzen zu können. Zwar gab die „Republikanische Partei“ von Najib Chebi – eine zwischen Mitte-Links- und Mitte-Rechts-Spektrum stehende, säkulare Partei – bekannt, sie werde dem künftigen Kabinett nicht beitreten. Bei Abschluss dieses Artikels (27.02.) wurde dennoch mit der möglichen Aufnahme neuer politischer Kräfte in das Kabinett gerechnet, auch wenn mit der „Republikanischen Partei“ (Hizb Dschumhuri) der wichtigste umworbene Partner nun abgesprungen ist. Am selben Tag gab En-Nahdha bekannt, die Partei werde nun auf die Schlüsselministerien (Inneres, Äußeres, Justiz…) in der künftigen Regierung zugunsten von „unabhängigen“ Persönlichkeiten „verzichten“. An ihrer Weigerung, dies zu tun, waren bislang alle Pläne zur Regierungsumbildung seit Juli 12 immer wieder gescheitert.

Gleichzeitig tun sich, hinter den Kulissen des Parteienstreits, Dinge mit zu erwartenden gravierenden Konsequenzen. Dort wird nämlich längst an der wirtschaftlichen „Normalisierung“ Tunesiens gearbeitet, also an der Zurückdrängung der Konsequenzen der Revolution auf wirtschaftlichem und sozialem Gebiet. Auf Drängen starker sozialer Bewegung war im Juli 2012 ein Gesetzentwurf in der Verfassungsgebenden Versammlung aufgelegt worden (vgl. http://nawaat.org/portail/2013/02/26/la-dette-exterieure-de-la-tunisie-1970-2011-a-qui-profite-le-crime/ externer Link   ), dessen Gegenstand eine Infragestellung der Auslandsschulden Tunesiens und eine einseitige Streichung „illegitimer“ Schulden (d.h. solcher Staatschulden, die auf Kreditvergaben aus dem Ausland an die alte Diktatur ohne erkennbaren Nutzen für die Bevölkerung zurückgehen) war.

Am 18. Februar 13 wurde nun bekannt, dass der Gesetzestext vom zuständigen Staatssekretär Slim Besbes still und heimlich zurückgezogen worden ist (vgl. http://www.radioexpressfm.com/podcast/show/slim-besbes-le-projet-de-loi-d-audit-de-la-dette-a-ete-retire-de-l-anc externer Link ). Ein wichtiges Anliegen kritischer Bewegungen wurde dadurch zunichte gemacht. Den IWF wird es freuen. Die „Bärtigen“ verstehen sich eben nicht nur auf Ideologie, sondern auch auf wirtschaftsliberale „Realpolitik“.

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=28026
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