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Vom Tahrir-Platz in Bagdad zu den Ölfeldern von Basra: Alles, was der Irak bisher nicht ist: Ohne religiöse Trennlinien, solidarisch, demokratisch…

Bagdad und der ganze Irak erleben neue Proteste - Polizei erschießt zwei Menschen„… Es ist wichtig zu verstehen, dass alle Mobilisierungen vom 1. bis zum 25. Oktober komplett spontan entstanden sind. Es gibt keine einzige Partei, die teilgenommen hat. Die Leute haben keine Alternative. Sie sind an einem Punkt angelangt, sich zu fragen, was sie noch tun können. Es gibt derzeit keine Organisation oder Partei, die für die Massen überzeugend wäre. Deswegen ist es spontan. Man schreibt was auf Facebook mit einem Hashtag und wo man ist, und so kann man spontan Leute mobilisieren. [Wie hat sich der erfolgreiche Massenprotest vom 25. Oktober auf die Gesellschaft ausgewirkt?] Es haben sich daraufhin weitere Schichten dem Protest angeschlossen: Das Besondere am Protest zwei Tage später, also am  27. Oktober, war die Teilnahme der Mittelschicht. Zunächst hatte die Mittelschicht nicht teilgenommen aus Angst, dass der Staat den Angestellten ihre Gehälter streicht. Einen Tag später haben die Oberschüler*innen ihre Teilnahme angekündigt. Wir können also nicht so tun, als wären die Schüler*innen jetzt von einem anderen Stern, es ist ja gerade ihre Zukunft, die hier entschieden wird. Das Besondere ist aber, dass die Schüler*innen wirklich in der Funktion als Schüler*innen teilnehmen, sie tragen sogar ihre Schulkleidung. Ihr erster Protesttag war ein Schultag. Es war Sonntag, und da ist normalerweise Unterricht. Das gleiche ist der Fall mit den Student*innen. Auch die Lehrenden sind dabei und haben die Student*innen angespornt, an den Protesten teilzunehmen. Das ist Solidarität über alle gesellschaftlichen Teile hinweg. Der ganze Irak braucht eine Lösung, nicht nur die arbeitende bzw. arbeitslose Klasse...“ – so antwortet Sami Adnan von der Initiative «Workers against Sectarianism» auf die Fragen von Ansar Jassim in dem Interview „Vom Libanon bis zum Irak, von Bagdad nach Beirut… es ist eine Revolution“ am 12. November 2019 bei der Rosa Luxemburg Stiftung externer Link zur Situation und Entwicklung vor allem im Irak, aber auch im Libanon. Siehe dazu einen Beitrag aus den Ölfeldern des Südens, eine Reportage über die Aktiven auf dem zentralen Platz in Bagdad, einen Aufruf von amnesty international in einem konkreten Fall, eine „Erinnerung“ an – wieder einmal – bundesdeutsches Mitwirken an der Repression und den Hinweis auf den bisher letzten unserer zahlreichen Beiträge über die Massenproteste im Irak:

  • „Irak: Ölfelder bestreikt – Internet abgeschaltet“ am 11. November 2019 bei Klasse gegen Klasse externer Link zu den Widerstandsaktionen vor allem im Süden des Irak unter anderem: „Im Irak gab es bis zum 1. Oktober 2019 zwei rote Linien: die eine, die sich Religion nennt und die andere, die sich Tradition nennt. Diese zwei roten Linien schützten die korrupte Elite des Landes. Niemand durfte diese roten Linien überqueren. Wer Religion und Tradition hinterfragte, beging einen Frevel. Die Regierung zu kritisieren, glich einem Sakrileg. Die Religion ist nach wie vor stark in der Politik vernetzt und ermahnt immer wieder die Massen, die herrschende Autorität anzuerkennen. Traditionalist*innen versuchen immer wieder, den Personenkult um politische Anführer zu verfestigen. Doch diese roten Linien gibt es seit dem 1. Oktober nicht mehr. (…) So gingen die Proteste im Irak auch dieses Wochenende weiter. Im Verlauf der letzten Woche  verschärfte sich die Situation sogar. Grund dafür ist Basra. Oder vielmehr, die Arbeiter*innen von Basra. Denn sie bestreikten im Zuge der landesweiten Proteste den wichtigen Hafen der Stadt sowie die Ölfelder, die über etwa zwei Drittel der irakischen Ölquellen verfügen. Auch hier gingen Polizei und Milizen der Parlamentsparteien mit rigoroser Brutalität gegen die Streikenden vor, versuchten Streikbrecher*innen in die Raffinerien zu schleusen. Hunderte Verletzte und mehrere getötete Menschen waren die Folge. Die Krankenhäuser Basras konnten aufgrund der hohen Zahl an Verletzten die Versorgung der Menschen nicht mehr aufrecht erhalten. Einige der Toten waren aufgrund mangelnder Medikamente und fehlendem Personal für Operationen zu beklagen. Um auf die Situation aufmerksam zu machen, appellierten die Krankenhausführungen an die Vereinten Nationen. Ohne großen Erfolg. Unmittelbar nach den Streiks kam es dann zum abrupten Ausfall des Internets. Diese Situation hält bis heute an, mit kurzen Unterbrechungen...“
  • „Aktivistin verschleppt“ am 08. November 2019 bei ai externer Link meldet (und ruft auf): “… Am 2. November wurde die irakische Aktivistin und Sanitäterin Saba Mahdawi gegen 23:20 Uhr von bewaffneten und maskierten Männern verschleppt. Sie war gerade auf dem Heimweg vom Tahrir-Platz in Bagdad. Die Familienangehörigen der Aktivistin haben die Entführung bei den lokalen Behörden angezeigt, aber bis heute haben die Ermittlungen kein Ergebnis erbracht. Die irakische Polizei und andere Sicherheitsbehörden, die an den Ermittlungen beteiligt sind, haben der Familie mitgeteilt, dass der Verbleib von Saba Mahdawi nach wie ungeklärt sei und über die Identität der Täter keine Informationen vorläge…“
  • „Deutschlands Interventionsbilanz (I)“ am 13. November 2019 bei German Foreign Policy externer Link zur bundesdeutschen Unterstützung für die Repression im Irak: „… Lag der erste Schwerpunkt des Bundeswehreinsatzes im Irak auf der Ausrüstung und Ausbildung der Peschmerga im Norden des Landes und der zweite auf der Stationierung der Tornados für Aufklärungsflüge im Krieg gegen den IS, so haben deutsche Militärs am 11. August 2018 ein weiteres Ausbildungsprogramm begonnen; es wird auf dem Stützpunkt Taji bei Bagdad realisiert und richtet sich an die offiziellen irakischen Streitkräfte. Im Zentrum stehen die militärische Logistik, ABC-Abwehr und das Pionierwesen; darüber hinaus beraten deutsche Offiziere irakische Militärs im Verteidigungsministerium in Bagdad. Die Zahl der in Taji stationierten deutschen Soldaten wurde zuletzt mit um die 60 angegeben. Dabei ist lediglich ein Teil der Truppe mit dem eigentlichen Ziel des Einsatzes, der militärischen Ausbildung irakischer Kameraden, befasst. Die Mehrheit kümmert sich um die Sicherheit der deutschen Militärausbilder. Aus Schutzgründen bewegen sich die deutschen Soldaten, wie berichtet wird, auch auf dem Stützpunkt Taji selbst „nur in schwer gepanzerten Jeeps“. Während die Bundeswehr mit der Ausbildung irakischer Militärs in Taji und Erbil beschäftigt ist, dauern die Massenproteste im Irak unvermindert an. Sie richten sich, wie Beobachter konstatieren, längst nicht mehr nur gegen einzelne Missstände, sondern gegen das gesamte „politische System …, das nach dem Sturz von Saddam Hussein und dem Einmarsch der Amerikaner errichtet wurde“.  Im Zentrum steht dabei die grassierende Korruption, die, wie Experten schon im vergangenen Jahr schrieben, durch das „Quotensystem“ gefördert werde.  Das Quotensystem verteilt staatliche Ämter nach ethnischer oder religiöser Zugehörigkeit anstatt nach Kompetenz. Die Bundesregierung hat mit ihrer Unterstützung für die Kurdische Regionalregierung sowie für die Peschmerga zur Zementierung des verhassten Quotensystems beigetragen. Mit der Ausbildung irakischer Militärs auf dem Stützpunkt Taji wiederum trainieren deutsche Soldaten Einheiten, die grundsätzlich bei der Niederschlagung der Proteste zum Einsatz kommen können. Denn längst werden nicht mehr nur Polizisten, sondern auch Militärs gegen Demonstranten in Stellung gebracht. Inzwischen kamen bei der staatlichen Repression rund 320 Menschen zu Tode, 15.000 wurden verletzt, einige von ihnen schwer. Die Zahlen steigen täglich…“
Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=157212
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