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Wer den Austritt aus der EU bezahlt: Dieselben, die auch den Verbleib hätten bezahlen müssen

Grafik zum Brexit von Joachim Römer - wir danken!Aus den unendlich vielen Reaktionen auf das Ergebnis der britischen Volksbefragung zur EU Mitgliedschaft – Brexit eben – lassen sich zwei Hauptströmungen herauslesen. Zum einen all jene, die die Welt kurz vor dem Untergang sehen, weil die Europa-Idee akut gefährdet sei. Dass sie dabei die vertraglich definierte neoliberale EU und Europa selbstverständlich gleichsetzen, fällt ihnen meist nicht einmal auf. Zum anderen jene, die jetzt zum 1387. Mal ein sozialeres Europa fordern, mit ebenso vielen Chancen auf seine Verwirklichung wie bisher. Keine Hauptströmung, aber unter linken politischen Gruppierungen, wie auch unter linken GewerkschafterInnen – auch in Großbritannien – auch vorhanden, ist die Meinung, dies sei „einfach“ ein rebellischer Akt gegen die Diktatur des Kapitals gewesen. Die faschistischen Menschenjagden in England (wie sonst nur die Frontex im Mittelmeer) in den Tagen nach der Abstimmung sollten sie vielleicht nochmal in ihre Überlegungen einbeziehen… Die Frage beantworten, wie das Nötige zu machen wäre, also weder EU noch Nazionalstaat zu verteidigen, werden wir auch in diesem Beitrag vom 27. Juni 2016, einer kommentierten Materialsammlung von Helmut Weiss, nicht beantworten können. Aber wohl bestimmte Strömungen in den Reaktionen zur Kenntlichkeit bringen.

„Wer den Austritt aus der EU bezahlt: Dieselben, die auch den Verbleib hätten bezahlen müssen“ (Teil 1)

(Teil 2 folgt in der nächsten Woche: Aufstand der Arbeiterklasse oder Aufstand der Rechten? Oder: Beides?)

Wie der politische Rahmen auch aussieht: Mit einiger Wahrscheinlichkeit das unklügste Argument gegen das britische Referendum ist dennoch recht weit verbreitet – es hätten sich ja nur 72% der WählerInnen beteiligt. Mit anderen Worten: 6% mehr, als bei der Wahl des dubiosen Herrn Cameron. Wie viel mehr, als bei irgendwelchen EU-Wahlen, mag man erst gar nicht ausrechnen. „Forget the bullshit“ wie der vornehme Brite sagt.

„Die Linke war in der Brexit-Debatte nicht präsent“ von Peter Nowak am 26. Juni 2016 bei telepolis externer Link fasst diese Tendenzen so zusammen: „Fast 3 Millionen wollen nachträglich die Schwelle für eine Anerkennung des Brexit in einer Petition höherlegen

Mit großem, EU-typischen Charme, auch ein zweites Argument, das an gar nicht wenigen Stellen auftaucht: Das Referendum sei ja nicht bindend, man solle es einfach missachten. Was bestimmt traditionsbildend wäre: Abstimmung in Griechenland? Scheiß auf Euch und eure Meinung, die Banken brauchen ihre Knete. Abstimmung in Großbritannien: Ebenso? Jetzt hat man seit 70 Jahren Propaganda-getrommelt, die Wahl zwischen der einen oder anderen Partei wäre das allerdemokratischste überhaupt – und nun soll man nicht erst danach die Klappe halten, sondern schon dabei.

Referenden und Demokratie

„Brexit: Ist das ein OXI?“ von Moritz Warnke am 26. Juni 2016 bei der Zeitschrift Luxemburg externer Link unternimmt es, den politischen Vergleich der beiden Referenden zu versuchen und schreibt zunächst über die EU Befürworter: „Das Votum der Briten für einen Brexit ist ein weiterer Ausdruck einer sich vertiefenden Hegemoniekrise in Folge der Wirtschaftskrise 2008ff. Die Argumentation der Remain-Kampagne war auf ein Minimum reduziert: Die Versprechen aus den 1990ern von einer europäischen Idee, der europäischen Einigung oder einem historischen Friedensprojekt wurden gar nicht erst bemüht – stattdessen beschränkte man sich auf den ökonomischen Nutzen dieser EU“. Im Vergleich zu Griechenland also: „Es gib einen wichtigen Unterschied zu Griechenland: In Großbritannien war es vor allem ein Konflikt innerhalb des konservativen Lagers, wie wir ihn auch in Deutschland erleben. Auf der einen Seite ein konsequent neoliberal ausgerichtetes Lager für die EU, auf der anderen Seite ein konservativ-national-rassistisch orientiertes Lager gegen die EU. Die Linke als möglicher dritter Pol in dieser Auseinandersetzung fehlt – auch das kennen wir. Es war ganz überwiegend eine rechte Brexit-Mobilisierung, das Ergebnis ist deshalb ein Erfolg für die Rechte, ganz unabhängig davon, ob man von links für oder gegen den Brexit ist. Die Leave-Kampagne insgesamt ist ein Erfolg der Rechten, sie wäre es auch bei einer knappen Niederlage gewesen. Denn man kann das Ergebnis nicht ohne den ‚popularen‘ Prozess, die politische Artikulation der Leave-Kampagne denken. Die Ernüchterung, Verbitterung, der Unmut gegen den real existierenden Neoliberalismus in Großbritannien und die damit einhergehende Anti-Establishment-Stimmung wurden von rechts artikuliert: gegen „Brüssel“ und gegen Migranten bzw. „die Flüchtlingsströme der EU“. Das heißt jedoch keinesfalls, dass 51,9 Prozent der Briten Nationalisten oder Rassisten sind, aber wohl, dass die britische Rechte es geschafft hat, ihre Argumentationslinie zum dominanten Diskurs zu machen“. Man braucht weder das Argument, man hätte mit der Friedens-EU argumentieren können, noch das, wer alles keine Rassisten sind zu teilen, um diese Konstellation durchaus treffend beschrieben zu finden.

„Der erste Austritt“ am 24. Juni 2016 bei German Foreign Policy externer Link hat einen Schwerpunkt seiner Berichterstattung in den besonderen bundesdeutschen Gründen für das „Bedauern“ über das Ergebnis: „… Das gestrige Votum der britischen Bevölkerung für den EU-Austritt ihres Landes erschüttert die EU und die Pläne Berlins, den Staatenbund für die eigene Weltmachtpolitik zu nutzen. Laut aktuellem Stand haben sich bei einer Wahlbeteiligung von 72 Prozent annähernd 52 Prozent der britischen Wähler für den Abschied aus dem Bündnis ausgesprochen. Das Votum wiegt für Berlin nicht nur deshalb schwer, weil nun die zweitgrößte Volkswirtschaft nach Deutschland und eine herausragende militärische Macht die EU verlässt und damit für eine über das europäische Bündnis operierende Weltpolitik nicht mehr zur Verfügung steht. Darüber hinaus droht eine Kettenreaktion: Auch in anderen EU-Staaten wird die Forderung nach einem Referendum laut; die zunehmende Unbeliebtheit der EU in einer ganzen Reihe von Mitgliedsländern stärkt zentrifugale Kräfte. Die schwedische Außenministerin warnt explizit vor einem „Spill-over-Effekt“, der zum Beispiel zu einem schwedischen EU-Austritt führen könnte. In deutschen Medien wird die Forderung laut, das Referendum zu ignorieren und das britische Parlament für den Verbleib in der EU votieren zu lassen. Berlin leitet inzwischen erste Schritte ein, seine nationalen Positionen zu stärken – unabhängig von der EU…“

Gewerkschaften – so und so

„Brexit vote – EU must take action to improve workers‘ lives“ am 24. Juni 2016 beim ETUC externer Link ist die Stellungnahme des Europäischen Gewerkschaftsbundes zum britischen Referendum, dessen Ausgang bedauert wird – und die EU erneut aufgefordert, endlich mal sozial zu werden. Was, ohne es zu sagen, auch hier deutlich macht, dass schon zur Kenntnis genommen wird, dass es eher nicht die wohlhabenderen Schichten waren, die für Brexit gestimmt haben, woraus aber auch kein Zucken in Richtung kleines bisschen selbstkritischer Veränderung abgeleitet wird.

„Working people must not pay the price of leaving the EU, says TUC“ am 24. Juni 2016 beim TUC externer Link ist die Erklärung des Gewerkschaftsbundes zum Ergebnis des Referendums. Das Problem der Organisation dabei: Dass „working people“ den Preis für in der EU sein bezahlt hat, wurde von anderen zum Thema gemacht…

„Union movement will stand up for workers in wake of Brexit“ am 24. Juni 2016 bei der Dienstleistungsinternationalen UNI externer Link ist dieselbe – und letzte von durchaus noch einer ganzen Reihe möglicher zu dokumentieren – Gewerkschaftserklärung, die die Frage hervorruft, was eigentlich bisher getan wurde…

„Immer mehr Gewerkschaften unterstützen Brexit“ von Julius Jamal am 21. Juni 2016 bei der Freiheitsliebe externer Link worin die „andere Seite“ gewerkschaftlicher –und linker –  Stellungnahmen unter anderem so berichtet wird: „Die von der Linken und Gewerkschaftern durchgeführte Kampagne „Lexit“ externer Link positioniert sich somit nicht aus nationalistischen Motiven hinter einem Brexit, sondern aus einer antirassistischen und antineoliberalen Haltung. „Eine wichtige Grundhaltung für einen Austritt für alle Linken müssen Antirassismus und Willkommenskultur sein“ erklärt daher auch Judith Orr zu den Unterschieden in der Positionierung…

Gewerkschaften und Unternehmen: Nur so

„IG Metall bedauert Abstimmungsergebnis und fordert ein soziales Europa“ am 24. Juni 2016 externer Link erklärt als Reaktion auf das Ergebnis folgendes: „Vermeintlich einfache Antworten wie der Rückzug in den Nationalstaat sind für die IG Metall hingegen keine Lösung. „Europa kann nur als politische, soziale und ökonomische Einheit in einer globalen Welt Wohlstandsperspektiven für seine Bürger bieten“, ist Jörg Hofmann überzeugt. Es ist ein Wirtschaftsraum, der mit seinen 500 Millionen Bürgerinnen und Bürgern, die Voraussetzung bietet, dass Europa nicht zur verlängerten Werkbank einer finanzmarktgetriebenen globalen Plattformökonomie wird. Wenn Europa seine Innovationsführerschaft erhalten will, muss es die Potentiale und Qualifikationen seiner Menschen nutzen…“ Ein „sozialeres Europa“ durch verschärfte Ausbeutung zugunsten von Wirtschaftskriegen?

„Brexit trifft die Wirtschaft„ am 24. Juni 2016 beim BDI externer Link, worin es sehr IG Metall-mäßig heißt: „Der Schlüssel für Wachstum und Beschäftigung in Europa liege in der EU:Indem wir den europäischen Binnenmarkt weiter vertiefen – bei digitalen Dienstleistungen, auf dem Kapitalmarkt oder mit der Energieunion – werden die Vorteile der europäischen Idee greifbar.“ Zudem sei die europäische Investitionsoffensive weiter voranzutreiben…“

Anstatt der Linken für und gegen: Zum guten Schluss zwei Dinge, die kaum jemand behandelt

„Polnische Migranten in Großbritannien: Gehen oder bleiben?“ am 27. Juni 2016 bei CIO externer Link, worin zu diesem Problem, das nicht nur Menschen aus Polen betrifft, gesagt wird: „In den Internetforen polnischer Auswanderer werden schon am Tag nach dem Brexit-Votum Sorgen laut. „Mein Vermieter hat mir heute gesagt, dass er meinen Vertrag nicht über den Herbst hinaus verlängert“, schrieb ein Nutzer namens Marian. Eine Frau sorgt sich im Fall einer Rückkehr vor allem um ihre Kinder: „Die kennen nur die englische Schule und müssten in Polen bei Null anfangen.“ Enttäuschung klingt auch in einem anderen Kommentar an: „Wacht auf Leute, sie (die Briten) hassen uns. Wir haben zwei Jahre, um Kohle zu machen, Qualifikationen zu erwerben und dann in ein Land zurückzukehren, das uns wirklich braucht: Polen.

„Offene Fragen nach dem Brexit-Votum“ am 25. Juni 2016 bei der Titanic externer Link in einem Katalog, in dem auch die wichtigste Frage vertreten ist: „Wie kann die EU nach dem Brexit weiterhin ein friedenswahrender, wohlstandsbringender Abenteuerspielplatz für Deutschland bleiben, auf dem man schwache Hilfsempfängerstaaten nach Herzenslust erniedrigen und herumscheuchen kann?

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=100329
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