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Der Kampf geht weiter: Eine anarchosyndikalistische Sicht auf den Kampf gegen das neue Arbeitsgesetz

Frankreich 2016: Loi travail: non, merci!In Frankreich wüten seit drei Monaten vielfältige und kreative Proteste gegen das „Loi Travail“. Diese sogenannte Arbeitsmarktreform wird von vielen als französische Variante der Agenda 2010 bezeichnet. Ein Gespräch zwischen Xavier und Valerie über das Was, Wie und Warum der Proteste und die Positionierung des französischen Anarchosyndikalismus darin. Xavier war lange Zeit in der französischen CNT aktiv und beide Gesprächsteilnehmer*innen sind in der FAU Berlin organisiert“ – so die Einleitung zu dem Gespräch „Zur Situation in Frankreich: Der Kampf geht weiter! „ von Anfang Juni 2016, das wir hiermit dokumentieren:

Zur Situation in Frankreich: Der Kampf geht weiter!

Über Streiks, Gewerkschaften und „Nuit debout“ im französischen Frühling

In Frankreich wüten seit drei Monaten vielfältige und kreative Proteste gegen das „Loi Travail“. Diese sogenannte Arbeitsmarktreform wird von vielen als französische Variante der Agenda 2010 bezeichnet. Ein Gespräch zwischen Xavier und Valerie über das Was, Wie und Warum der Proteste und die Positionierung des französischen Anarchosyndikalismus darin. Xavier war lange Zeit in der französischen CNT aktiv und beide Gesprächsteilnehmer*innen sind in der FAU Berlin organisiert.

Valerie: Worum geht es bei den Protesten in Frankreich? Warum ist dieser Kampf so wichtig?

Xavier: Der Anlass ist ein Gesetzentwurf, das sogenannte „loi travail” oder „loi Khomri”, benannt nach der Arbeitsministerin Myriam el Khomri. Dieses Gesetz ist vor kurzem von der Regierung und dem Parlament aufgezwungen worden. Es ist der schlimmste Angriff gegen Arbeiter_innenrechte seit Jahrzehnten. Drei Punkte sind besonders wichtig: Entlassungen, Arbeitszeit und Tarifpolitik. Bis jetzt konnten Arbeitgeber_innen fest angestellte Arbeiter_innen nur dann entlassen, wenn der Betrieb wirtschaftliche Schwierigkeiten hatte oder wenn der Angestellte einen schweren Fehler gemacht hatte. Mit dem neuen Gesetz können fest angestellte Arbeiter_innen praktisch ohne Grund entlassen werden und die Entschädigungen, die sie bekommen, sind stark reduziert. Das bedeutet im Endeffekt das Ende des unbefristeten Arbeitsvertrages und die Generalisierung prekärer Arbeitsverhältnisse. Was die Arbeitszeit angeht: Die Arbeitgeber_innen haben jetzt viel mehr Möglichkeiten, die Arbeitszeit ihrer Angestellten zu verlängern oder zu deren Ungusten zu gestalten. Die Mehrarbeitszahlungen werden auch geringer. Eine weitere Änderung liegt im Bereich der Tarifpolitik. Bis jetzt durften Betriebsabkommen für Arbeiter*innen nur vorteilhafter sein als das Arbeitsgesetz oder die Branchentarifverträge. Das war ein Schutz für die Arbeiter_innen, die in kleinen Betrieben ohne gewerkschaftliche Vertretung arbeiten. Jetzt wird das umgekehrt: ein Betriebsabkommen kann Bestimmungen haben, die gegen das Arbeitsgesetz oder die Tarifverträge verstoßen, zum Beispiel, was Löhne und Arbeitszeit angeht. Wenn die Gewerkschaften sich dagegen wehren, kann der Arbeitgeber eine Abstimmung der Belegschaft organisieren, mit allen Druck-und Manipulierungsmöglichkeiten, die dabei auftreten können. Wenn dieses Gesetz in Kraft tritt, wird das eine schlimme Niederlage der Arbeiter_innenbewegung sein mit drastischen Folgen für alle Lohnabhängigen.

Valerie: Wie positionieren sich die großen Gewerkschaften zu dem Gesetz und zu den Protesten ?

Xavier: Seit zwei Monaten haben wir zwei Ebenen des Protestes: Aktionstage mit Streiks und Demonstrationen, zu denen manche großen Gewerkschaften aufrufen und tägliche Demonstrationen, die von Student_innen- und Schüler_innenorganisationen ins Leben gerufen werden oder spontan ausbrechen. An manchen Protesttagen waren mehr als eine Million Leute auf der Straße. Außerdem ist auf dem Platz der Republik die Bewegung „Nuit debout” entstanden, die den Protesten eine neue Dimension gegeben hat, indem sie eine Tribüne für alle möglichen Sozialbewegungen und Arbeiter_innenkämpfe geworden ist und indem sie die Idee eines Generalstreiks popularisiert hat. Die großen Gewerkschaften sind geteilt: Manche, wie die sozialistische CFDT oder die christliche CFTC tun gar nichts, andere, wie die kommunistische CGT und die reformistische CGT-FO rufen zu begrenzten Warnstreiks auf, wehren sich aber gegen die Idee des Generalstreiks. Schüler_innen, Student_innen und „Nuit debout” gegenüber sind sie eher zurückhaltend. Das Problem aller dieser Gewerkschaften ist: Sie sind sich der verheerenden Folgen dieses Gesetzes wohl bewusst, kümmern sich aber gleichzeitig um ihr eigenes Überleben als bürokratische Apparate. Dieses hängt bis zu 90 Prozent von staatlichen Subventionen ab. Deshalb wollen auch die CGT und die CGT-FO um jeden Preis eine direkte Konfrontation mit dem Staat vermeiden.

Valerie: Wie ist die Position von Anarchosyndikalist_innen in Frankreich zu den Protesten und zu „Nuit debout“, den Besetzungen öffentlicher Plätze?

Xavier: In Frankreich sind Anarchosyndikalist_innen in mehrere Gewerkschaften verstreut: Manche sind immer noch in den großen Gewerkschaften, manche sind Mitglieder der linksradikalen SUD oder Mitglieder der anarchosyndikalistischen CNT, die aber mehrere Spaltungen erlebt hat. Alle sind natürlich gegen das neue Gesetz, alle nehmen an Warnstreiks und den Demonstrationen teil und befürworten einen richtigen Generalstreik. Wenn man diese Protestwelle mit anderen Protesten vor zehn oder zwanzig Jahren vergleicht, ist festzustellen: Neuerdings wird die CNT in manchen Städten von den anderen Gewerkschaften als gleichberechtigte Partnerin anerkannt. CNT-Aktistivist_innen spielen auch eine gewisse Rolle bei „Nuit debout”, sei es in Paris oder in der Provinz. Die Grundideen, die von „Nuit debout” popularisiert werden – direkte Demokratie, direkte Aktion und Solidarität – sind im Prinizip dem Anarchosyndikalismus ganz nah, es fehlt nur die Idee der Revolution! Aber natürlich hat eine Bewegung wie „Nuit debout” auch viele Widersprüche und Ambivalenzen und es gibt eine Unmenge von Politiker_innen und Berufsrevolutionär_innen, die nur davon träumen, diese Bewegung zu instrumentalisieren. Das erklärt die Zurückhaltung mancher Anarchosyndikalist_innen, aber eine große Mehrheit schätzt „Nuit debout” als ein positives Phänomen und unterstützt sie. Die Frage ist: Was wird nach der Protestwelle passieren? Ich bin nicht sehr optimistisch, was die Proteste gegen das Gesetz selbst angeht. Jedenfalls werden die jetzigen Ereignisse die Krise der reformistischen Gewerkschaften nur vertiefen, eine neue Generation von jungen Leuten wird mit den Prinzipien der direkten Demokratie und der direkten Aktion vertraut gemacht und das kann sich nur positiv auf die Verbreitung der anarchosyndikalistischen Ideen und Praxen auswirken.

Valerie: Wie überlagern sich die Diskurse um „innere Sicherheit” und Wahrnehmung der Proteste? Welche Rolle spielen die Repressionen, die aus dem Ruf nach mehr Sicherheit folgen, für die Proteste?

Xavier: Die Proteste und die Besetzung von öffentlichen Plätzen bei „Nuit debout” sind auch eine Rückeroberung des öffentlichen Raumes nach Monaten des Ausnahmezustands und der Demonstrationsverbote. Die Rechte erwähnt ständig den Ausnahmezustand, um ein Verbot von „Nuit debout” zu fordern. Die Regierung hat bis jetzt diese Bewegung toleriert – ihre Teilnehmer_innen sind eben auch potentielle Wähler_innen –, aber die Polizei ist gewaltig gegen Demonstrationen und Blockaden von Gebäuden und Straßen eingeschritten, mit vielen (machmal schweren) Verletzten und vielen Verhaftungen. Die Regierung versucht dadurch, die Leute zu entmutigen und die Bewegung zu kriminalisieren. Das zeigt auch das gewaltsame Eindringen der Polizei ins Lokal der CNT in Lille.

Valerie: Wie setzen sich die Platzbesetzungen der „Nuit debout” zusammen? Was geschieht dort? Welche Themen werden diskutiert? Was können sie erreichen?

Xavier: Mein Eindruck ist, dass diese Bewegung hauptsächlich junge Leute versammelt, soziologisch betrachtet Student_innen oder prekäre Arbeiter_innen, politisch betrachtet das ganze Spektrum links von der sozialistischen Partei. Für festangestellte Arbeiter_innen oder für Leute mit Kindern ist es natürlich schwieriger, an solchen Veranstaltungen teilzunehmen, die abends und nachts stattfinden. Bei „Nuit debout” wird in Verbindung mit verschiedenen Kämpfen und Projekten intensiv diskutiert, erfunden, geträumt. Auch laufende Arbeitskämpfe werden da präsentiert und diskutiert. In jeder Stadt hat die „Nuit debout” ihre Vollversammlung, ihre Arbeitsgruppen, ihre praktische Organisation. Das alles ist ziemlich chaotisch, aber auch kreativ. „Nuit debout” als solche kann nicht viel erreichen: Um die Regierung zur Kapitulation zu bringen, braucht man einen Generalstreik. Aber „Nuit debout” ist wichtig als Diskussionsforum, wo neue Ideen entstehen oder alte, wie direkte Demokratie und direkte Aktion, neu entdeckt werden. Die Gefahr ist natürlich, dass aus „Nuit debout” eine politische Partei entsteht, die so nutzlos sein wird wie „Syriza” in Griechenland oder „Podemos” in Spanien. „Nuit debout” ist keine stabile Erscheinung und wird sich früher oder später erschöpfen. Wichtig ist aber, dass manche Organisations- und Aktionsprinzipien in die politische Kultur der jungen Generation eingehen und eine dauerhafte Konkretisierung finden.

Valerie: Ich habe im März, zu Beginn der Proteste, an einer Demo in Marseille teilgenommen. Die wirkte auf mich sehr dynamisch, unter anderem auch, weil innere Widersprüche sichtbar wurden: Teilnehmer_innen, die entlang der Demoroute Banken und große Geschäfte mit passenden Schriftzügen verzierten, wurden von CGT-Leuten daran gehindert und bedroht. Die einen rollten Mülltonnen auf die Straße, die anderen rollten sie wieder zurück. Die einen besetzten eine Autobahnauffahrt, die anderen drängten sie zurück; und schließlich: Die einen riefen gegen Ende der Demo zur Vollversammlung in die Uni, die anderen zur Blockade der Gleise im neben der Uni gelegenen Bahnhof. Eine Bekannte murrte, die Vollversammlungen seien zäh, ergebnis- und zahnlos. Sie dienten vor allem der Vereinnahmung durch z.B. Jugendorganisationen großer Parteien und Gewerkschaften. Sind die Beobachtungen symptomatisch und typisch für die Bewegung in Frankreich? Und was könnte aus solchen inneren Widersprüchen entstehen, im Positiven wie im Negativen?

Xavier: Dass die gewerkschaftlichen Demonstrationen eher langweilig sind, während die Student_innendemonstrationen viel bunter und chaotischer sind, ist in Frankreich nichts Neues. Ich sehe aber zwei große Widersprüche, die sich nicht mit der Trennlinie zwischen Arbeiter_innen und Student_innen deckt. Die erste ist der Widerspruch zwischen den großen Gewerkschaften und einem Teil ihrer Basis, die sich für radikalere Kampfmethoden einsetzt. Es gibt zur Zeit Arbeitskämpfe in verschiedenen Branchen, aber ich kann ihre Stärke und ihr Potential selbst nicht einschätzen. Der zweite Widerspruch liegt in der Gewalt. Zur Zeit haben wir einerseits eine starke Polizeigewalt und andererseits eine kleine autonome Szene, die um jeden Preis den Kampf mit der Polizei sucht, ohne zu wissen, wie und warum. Dadurch liefert sie nur der Macht und den Medien Rechtfertigungen für weitere Repression. Das Risiko ist, dass eine Mehrheit der Leute nicht mehr zu den Demos kommt, was auch ein Ziel der Polizeigewalt ist, und dass ein kleinerer Teil der Leute sich radikalisiert, ohne dieser Radikalität eine konkrete und wirksame Gestalt geben zu können. Diese Gestalt soll nicht unbedingt gewaltsam sein, gewaltfreie Kampfmethoden können auch sehr radikal und wirksam sein. Aber die großen Gewerkschaften sind gegen jede Radikalität, und die Anarchosyndikalist_innen haben da nicht viel anzubieten. Mir scheint, dass bei den französischen Anarchosyndikalist_innen heute kaum über das Wesen der direkten Aktion  diskutiert wird, sei sie gewaltfrei oder gewaltsam. Das spiegelt eine weitergehende Schwierigkeit wider, konstruktiv über strategischen Fragen zu diskutieren. Diese Schwierigkeit hat auch zu den Spaltungen innerhalb der CNT geführt.

Valerie: Mittlerweile zeigen auch Arbeiter*innen, die in der CGT organisiert sind, Radikalität und Kampfbereitschaft. „Wir haben die Macht, die Wirtschaft zu lähmen. Leider ist das die einzige Sprache, die die Politik versteht“ sagt ein Arbeiter bei einer Blockade einer Ölraffinerie. In den letzten Wochen gab es Streiks bei der Bahn und in der Pariser Metro sowie von Fluglots_innen und Pilot_innen, die zu Ausfällen und Verspätungen führten. Die sehr entschlossenen Blockaden von Ölraffinerien und Streiks in den Werken führten dazu, dass 20% der Tankstellen der Hahn abgedreht wurde und sich lange Autoschlangen bildeten. Auch in der Logistikbranche und im Gesundheitssektor, in Atomkraftwerken und auf einigen wichtigen Baustellen wurde eifrig die Arbeit niedergelegt und wurden Betriebsabläufe gestört. Streiks und Blockaden bei der Müllabfuhr schafften das perfekte Sinnbild für das „Loi Travail“: einen riesigen stinkenden Müllberg. Dass Arbeitskämpfe im Energiesektor und im öffentlichen Verkehr stattfinden, trifft empfindliche Punkte, so dass selbst bürgerliche Medien und Regierungspolitiker von ‚lahmlegen‘ sprechen. Die Herrschenden erweitern zum Start der Fußball-Europameisterschaft der Männer ihr Repertoire aus Repression und Überwachung unter dem Deckmantel der Terrorabwehr. Gleichzeitig rechnen sie bereits jetzt aus, wie hoch die Verluste durch Streiks und Proteste ausfallen könnten. Sie setzen die volle Arroganz der Macht ein, um eine Aussetzung der Streiks und Proteste zu fordern, und kündigen sogar an, Arbeiter*innen zur Arbeit zu zwingen. Sie befürchten, das kapitalistische Großereignis Fußball-EM könnte durch die Proteste im Chaos versinken. Hoffen wir darauf!

Für Dienstag, den 14.6. wurde international nach Paris mobilisiert. Auch in Deutschland wurde an vielen Orten internationale Solidarität demonstriert. Weiterhin wird es in Frankreich Streiks externer Link, Demos externer Link und die Nuit Debout externer Link geben. Die CNT-Gewerkschaften (CNT-F externer Link, CNT SO externer Link und CNT-AIT externer Link) lassen sich nicht durch die zum Teil erheblichen Repressionen externer Link, die sie bisher erfahren haben, einschüchtern. Eine radikal linke Berliner Gruppe ruft zu einer Solidaritätskundgebung externer Link auf und macht die Proteste lokal anschlussfähig, indem sie auf die „Agenda 2010“ Bezug nimmt. Wir sehen: Der Kampf geht weiter!

© Valerie und Xavier, Berlin 2016

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=99905
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