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Calais, Frankreich, Großbritannien

Bericht von Bernard Schmid vom 7.3.2016

Calais: Teilräumung des „Jungle“-Camps von Migranten am ÄrmelkanalFranzösische Politiker „bedrohen“ englische Kollegen mit in Calais geparkten Migranten. Britische Politik macht zusätzliche Gelder für ihre Verwahrung auf dem Südufer des Ärmelkanals locker. Vor Ort geht die Räumung weiter. In Paris, London und Brüssel finden Soli-Demos statt – doch die Solidarität fällt bislang noch absolut ungenügend aus. Vor Ort zeigt die Räumung des „Jungle“-Camps unterdessen äußerst erwartbare Konsequenzen…: Üblicherweise kennt man solche Drohungen eher von Staatschefs, deren Länder von manchen Europäern mitunter abschätzend als „weniger zivilisiert“ eingestuft werden. Also die sinngemäße Botschaft: Wollt Ihr nicht so, wie ich wohl will – dann sende ich Euch die Migranten, die unfreiwillig bei mir „geparkt“ sind, jedoch nur davon träumen, auf Euer Staatsgebiet zu kommen.

Libyens früherer Staatschef zwischen 1969 und 2011, Mu’ammar Al-Qadhafi (eingedeutscht: Gaddafi), etwa formulierte es im Jahr 2010 – dem letzten vor seinem Sturz und seinem Tod – in folgenden Worten, die an die europäischen Staaten gerichtet waren: „Damit Libyen die Immigration stoppt, muss Europa fünf Milliarden Dollar jährlich zahlen. Sonst wird die Zukunft Europas schwarz sein, und nicht weiß und christlich. Wir sollten diese illegale Immigration stoppen, sonst wird Europa schwarz, (…) es wird sich verändern.“ Mit solchen und anderen Worten ging Gaddafi als Barbar durch (seine Taten sprachen ansonsten aber auch tatsächlich gegen ihn). Die zitierten Formulierungen jedoch waren allerdings eher an die Mentalität eines Teils der politischen Klasse, und der Bevölkerung, in der EU als an seine eigene Sichtweise angepasst. Denn das damalige libysche Regime betrachtete Einwanderung aus dem Afrika südlich der Sahara eher unter dem Blickwinkel der ökonomischen Ausbeutung, und nicht dem ihrer Verhinderung. Auf fünf Millionen libysche Einwohnerinnen und Einwohner des erdölreichen Staates kamen damals bis zu zwei Millionen Migranten… die einen Gutteil der körperlichen Arbeit dort verrichteten.

Auch innerhalb der EU jedoch beherrschen hochrangige Vertreter ihrer eigenen Mitgliedsländer dieselben Spielregeln hervorragend – und lassen entsprechende Drohungen im politischen Raum schweben, für den Fall, dass die anderen nicht spuren.

Am 03. März 2016 richtete etwa der französische Wirtschaftsminister Emmanuel Macron die Ankündigung an Großbritannien, sollte das Land sich am 23. Juni dieses Jahres für einen „Brexit“ oder EU-Austritt entscheiden, dann werde Frankreich nicht länger die mehreren Tausend Migranten zurückhalten (vgl. http://www.lemonde.fr/europe/article/2016/03/03/macron-previent-les-anglais-qu-en-cas-de-brexit-la-france-ne-retiendrait-plus-les-migrants-a-calais_4875561_3214.html externer Link), die in Calais und La Grande-Synthe auf der französischen Seite des Ärmelkanals in slumähnlichen Großcamps leben. Diese Menschen warten nur auf eine Gelegenheit, auf einem Schiff, in einem LKW versteckt oder zu Fuß durch den Eurotunnel – den unterirdischen Eisenbahntunnel zwischen Frankreich und England – auf die britischen Inseln zu kommen. Kurz darauf tat Macrons politischer Boss, Staatspräsident François Hollande, es seinem geschätzten Wirtschaftsminister gleich und richtete ähnliche Drohungen an die britische Politik. (Vgl. http://www.lefigaro.fr/international/2016/03/03/01003-20160303ARTFIG00371-migrants-brexit-l-avertissement-de-hollande.php externer Link)

Die französischen Behörden hindern bislang die Migranten an dem Versuch, den Ärmelkanal zu überqueren, und erhalten dafür (infolge des „Abkommens von Touquet“, das im Jahr 2003 durch die damaligen Innenminister Nicolas Sarkozy und Jack Straw abgeschlossen wurden) Geld von ihren britischen Kollegen. Seit April 2014 etwa waren siebzig Millionen Euro dafür angesetzt, unter dem Aspekt der „Grenzsicherung“ die jedoch Anfang März d.J. um weitere 22 Millionen aufgestockt wurden. So lautet eines der Ergebnisse des Gipfels, den beide Staatsmächte am Donnerstag vergangener Woche, den 03. März, gemeinsam in Amiens abhielten. (Vgl. http://www.lemonde.fr/europe/article/2016/03/04/le-sommet-d-amiens-a-t-il-permis-de-resoudre-le-differend-franco-britannique-sur-la-crise-migratoire_4876982_3214.html externer Link) Dadurch soll unter anderem die laufende Räumung des „Jungle“ genannten Camps in der Nähe von Calais finanziert werden.

Die französische Seite fordert nun jedoch immer lautstärker, nach dem Vorbild der derzeit durch die EU in Süditalien und auf den griechischen Inseln eingerichteten,Hot-spots’ – Auflanglager, in denen zwischen „guten Flüchtlingen“ mit Einlassberechtigung in die EU und bösen respektive als unnütz erachteten „Migranten“ unterschieden werden soll – auch am Südufer des Ärmelkanals ein Sortierzentrum einzurichten. Dort sollen britische Behörden dabei mithelfen, zu entscheiden, wer letztendlich dann doch über den Ärmelkanal darf (sicherlich nur eine Minderheit), und wer auf Dauer „entfernt“ werden soll. Da die Zahl der sich am Ärmelkanal stauenden Migranten jedoch zu hoch ist, um daran denken zu können, sie auf einmal abzuräumen und abzuschieben, setzt die französische Staatsmacht auf eine Politik ihrer flächenmäßigen Verteilung. Ende vergangener Woche trafen etwa erneut 16 Menschen aus Calais im südwestfranzösischen Toulouse ein. (Vgl. http://www.ladepeche.fr/article/2016/03/04/2297549-16-migrants-de-calais-transferes-a-toulouse-cette-nuit.html#xtor=EPR-7 externer Link)

Ihnen wird versprochen, dass sie in den kommenden bis zu drei Monaten irgendwo auf dem französischen Staatsgebiet zwischen einer „Rückkehrhilfe“ (in Richtung Herkunftsland) oder einem Asylantrag auf französischem Boden entscheiden können soll. Die schwierigste Situation ist dabei jedoch jene der „Dublin-Flüchtlinge“, die also infolge der Einreise über einen anderen EU-Staat (Griechenland, Ungarn, Italien…) und des Dublin III-Abkommens dorthin zurückgeschickt werden sollen. Laut den in Calais und in den Auffangzentren präsenten NGOs betrifft dies jedoch 54 Prozent dieser Migranten. Unterdessen geht vor Ort in Calais die Räumung weiter.

Diese Räumung ist nach wie vor in vollem Gange, auch wenn die ersten spektakulären Bilder – von Menschen, die sich ihr am Montag und Dienstag voriger Woche u.a. durch das Anzünden von Gegenständen zu widersetzen suchten – inzwischen in den Medien einer Routine in der Wahrnehmung wichen. Die Räumung ist durch die Behörden auf circa drei Wochen veranschlagt worden; täglich soll ein Hektar geräumt werden, die zu evakuierende Gesamtfläche beträgt zwanzig Hektar (die die Südhälfte der informellen Stadt unter dem Namen „Jungle“ ausmachen). Spektakulär in den Augen des Publikums war jedoch die Protestaktion, bei welcher sich iranische Migranten die Lippen zunähten und danach mehrfach durch das Camp demonstrierten (vgl. im Video etwa http://www.lemonde.fr/europe/video/2016/03/03/calais-des-migrants-se-cousent-la-bouche-pour-protester-contre-le-demantelement_4875642_3214.html externer Link); es handelt sich um eine vor allem aus dem iranischen Kontext bekannte Protestform. Iraner zählen allgemein zu den Verlierern der jetzigen Migrations- und Asylpolitik in ganze EU-Europa. Sie werden etwa seit Monaten an der Grenze zwischen Griechenland und Mazedonien abgewiesen, auch zu einem Zeitpunkt, als etwa Syrer und Iraker dort noch durchgelassen wurden, was inzwischen auch nicht länger der Fall ist. Die dahinter stehende „Logik“ lautet, Syrien und der Irak seien Bürgerkriegsländer, im Iran dagegen herrsche ja Frieden und also folglich kein Grund zur Beschwere. Dass der Iran eine der brutalsten Diktaturen in der Region ist und sein Regime i.Ü. mit zu den Hauptkriegsparteien in Syrien zählt (was viel über seine politische Natur aussagt), interessiert dabei nicht.

Es besteht auch Solidarität außerhalb des Camps. So demonstrierten in der vergangenen Woche Menschen in London (am Dienstag vor dem Institut français), in Genf, in Brüssel, im westfranzösischen Nantes sowie in Paris gegen die Räumung, und generell gegen den Umgang mit den betreffenden Menschen. In der französischen Hauptstadt trafen sich zunächst am Dienstag Abend (01. März) rund 200 Menschen, mehrheitlich Unterstützer/innen sowie eine Gruppe junger afghanischer Migranten – von denen mehrere Hundert in Paris derzeit auf der Straße oder öffentlichen Plätzen übernachten – auf der Place de la République. Am Freitag, den 04. März fand ab 18 Uhr eine weitere Demonstration statt, die dieses Mal etwas länger vorbereitet worden war. Sie fing vor dem Nordbahnhof (also vor der Gare du Nord, welche Paris per Zug mit Calais und London verbindet) an und endete auf der Place de la République. Daran nahmen laut unseren Beobachtungen etwas über 500 Menschen statt, Unterstützer/innen, aber auch Sans papiers-Kollektive (Sans papiers = ohne Aufenthaltstitel, undocumented) überwiegend westafrikanischer Einwanderer. Die Polizei sprach von 400 Teilnehmer/inne/n. Es ist gut, dass diejenigen protestierten, die daran teilgenommen haben. Doch von einer genügenden Breite der Solidaritätsbewegung kann zugleich noch keinerlei Rede sein!

Vor Ort zeitigt die Räumung erwartbare Folgen: Neben dem als „Jungle“ bezeichneten, informellen, jedoch relativ großen Camp entstehen derzeit wieder mehrere kleine, informelle Camps im Unterholz und in den Büschen zwischen Calais und der Kanalküste. (Vgl. dazu folgenden erhellenden Artikel in der heutigen Sonderausgabe der Tageszeitung Libération, die dem Thema Calais an diesem Montag allein an die zehn Seiten widmet: https://mail.google.com/mail/u/0/h/11slp6pfzecb7/?&th=1534d9e097f8f72b&v=om externer Link; http://www.liberation.fr/france/2016/03/06/pres-de-calais-la-jungle-a-fait-des-petits_1437836?xtor=EPR-500001&utm_source=newsletter&utm_medium=email&utm_campaign=quot externer Link) Also an vergleichsweise ungeschützten und verstreuten Orten, wie dies vor wenigen Jahren in der Umgegend von Calais noch der Fall war, bevor der „Jungle“ als größerer Zusammenschluss entstand.

Dies geschah Anfang 2015, als im Februar/März des Jahres der Druck auf die Migranten in den rumd um Calais existierenden, kleineren informellen Ansiedlungen wuchs: Ihnen wurde bedeutet, ihre Präsenz würde am Ort des jetzigen „Jungle“ toleriert, wenn sie sich an einem einzigen Ort konzentrierten. Das war die damalige Politik der Staatsmacht. Umgekehrt scheint der Staatsapparat nun zu der Auffassung gekommen, die starke räumliche Konzentration und das erhebliche Anwachsen des informellen Camps stellten einen zu bedeutenden „Unruhefaktor“ (oder, aus Sicht der Rassisten, „Schandfleck“) dar, um ihn noch zu tolerieren. Nun wird umgekehrt auf eine Politik der Zerstreuung, Verteilung und Unsichtbarmachung gesetzt.

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=94632
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