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Chile: „Das ist noch nicht vorbei“. Vom Sozialprotest zur Volksrebellion – millionenfach wird der Rücktritt der Pinera-Regierung verlangt

Seit dem 19.10.2019 herrscht die Armee wieder auf den straßen Chiles - oder versucht es zu mindestens...Nach der historischen Massendemonstration am Freitag, 25. Oktober 2019 in der Hauptstadt Santiago – die zudem durch ihre gewaltige Größe eine ganze Reihe weiterer Demonstrationen in zahlreichen anderen Städten Chiles in den Hintergrund drängte, obwohl auch diese eine Mobilisierung bedeuteten, wie sie seit Jahrzehnten nicht mehr gesehen wurde – versucht es der rechte Präsident mit „Bauernopfern“: Nichts anderes ist sein „Ersuchen“ an alle Minister und Ministerinnen der Regierung, zurück zu treten. Und auch seine Ankündigung, Ausgangssperren und andere Repressionsmaßnahmen aufzuheben, ist des Vertrauens nicht würdig: Währenddessen geht die Menschenjagd seiner uniformierten Banden in den Straßen weiter – obwohl sich eine wachsende Anzahl von ihnen weigert, solche Befehle zu befolgen. Und während verschiedene politische Kräfte versuchen, mit Bedingungen für Verhandlungen, die sie Pinera stellen, Kontrolle und Normalisierung zu erreichen, breitet sich jene Strömung immer mehr aus, die die Geschichte der letzten 30 Jahre zum Zentrum ihrer Auffassungen macht. 30 Jahre lang herrschte ein Regime des Fortdauerns jener Grundbedingungen, die von der blutigen Pinochet-Diktatur gesetzt worden waren. Einer Diktatur übrigens, an der die Familie Pinera intensiv beteiligt war – etwa an der Durchsetzung jenes Systems privater Rentenversicherung, das so viele ältere Menschen in Chile zur Armut verurteilt. Weswegen jetzt auch die Medien orchestriert vorgehen – und „Beruhigung“ nach den Konzessionen darstellen wollen. „Das ist noch nicht vorbei“ wurde so zum aktuell verbreiteten Hashtag – und dafür treten nach wie vor unglaublich viele Menschen ein. Siehe dazu unsere aktuelle Materialsammlung „Vom Sozialprotest zur Volksrebellion“ vom 27. Oktober 2019 – und ein Update vom 28. Oktober mit der Massendemonstration am Sonntag in Valparaiso – und dem Polizeiüberfall auf sie. Sowie ein Hintergrundbeitrag zum Klassencharakter der Rebellion

Chile: Vom Sozialprotest zur Volksrebellion“

(27. Oktober 2019)

„Präsident in Chile will Kabinett auswechseln“ am 26. Oktober 2019 bei der Deutschen Welle externer Link meldete es so: „… Bei der Ansprache im Präsidentenpalast in der Hauptstadt Santiago de Chile gab Präsident Sebastián Piñera nicht nur die Abberufung des Kabinetts bekannt, sondern sagte auch, er wolle ein neues Kabinett aufstellen, „um diesen neuen Forderungen zu begegnen und uns der neuen Zeiten anzunehmen.“ Die Nachrichtenagentur Reuters konnte ein Dokument einsehen, aus dem hervorgeht, dass Piñera mindestens neun Minister auswechseln will. Darunter befänden sich die Ressorts Inneres, Verteidigung, Wirtschaft, Transport und Umwelt. Der Präsident bekundete in Santiago de Chile ferner seine Absicht, in der Nacht zum Montag den Ausnahmezustand im ganzen Land aufzuheben, „sofern die Umstände es erlauben“. Am Freitag waren in der Hauptstadt und anderen Städten mehr als eine Million Menschen aus Protest gegen die Regierung auf die Straße gegangen. Die Demonstranten marschierten in Santiago de Chile friedlich am Regierungsgebäude vorbei, schwenkten Fahnen des Landes, pfiffen und hupten und forderten auf Plakaten Staatspräsident Sebastián Piñera zum Rücktritt auf. Auch in Valparaíso, Punta Arenas, Viña del Mar und anderen Städten gab es Protestmärsche, an denen sich tausende Menschen beteiligten...“

Millionendemonstration Santiago de Chile am 25.10.2019„Fast zwei Millionen Menschen protestieren in Chile gegen Regierung Piñera“ von Marius Weichler am 26. Oktober 2019 bei amerika21.de externer Link hebt bei der Berichterstattung hervor: „… Das genaue Ausmaß der jüngsten Proteste nun ist selbst auf Videos aus der Luft nur schwer auszumachen. Eine unübersichtliche Menschenmenge füllt die ganze Stadt, Plätze, Straßen und Zugangsrouten. Zu den zentralen Forderungen gehören: das Ende des Ausnahmezustands, der Rücktritt der Regierung sowie die Einberufung einer verfassungsgebenden Versammlung zur Ablösung der noch aus der Diktatur von General Augusto Pinochet (1973-1990) stammenden Verfassung. Trotz der überwiegend friedlichen Demonstration sollen Sicherheitskräfte an verschiedenen Orten Wasserwerfer und Tränengas gegen die Protestierenden eingesetzt haben. Auch für die Nacht auf Samstag wurde erneut eine Ausgangssperre für Santiago und andere Teile des Landes verhängt. Der Ausnahmezustand bleibt weiter bestehen...“

„Huelga general: Millones de trabajadores y trabajadoras colman las calles del país exigiendo cambios de fondo y no cosméticos“ von und beim Gewerkschaftsbund CUT am 24. Oktober 2019 externer Link ist eine erste Bilanz der zwei Tage Generalstreik, der als großer Erfolg bewertet wird, als eine Mobilisierung, die dazu dient, lediglich kosmetische Veränderungen des Systems zu verhindern und stattdessen wirkliche, tiefgreifende Veränderungen einzufordern – und zu erkämpfen…

„Kämpfe in Chile gehen weiter, Stand Samstag Abend, 26. Oktober“ von Chile despertó am 27. Oktober 2019 bei de.indymedia externer Link fasst die aktuellste Entwicklung so zusammen: „… Ein Etappensieg scheint der Bewegung überdies gelungen sein:  Das Militär verzichtet auf eine Ausgangssperre für die Nacht von Samstag auf Sonntag. Das erste Mal seit einer Woche (bzw. seit Anfang der Woche in den Provinzen) dürfen Menschen also wieder legal auch abends und nachts die Straße betreten. Natürlich bleibt die Gefahr, von Militärs erschossen zu werden – aber auch den Ausnahmezustand will der Präsident angeblich ab Sonntag, 24 Uhr, aufheben. Das würde bedeuten, dass das Militär sich nicht mehr legal in die Ordnung einmischen darf und die Herrschaft darüber wieder in „demokratische Hände“ gelegt wird. Dies würde auch das Aus für weitere Ausgangssperren bedeuten. Allerdings hat das Militär auch jetzt schon außerhalb der deklarierten Zonen des Ausnahmezustands agiert und dabei mindestens eine Person erschossen und mehrere angeschossen, wie ein Vorfall in Curicó Anfang der Woche zeigte, wo ein 25 jähriger Aktivist bei einer Demonstration auf einer Fußgängerbrücke über die Autobahn von Militärs erschossen wurde und die Umstehenden ebenfalls verletzt wurden. Eine Garantie für Sicherheit ist das also leider noch nicht. Aber dennoch ein großer Sieg, wenn tatsächlich am Sonntag der eigentlich für 15 Tage ausgerufene Ausnahmezustand zurück genommen wird.  Reichen tut das großen Teilen der Bewegung nicht – und auch die Rücknahmen der Fahrpreiserhöhungen, der Strompreise, der Autobahnmauterhöhungen (seit heute zurück genommen) und die vielen kleinen Reförmchen, die der Präsident in Aussicht stellt, werden hier eher belächelt. Längst geht es um mehr. Um das unter Beweis zu stellen wird für Montag wieder im ganzen Land mobilisiert. Die Repression geht auch ungehindert weiter: die große Demonstration gestern in Talca wurde trotz sichtbarer Anwesenheit von hauptsächlich Familien wieder mit Tränengas angegriffen. Und eine Demonstration mit mehr als 5.000 Menschen heute in Concepción wurde ebenfalls angegriffen und Menschen von Militär und Carabineros an der Teilnahme an selbiger gehindert. Nachdem die Demonstration mit Barrikadenbau die Polizei auf Distanz halten konnte, wurden daraufhin zwei Läden geplündert. Ein Soldat, welcher sich Anfang der Woche geweigert hatte für die Ausgangssperre einzutreten, befindet sich derweil weiter in Haft wegen Ungehorsams, wird aber in sozialen Netzwerken bereits als Held gefeiert (…)Derweil gibt es auch gute Nachrichten über die Gegenproteste zu verkünden: Am Montag war eine zentrale Demonstration der rechten Bürgerwehren in Santiago geplant, welche sich im Laufe der Woche organisiert hatten um Plünderungen mit Selbstjustiz zu begegnen. Unter dem Eindruck der gestrigen Demonstration und der Tatsache, dass der Ausnahmezustand eventuell am Montag bereits aufgehoben ist, wurde die Anmeldung inzwischen zurück gezogen und die Mobilisierung dahingehend eingestellt…“

„Schikane, Misshandlungen, sexuelle Übergriffe“ am 25. Oktober 2019 beim NPLA externer Link berichtet über Gewaltanwendung bei Repressionsmaßnahmen unter anderem: „ … Die Proteste in Chile zeigen nicht nur die Unzufriedenheit der Bürger*innen mit den ungleichen sozialen Verhältnissen, unter denen tausende Chilen*innen leben, sondern auch die extreme Repression der Polizei gegen die Demonstrierenden. Dies geht aus einem Monitoring-Bericht zum Schutz der Rechte der Protestierenden des Nationalen Instituts für Menschenrechte (INDH) hervor. Nach Angaben des Direktors des Instituts, Sergio Micco, wurden Informationen über den Status Verletzter und Inhaftierter sowie über Menschenrechtsverletzungen von Seiten der Staatsgewalt im Süden des Landes gesammelt. Laut dem Bericht des INDH, der auf Informationen von vier Krankenhäusern basiert, erlitten mindestens 22 Menschen schwere Verletzungen. Unter den Opfern befänden sich auch Kinder, die infolge der gewaltsamen Repression verletzt wurden. Der Bericht wurde an Orten wie Santiago, Maipú, Iquique, Antofagasta, Coquimbo, Valparaíso, Rancagua, Talca, Concepción, Valdivia, Temuco, Puerto Montt und Punta Arenas erstellt. Auch in Polizeistationen haben Verhaftete den „exzessiven Einsatz von Gewalt zum Zeitpunkt der Inhaftierung, unfaire Schikane von Kindern, Misshandlungen, Schläge auf Gesicht und Oberschenkel, Folter, Ausziehen von Frauen unter Zwang, sexuelle Übergriffe und andere Verstöße“ angeprangert, wie im Bericht des INDH zu lesen ist...“

„Más denuncias sobre brutalidad de Carabineros contra la población“ am 26. Oktober 2019 bei Resumen Latinoamericano externer Link ist ein aktueller Überblick über die neusten Meldungen über die Gewaltexzesse der Uniformierten, von denen jeden Tag laufend solche Menschenrechtsverletzungen gemeldet werden – insofern ist dies faktisch eine Art „Fortschreibung“ des vorherigen Beitrags über die Repression…

„«Chile ist aufgewacht»“ am 25. Oktober 2019 bei der Rosa Luxemburg Stiftung externer Link ist ein (einleitend kommentiertes) Gespräch von Gerhard Dilger und Caroline Kim mit der Soziologin Pierina Ferretti, in dem diese zu den Gründen für dieses regelrechte Explosion vor allem unterstreicht: „… Vielleicht ist es schwierig zu verstehen, dass in einem Land wie Chile eine derartige Explosion auf der Straße stattfindet. Ein Land, das sich nach außen und innen ein Image als stabiles Land geschaffen hat, in dem die Wirtschaft funktioniert, das systematisch die Armut reduziert, das im Überfluss konsumiert. Aber was das alles erklärbarer macht, sind die extrem prekären Arbeits- und Lebensbedingungen und die Unsicherheit, die viele von uns in diesem Land ständig spüren. Wir haben Angst, krank zu werden, Angst vor dem Alter, weil die Renten miserabel sind. Unsere Arbeit ist extrem flexibilisiert und prekär, einen festen Job zu finden, schwierig, die Lebenshaltungskosten sind hoch und soziale Rechte gibt es nicht. Bildung z.B. ist teuer, die Studiengebühren für eine öffentliche Uni des chilenischen Staats kann locker umgerechnet 500 Euro monatlich kosten. Der Durchschnittslohn in Chile beträgt etwa 640 Euro; 50 Prozent verdient noch weniger, bis etwa 370 Euro. Die Renten liegen bei 260 Euro. Mit solchen Löhnen und Renten ist es unmöglich zu leben. Die Menschen haben diese Realität und diese Lebensbedingungen gründlich satt und das ist das, was gerade explodiert. [Gegen wen richtet sich dieser Ausbruch?] Es gibt ein wachsendes Misstrauen gegenüber den staatlichen Institutionen, politischen Parteien, dem Parlament, den Unternehmen. Das vorherrschende Gefühl ist, dass alle Institutionen von Eliten geleitet werden, die nur für ihre eigenen Interessen und Vorteile regieren und Gesetze machen – alles auf Kosten der Bevölkerung. Es gab sehr viele Fälle von Korruption im Militär, bei der Polizei, im Innern des Staates. Fälle, in denen der Staat großen Unternehmen Millionen an Steuerschulden erlassen hat, während er zugleich die kleinen Schuldner, die normale Bevölkerung verfolgt und bestraft. Es hat sich das Gefühl breitgemacht, dass das System nur den Mächtigen nutzt und der Mehrheit der Leute schadet, denen, die von ihrer Arbeit leben und sich dafür sehr anstrengen müssen. Es gibt ein immer größeres Bewusstsein darüber, dass sich bestimmte Teile der gesellschaftlichen Elite permanent auf Kosten der breiten Bevölkerung bereichern. [Warum kommt es gerade jetzt zu diesem Ausbruch der Proteste?] Auch wenn das Ausmaß überraschend ist, kommt es nicht total unerwartet, wie einige Medien glauben machen wollen. Viele von uns waren sich bewusst darüber, dass dieses Land ein Druckkochtopf ist, der früher oder später explodieren würde…“

„A Growing National Strike Against Neoliberalism in Chile“ von  Edward L. Tapia am 26. Oktober 2019 bei New Politics externer Link ist ein ausführlicher Beitrag, der nachzeichnet, wie sich das System der „Kontinuitäten“ mit der Diktatur über die Jahrzehnte unterschiedlicher Regierungen gehalten hat – gehalten worden ist – und in wessen Interesse das geschah. Wobei beim zweiten Thema, wer davon profitiert hat, unter anderem die Familie des heutigen Präsidenten als ein konkretes Beispiel dargestellt wird – dessen Bruder etwa bei der Implementierung der berüchtigten privaten Rentenversicherung eine wichtige Rolle gespielt hat – und dieses Pinochet-Rentensystem der absoluten Verarmung (und des Profits der Versicherer, versteht sich) – ist ja auch eine der Abscheulichkeiten, die bis heute Geltung haben.

„Chile cazabobos: Entre ofertones y movilizaciones“ von Manuel Cabieses am 24. Oktober 2019 beim Correo de los Trabajadores externer Link ist ein Beitrag in dem gewerkschaftsoppositionellen Portal, der faktisch eine Antwort auf die Kampagne der Regierung, der gesamten Rechten und ihrer Medien ist, die aktuellen Proteste als gewalttätig und kriminell zu diffamieren. Dazu verweist er vor allem auf die strukturelle Gewalt der chilenischen Gesellschaft: Auf die enorm anwachsende Selbstmordraten beispielsweise, vor allem bei einerseits jenen Jugendlichen, die weder einen Job haben, noch zur Schule gehen und andererseits bei den Rentnerinnen und Rentnern, die es einfach nicht schaffen, alleine zu überleben mit der Hungerrente, die ihnen die Rechten verordnen.

„CUT Chile pone a disposición del debate las siguientes propuestas“ am 25. Oktober 2019 beim Gewerkschaftsbund CUT externer Link ist die Darstellung der Vorschläge, die die Föderation zur Lösung der aktuellen Krise verbreitet und vertritt. Dabei stellt der Verband als Grundbedingung dafür, dass Gespräche stattfinden können – zu denen sich die CUT bereit erklärt – die Aufhebung des Aufnahmezustandes als Voraussetzung.

Chilenische Docker im streik gegen die regierung am 25.10.2019 in Valparaiso„Unión Portuaria llama a trabajadores/as “a tomar las riendas de esta crisis de forma conjunta y coordinada”“ am 25. Oktober 2019 bei Resumen Latinoamericano externer Link ist ein Bericht sowohl über einen Aufruf der Vereinigung der chilenischen Dockergewerkschaften (die ja bereits vor dem Generalstreik in den Ausstand getreten waren) höchste Wachsamkeit zu haben und darauf vorbereitet zu sein, branchenübergreifend zu kämpfen und auch über die von der Vereinigung verbreitete Erklärung der Internationalen Dockervereinigung, die von der Regierung die sofortige Aufhebung des Ausnahmezustandes einfordert – andernfalls werde man in alle Häfen sich weigern, Waren aus Chile zu entladen…

„Central Clasista de Trabajadorxs: ¡¡Basta de abusos!! ¡¡Que se vayan todos!!“ am 25. Oktober 2019 bei kaosenlared externer Link dokumentiert, ist der Aufruf der Föderation alternativer Basisgewerkschaften Chiles, die ein sofortiges Ende der Übergriffe ebenso fordert, wie dass „alle gehen“ sollen, eine Losung die seit Argentinien vor rund 20 Jahren Tradition hat und vor allem unterstreicht, dass man mit dieser Regierung nicht verhandeln will. Die CCT hat auch ihre Mitglieder dazu aufgerufen, für die Dauer des Ausnahmezustandes nicht zur Arbeit zu gehen, weil die Sicherheit des Arbeitsweges nicht garantiert sei…

Lesenswert ist auch „Sie haben uns soviel gestohlen, dass sie uns sogar unsere Angst gestohlen haben“ – Volksaufstand in Chile. Gespräch mit einem Gefährten in Chile von Sebastian Lotzer am 27.10.2019 bei non.copyriot externer Link (deutsch/english) – „Er erklärt die Herausforderungen der aktuellen sozialen Explosion, ihre Zusammensetzung, ihre Kampfmethoden und ihre Resonanz auf die parallelen Aufstände in Südamerika…“

Neu New am 28. Oktober: Die Massendemonstration von Valparaiso am Sonntag – und ihre Repression als die übliche Form von Pineras Dialog…sowie ein Beitrag über die beteiligten sozialen Schichten und politischen Strömungen

  • „„Sie haben uns soviel gestohlen, dass sie uns sogar unsere Angst gestohlen haben““ am 27. Oktober 2019 bei non.copyriot externer Link ist eine Übersetzung (von Sebastian Lotzer) eines Gesprächs, das am 21. Oktober bei „ACTA – Partisan*e*s dans la Metropole“ erschienen war. Darin antwortet der Aktivist aus Chile auf die Frage nach der Beteiligung an den Protesten: „…Wie viele zeitgenössische Aufstände ist die Bewegung interklassistisch. Sie reicht vorerst von der fortschrittlichen Mittelschicht über Arbeiter und prekäre Arbeiter, Studenten und Gymnasiasten bis hin zum Lumpenproletariat. Und es ist diese Realität, die für viele lateinamerikanische Länder typisch ist, die diese Bewegung bestimmt, sowohl in ihrer plötzlichen Ausbreitung als auch in der militärischen Unterdrückung. Die Revolte begann mit prekären Jugendlichen, Studenten und Gymnasiasten. Eine linke Mittelschicht unterstützt sie ebenso wie die eher traditionellen Militanten der Arbeiterbewegung. Das Vorhandensein oder Nichtvorhandensein von Handlungsmöglichkeit durch organisierte Arbeiter wird meiner Meinung nach entscheidend sein, um dem Versuch der Kriminalisierung und Entpolitisierung der Revolte durch die Rechte entgegenzuwirken. Der Sieg dieser bereits historischen Bewegung hängt wahrscheinlich zum Teil davon ab. Das Vorhandensein oder Fehlen anderer Kampfnetzwerke in dieser Situation wird ebenfalls entscheidend sein, ich denke insbesondere an feministische Gruppen und Mapuche-Kämpfer oder Mapuche-Unterstützer (die Mapuche sind die wichtigste indigene Gemeinschaft, die immer mit dem chilenischen Staat für die Anerkennung ihrer Rechte und gegen die Enteignung ihres Landes gekämpft hat). In dem Wissen, dass es in Arbeiterinnen- oder prekären Organisationen, im feministischen Kampf und zur Unterstützung der Mapuche oft dieselben Menschen gibt, da man zum Beispiel eine feministische Arbeiterin in Solidarität mit den Mapuche sein kann. Eine der südamerikanischen Besonderheiten ist die Existenz und zahlenmäßige Bedeutung eines “Lumpenproletariats”, wie Marx sagte, oder eines “Subproletariats”, wie Pasolini sagte, d.h. einer noch ärmeren sozialen Schicht als die Arbeiter, weil sie nicht so sehr in ein festes Lohnsystem integriert ist. Der Begriff “Lumpen” wird in Chile häufig verwendet, um sie zu bezeichnen, und ist kein Ausdruck von Marxisten allein. Er ist natürlich abwertend. Der Versuch der Rechten zu kriminalisieren, besteht darin, einen Widerspruch zwischen ehrlichen, fleißigen Bürgern einerseits und andererseits der Sabotage durch prekäre Jugendlicher, Studenten, Gymnasiasten und der Plünderung von Geschäften durch “lumpenhaften” Gesellen zu kreieren. Ich glaube, dass es dieser Widerspruch ist, auf dem die Strategie der Rechten mit der Kriminalisierung der Bewegung beruht, und die Verschärfung dieses inneren Widerspruchs der Arbeiterklasse ist der einzige Weg, wie sie sich dem Konflikt vom Hals schaffen kann Die Bedeutung dieses Themas und seine Komplexität sollten nicht unterschätzt werden…“
Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=156378
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