»
Brasilien »
» »

Nach dem Parlamentsbeschluss zur Amtsenthebung: Brasilianische Rechte geht in den USA Geschäfte machen – der Widerstand wird organisiert

antiputschplakatDie Reaktionen auf den parlamentarischen Beschluss, ein Amtsenthebungsverfahren gegen die Präsidentin Dilma Rousseff einzuleiten, hätten unterschiedlicher nicht sein können – wie es schon in den Wochen vorher, angesichts zunehmender Polarisierung gewesen war. Während die Abgeordneten der politischen Rechten, die neoliberalen Dogmatiker und evangelikalen Absahner Fahnen schwenkten, die Hymne sangen und in die USA fuhren, um die neuen Geschäfte anzubahnen – und mit ihnen sangen viele, denen das Singen vielleicht noch vergehen wird, sollte diese Camarilla tatsächlich eine stabile Regierung bilden können oder wollen – begannen soziale Bewegungen wie die Landlosen und Obdachlosen noch am selben Tag mit der Mobilsierung zum Protest, wie auch verschiedenste linke Gruppierungen und zahlreiche – längst nicht alle – Gewerkschaften. Die Materialsammlung „Reaktionen nach dem legalen Putsch in Brasilien“ vom 20. April 2016 soll einen Überblick schaffen.

„Reaktionen nach dem legalen Putsch in Brasilien“

„Rousseff verliert im Parlament, Tausende auf Demos „gegen Putsch““ von Claudia Fix am 18. April 2016 bei amerika21.de externer Link – darin heißt es unter anderem, was die aktuelle Polarisierung deutlich macht (auch wenn die Angaben der Militärpolizei mit Sicherheit Propaganda sind): „Während des gesamten gestrigen Tages sowie am Vortag fanden in mehr als 70 Städten Brasiliens Demonstrationen zugunsten und gegen die Amtsenthebung statt. In Rio de Janeiro demonstrierten am Morgen an der Strandpromenade von Copacabana unter dem Titel „Funk gegen das Impeachment“ nach Angaben der Veranstalter mehr als 50.000 Menschen. Am Nachmittag protesterten die Befürworter der Amtsenthebung an derselben Stelle. In São Paulo gingen laut der konservativen Zeitung Folha de S. Paulo rund 21.000 Menschen unter dem Motto „Es wird keinen Putsch geben“ auf die Straße, 62.000 Menschen demonstrierten gegen die Regierung. Große Demonstrationen gab es auch in Recife und Salvador da Bahia. In Salvador hatte die Landlosenbewegung MST bereits am Samstag Zelte unter dem Wahrzeichen der Stadt, dem Leuchtturm von Barra, aufgeschlagen. Laut der Gewerkschaft CUT nahmen bis zum Sonntagnachmittag 100.000 Menschen an den Protesten gegen die Amtsenthebung der Präsidentin teil, die Militärpolizei sprach von 8.000 Demonstranten. In der Hauptstadt Brasília protestierten laut Angaben der Militärpolizei 7.000 gegen das Verfahren, 18.000 demonstrierten dafür

„Brasilien: Rousseff stemmt sich gegen Amtsenthebung“ am 19. April 2016 in neues deutschland externer Link ist ein Beitrag, in dem indirekt auch deutlich wird, wohin die Koalitionsbildung der PT mit traditionellen Korruptionsparteien geführt hat: „In ihrer ersten Reaktion auf die Parlamentsabstimmung sprach Präsidentin Rousseff von einem politischen Prozess gegen sie. Zudem kritisierte sie, dass die Abstimmung von Parlamentspräsident Eduardo Cunha geleitet wurde, gegen den der Oberste Gerichtshof wegen Geldwäsche und Bestechlichkeit Anklage erhoben hat. Der Schweizer Staatsanwaltschaft zufolge soll Cunha dort rund fünf Millionen US-Dollar auf geheimen Konten bunkern. Viele der Politiker, gegen die die Staatsanwaltschaft derzeit wegen Korruption vorgeht, gehören zu den bisherigen Koalitionsparteien PMDB und PP, die Rousseff kürzlich den Rücken kehrten und nun die Amtsenthebung vorantreiben

„Crisis in Brazil“ von Perry Anderson, am 18. April 2016 bei Tlaxcala externer Link dokumentiert (ursprünglich in der London Review of Books am 8.4), ist ein ausführlicher Hintergrundartikel zur Entstehung und Entwicklung der wirtschaftlichen und politischen Krise Brasiliens (an den Daten ersichtlich: Vor der Parlamentssitzung verfasst). Er geht dabei – unter vielem anderen – darauf ein, wie sich die politische Lage verschoben hat: Dass aus der Arbeiterpartei PT (deren allererster Wahlerfolg das Bürgermeisteramt von Sao Paulo war – jüngst nach langer Zeit wieder gewonnen – und die bei der letzten Präsidentenwahl ihre 3% Vorsprung vor allem den oftmals nahe 70% liegenden Stimmanteilen in den ärmeren nordöstlichen Bundesstaaten zu verdanken hatte) eine Armenpartei geworden sei, während die konzentrierte städtische Bevölkerung des Südostens sich immer mehr abwandte.

„Party of Socialism and Freedom (Brazil) – Why we voted against the impeachment of Dilma Rousseff“ am 19. April 2016 in englischer Übersetzung bei Links externer Link ist die Stellungnahme der P-SOL zur Haltung der Partei, die im Parlament gegen das Amtsenthebungsverfahren gestimmt hat. Die Partido Socialismo e Liberdade ist eine linke Abspaltung der PT, die, unabhängig davon, wie man zu Versuchen steht „zurück auf Anfang“ zu gehen, sehr viele progressive Menschen mobilisiert. Die sechs Abgeordneten der P-SOL stimmten gegen das Amtenthebungsverfahren – obwohl sie die PT allesamt bereits 2003 verließen, als die damalige Regierung Lula die sogenannten Reform der Sozialversicherung (unter anderem Anhebung des Rentenalters) durchpeitschte – weil sie darin eine koordinierte Aktion der politischen Rechten mit den Unternehmerverbänden und den Kommerzmedien sehen, die die Partei rundweg ablehnt, auch wegen des sozialreaktionären Inhalts der gemeinsamen Plattform dieser Kräfte.

„Urgent Communiqué of Brazil’s Popular Front“ am 18. April 2016 dokumentiert bei The Dawn externer Link ist die Stellungnahme der „Volksfront“ (im wesentlichen ein Zusammenschluss zahlreicher Organisationen aus dem „Konvoi“ der PT), in der unterstrichen wird, dass jegliche Regierung, die aus diesem Putsch hervorgehe, nicht anerkannt werde und die Straßen besetzt bleiben würden und zu einer nationalen Versammlung der Arbeiterklasse am 1. Mai aufgerufen

„What is the origin of the political crisis and what we must do as movements and the working class?“ ist die Stellungnahme der MST vom April 2015 externer Link, am 19. April 2015 auf englisch, worin sowohl der Charakter des „legalen Putsches“ analysiert wird, als auch seine sozialpolitischen Ziele. Mehr denn je müssen wir für ein soziales, demokratisches Brasilien auf jede Art kämpfen“ ist die Schlussfolgerung

„Impeachment and Rural Violence: Two Faces of the Same Class Struggle“ von JP Stedile am 12. April 2016 bei den Friends of MST externer Link ist ein Artikel des Sprechers der brasilianischen Landlosenbewegung MST (ursprünglich portugiesisch bei Brasil de Fato), in dem – und das ist beispielhaft für viele Beiträge auch aus anderen sozialen und politischen Bereichen – der Zusammenhang aufgezeigt wird zwischen der Offensive der Rechten in den Institutionen und der regelrecht explodierenden Gewalt gegen AktivistInnen, hier – nahe liegender Weise  – beim Kampf um Landreform

„Brasil: Botar fogo no “engenho”!“ am 19. April 2016 bei kaosenlared dokumentiert externer Link ist die Stellungnahme der Volksbrigaden zur aktuellen Situation in Brasilien nach dem Parlamentsbeschluss. Das in sozialen Kämpfen der letzten Jahre stark angewachsene linksradikale Netzwerk ruft dazu auf, „Feuer in die Mühle“ zu machen (seit dem ersten großen Sklavenaufstand 1835 in Bahia, als dies noch wörtlich gemeint war in bezug auf die Zuckerrohr – Verarbeitung, ist das der Begriff für „jetzt geht’s los“ oder Ähnlichem). Darin wird unterstrichen, dass die Vereinigung jegliche Regierung kritisiert – aber eine jetzt, aus dem Putsch, entstehende für rundherum illegal hält. „Wir müssen noch mehr kämpfen – und noch mehr darauf gefasst sein, dabei staatlicher Gewalt zu begegnen“ ist der Tenor dieser Stellungnahme: Jede Art des Kampfes ist erlaubt, sie werden keine Ruhe finden, heißt es abschließend.

„After Vote to Remove Brazil’s President, Key Opposition Figure Holds Meetings in Washington“ von Glenn Greenwald, Andrew Fishman und David Miranda am 19. April 2016 bei The Intercept externer Link ist ein Artikel über die Reise des Herrn Bruno Araujo in die USA: Der PSDB-Abgeordnete – selbst unter Korruptionsvorwürfen stehend, die wohl zur Anklage führen werden – macht schon mal Geschäftsgespräche, die die neue Koalition PMDB/PSDB haben wollen würde – wenn es ihr denn gelänge, eine stabile Regierung zu organisieren, was zweifelhaft bleibt. In dem Artikel werden auch noch weitere „Helden des Ja“ porträtiert („So wahr mir Gott helfe, Ja“ war der Auftritt eines der Unterschlagung öffentlicher Gelder überführten Abgeordneten) – und auch die laufenden Geschäfte mit dem Putschantreiber Unternehmerverband von Sao Paulo (FIESP) angesprochen

20. April 2016, Helmut Weiss

  • Siehe vom 18.4.: Nach der Amtsenthebung Dilma Rousseffs: Wohin soll Brasilien über die „Brücke zur Zukunft“ gesteuert werden?
    Am Sonntag, 17. April hat das brasilianische Abgeordnetenhaus mit 2/3 Mehrheit für ein Verfahren zur Amtsenthebung der Präsidentin Dilma Rousseff gestimmt – die noch ausstehende Zustimmung des Senats dürfte eher Formsache sein, wenn nicht noch Unerwartetes passiert. Helmut Weiss sprach für das LabourNet Germany in der Nacht nach der Parlamentsabstimmung mit Aktivistinnen und Aktivisten diverser progressiver Gruppierungen und Organisationen darüber, was das ihrer Meinung nach für sie, ihre Arbeit und diejenigen Menschen in Brasilien, die von bescheidenen sozialdemokratischen Maßnahmen der bisherigen Regierung profitiert hatten,  bedeuten wird – oder in Zukunft bedeuten kann. Gewerkschaftliche und progressive Aktive aus verschiedenen Regionen und Bereichen geben erste Antworten auf die Frage „Wohin soll Brasilien über die Brücke zur Zukunft gesteuert werden?“
Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=96861
nach oben