Don’t mourn – organize. Oder: Was sollten Gewerkschaften für Flüchtlinge tun – und was lassen?

ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis - Nr. 614 vom 15.3.2016„… Die Frage, wie weit Flüchtlingspolitik und angrenzende gesellschaftspolitische Bereiche zur Aufgabe von Gewerkschaften gehören, wird von verschiedenen Mitgliedern verschiedener Gewerkschaften unterschiedlich beantwortet. Französische Eisenbahngewerkschafter etwa protestierten im Sommer 2015 im Örtchen Menton-Garavan an der italienischen Grenze öffentlich gegen verschärfte Polizeikontrollen in den Zügen aus Italien – damals ging es noch darum, dass Italien seinen Dublin II-Verpflichtungen nicht genügend nachkam und Flüchtlinge unter anderem nach Frankreich weiterreisen ließ. Gewerkschafter*innen hierzulande sind in Anbetracht des aktuellen Chaos ebenso ratlos und/oder engagiert wie andere Freiwillige auch – nur eben zumeist als Einzelpersonen in lokalen Bündnissen. (…) Wäre es aber vermessen, auch von Gewerkschaftsgliederungen zivilen Ungehorsam zu verlangen? (…) Wir finden, diese Fragen dürfen und sollten diskutiert werden. Für Lohnabhängige – unabhängig vom aktuellen Aufenthaltsstatus – bleibt es ohnehin konsequent, sich nicht auf Stellvertreterpolitik zu verlassen.“ Artikel von Susanne Rohland, Helmut Weiss & Mag Wompel, LabourNet Germany, für und in ak – analyse & kritik – zeitung für linke Debatte und Praxis externer Link – Nr. 614 vom 15.3.2016. Siehe zum ak 614 vom 15.3.2016 das Inhaltsverzeichnis externer Link und beachte dort – zum Hintergrund der Beiträge – das Editorial!

Don’t mourn – organize.
Oder: Was sollten Gewerkschaften für Flüchtlinge tun – und was lassen?

Seit November ist das ehemalige DGB-Haus in Göttingen besetzt: Aktivist*innen haben renoviert, die ersten Geflüchteten zogen ein, der Ort dient als Veranstaltungs- und Vernetzungslokation. Anders als bei der Besetzung des eher nicht leer stehenden DGB-Hauses in Berlin im Jahr 2014 – oder ähnlichen Versuchen in München und Freiburg – wird das Projekt bisher geduldet. Doch der niedersächsische DGB-Chef Harmut Tölle findet das falsch, „bei allem Gutmenschentum“, wie er sagte. Gutmenschen, das sind die, die seit geraumer Zeit relevante Teile von Kraft, Nerven und Zeit in die Kompensation eines zwangs-ersparten Versagens öffentlicher Infrastruktur stecken. Die Vermögens- und Treuhandgesellschaft des DGB soll (nach jahrelangem Leerstand) inzwischen an einer eigenen Konzeption zur zukünftigen Nutzung des Gebäudes arbeiten – ohne die derzeitigen Bewohner*innen. Gegen diese Planungen wie gegen die disqualifizierenden Äußerungen Tölles regt sich Protest auch aus Gewerkschaftskreisen. Die Macher*innen von #OM10 fordern dabei ein, der Protest möge sich nicht nur gegen den niedersächsischen DGB-Vorsitzenden, sondern mindestens ebenso deutlich gegen die städtische Unterbringungspolitik richten. Sie fordern damit nicht zuletzt von Gewerkschaftsseite aktive Einmischung in einen Teil der Realität bundesdeutscher Flüchtlingspolitik.

Die Frage, wie weit Flüchtlingspolitik und angrenzende gesellschaftspolitische Bereiche zur Aufgabe von Gewerkschaften gehören, wird von verschiedenen Mitgliedern verschiedener Gewerkschaften unterschiedlich beantwortet. Französische Eisenbahngewerkschafter etwa protestierten im Sommer 2015 im Örtchen Menton-Garavan an der italienischen Grenze öffentlich gegen verschärfte Polizeikontrollen in den Zügen aus Italien – damals ging es noch darum, dass Italien seinen Dublin II-Verpflichtungen nicht genügend nachkam und Flüchtlinge unter anderem nach Frankreich weiterreisen ließ. Gewerkschafter*innen hierzulande sind in Anbetracht des aktuellen Chaos ebenso ratlos und/oder engagiert wie andere Freiwillige auch – nur eben zumeist als Einzelpersonen in lokalen Bündnissen.

Fragwürdige Allianzen

Dabei haben alle DGB-Gewerkschaften in den letzten Monaten offizielle Verlautbarungen zugunsten von Flüchtlingen abgegeben. Vordergründig solidarisch, de facto immer konform mit den üblichen Interessen der Stammbelegschaften und der Standortpolitik. „Ein Scheitern von Schengen gefährdet Millionen Jobs“, lautet das neueste Motto. Nun wurde unter Beteiligung des DGB eine „Allianz für Weltoffenheit“ ins Leben gerufen – ein vergleichsweise staatstragendes Bündnis mit lauter wichtigen zivilgesellschaftlichen Akteuren, die sich mit der freundlichen Nazidemo-Sitzblockiererin von nebenan nicht ohne weiteres an einen Tisch (und schon gar nicht auf eine Straße) setzen würden. Kirchenoberhäupter etwa. Und Arbeitgeberpräsidenten – sozialpartnerschaftlich eben. Im Aufruf zur dieser „Allianz“ heißt es tatsächlich: „Auch denjenigen, die wegen wirtschaftlicher Not und Elend nach Deutschland kommen und als Ergebnis eines rechtsstaatlichen Verfahrens keine Bleibeperspektive haben und deshalb in ihre Heimat zurückkehren müssen, ist mit Empathie und Respekt zu begegnen.“ Das bedeutet, ganz unkaschiert: Abschiebungen werden stattfinden – mit Emphatie. Und für die, die bleiben dürfen, hat die Arbeitgeberseite bereits den nächsten Verbesserungsvorschlag parat: Natürlich müssen nicht alle den Mindestlohn kriegen…

Dass Gewerkschaften gegen dieses Lohndumping agieren ist logisch, wenn auch nicht selbstverständlich bei all den betrieblichen Spaltungslinien. Doch ab wann und wie weit sollten sie sich explizit für Flüchtlingsfragen zuständig fühlen, auch wenn es die Stammbelegschaften nicht betrifft?

Gesetzestreue Apparate – individuelle Solidarität

Diese Frage stellt sich nicht erst mit der aktuellen Einwanderungswelle. Besonders prominent wurde sie im Sommer 2013 mit „Lampedusa in Hamburg“ gestellt, als 300 Geflüchtete, die sich nach Dublin II gar nicht in Hamburg aufhalten durften, geschlossen bei ver.di eingetreten sind. Die Gruppe hatte Glück, an einen ver.di-Sekretär zu geraten, der einer Abmahnung und dem Druck vom Vorstand, als dieser mit den Statuten vor sich hin argumentierte. Eine grundsätzliche Regelung hinsichtlich der Mitgliedschaft von Leuten, die rechtlich gesprochen „nicht einmal arbeitslos sein können“, existiert aber bis heute nicht. Ebenso wenig wie eine Arbeitserlaubnis für die Lampedusas in Hamburg. Noch immer leben die meisten von ihnen illegal. Und diejenigen, die sich zur Beantragung einer Duldung überreden ließen, sind nun von Abschiebung bedroht. Am 15. Februar erst ist eine solche am Hamburger Flughafen verhindert worden, es waren Gewerkschaftsmitglieder dabei.

Wäre es aber vermessen, auch von Gewerkschaftsgliederungen zivilen Ungehorsam zu verlangen? Bei Hartz IV haben sie sich bislang als staats- und gesetzestreu bewiesen und z.B. ein LabourNet-Flugblatt an das gesellschaftliche Gewissen der Job Center-KollegInnen als Angriff verurteilt. Wäre es aber nicht logische Folge all der Solidaritätsbekundungen mit den Flüchtlingen, z.B. Gewerkschaftsmitglieder in den Repressionsapparaten zum Boykott von Schikanen und Abschiebungen aufzurufen?

Wir finden, diese Fragen dürfen und sollten diskutiert werden. Für Lohnabhängige – unabhängig vom aktuellen Aufenthaltsstatus – bleibt es ohnehin konsequent, sich nicht auf Stellvertreterpolitik zu verlassen.

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