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Amazon im Weihnachtsstress – Das Warenlager in Poznan

amazon zeitung polenAmazon in Sady bei Poznań hat im September 2014 den Betrieb aufgenommen. Ein paar Wochen später wurden zwei weitere Amazon-Warenlager bei Wrocław eröffnet. Das Zentrum bei Poznań ist die größte Niederlassung des Versandhandelkonzerns auf der ganzen Welt. Täglich kommen hier Millionen von Waren auf Dutzenden von LKWs v.a. aus Deutschland an, um nach dem Umpacken wieder zurück nach Deutschland an Kunden ausgeliefert zu werden. Der nachfolgende, von Amazon-Arbeiter_innen geschriebene Artikel beschreibt die Arbeitsbedingungen und die Organisierung der Belegschaft vor Weihnachten in der heißesten Jahreszeit für Amazon…“ Artikel der polnischen Basisgewerkschaft Inicjatywa Pracownicza (Arbeiterinitiative) übersetzt im März 2015


 Amazon im Weihnachtsstress

Vor Weihnachten arbeiteten bei Amazon Poznań über 3.000 Leute, von denen die meisten über die drei Leiharbeitsfirmen Manpower, Adecco und Randstad beschäftigt waren. In einigen Abteilungen arbeiteten sogar 3/4 Leiharbeiter_innen. Nur 600 Leute wurden direkt durch Amazon eingestellt: anfangs mit 3-monatigen Probearbeitsverträgen. Ob jemand bei Amazon oder bei einer Leiharbeitsfirma einen Vertrag bekam, war allein abhängig vom Datum der Bewerbung. Der Betrieb arbeitete Tag und Nacht im Zweischichtbetrieb (von 6:00 bis 16:30 und von 18:00 bis 4:30) und Viertagewoche (Sonntag bis Mittwoch oder Mittwoch bis Samstag). Die Schichten dauerten 10,5 Stunden einschließlich einer unbezahlten Pause à 30 Minuten und zwei bezahlten Pausen à 15 Minuten.

Begleitet wurde die Eröffnung der Amazon-Warenlager in Polen von einer Reihe von Zeitungsartikeln, in denen sie – auf Grundlage von Pressemeldungen, einer BBC-Reportage, Klagen von Arbeiter_innen und Berichten von Streiks bei Amazon im Ausland – als „Arbeitslager“ beschrieben wurden. In Poznań hielten sich die Arbeiter_innen mit solchen kritischen Meinungen anfangs zurück. Der Betrieb war erst im Aufbau, anfangs wurden die Normen nicht sehr restriktiv durchgesetzt und geboten wurden Arbeitsverträge, Kantinenessen für 1 Zloty, kostenlose Zubringerbusse und Löhne ein kleines bisschen über dem Mindestlohn. Viele hatten in ihren vorigen Jobs schlechtere Bedingungen.

Problem: Nicht voll ausgezahlte Löhne und unsichere Zukunft

Im Dezember drang die Unzufriedenheit der Leiharbeiter_innen bei Amazon an die Öffentlichkeit: Sie fingen an, sich wegen nicht pünktlich gezahlter Löhne, Unregelmäßigkeiten bei der Berechnung der Löhne und überfüllter Kantinen an die lokalen Medien zu wenden.

Probleme mit der Berechnung der Löhne hatten die Arbeiter_innen auch wegen des komplizierten Lohnsystems. Die Leiharbeiter_innen hatten bei der Einforderung ausstehender Löhne die zusätzliche Schwierigkeit, dass sie sich mit der Leiharbeitsfirma auseinandersetzen mussten, aber die entscheidenden Informationen zur geleisteten Arbeitszeit, zur Höhe der Anwesenheitsprämien und zur Produktivität des gesamten Betriebs bei Amazon lagen.

Ein weiteres wichtiges Problem der Leiharbeiter_innen war die unsichere Beschäftigungssituation – die Arbeitsverträge bei den Leiharbeitsfirmen hatten Laufzeiten zwischen einem und drei Monaten. Auch bei den „festen“ Amazon-Arbeiter_innen wurde Weiterbeschäftigung von Produktivitäts- und Qualitätskriterien abhängig gemacht, aber für sie sah es stabiler aus. Als im Dezember eine Betriebsgruppe der OZZ Inicjatywa Pracownicza (Gesamtpolnische Gewerkschaft Arbeiterinitiative) gegründet wurde, ging die Initiative wegen der größeren Zukunftssicherheit eben von denen aus, die schon einen unbefristeten Arbeitsvertrag hatten (feste einfache Arbeiter_innen und Teamleiter_innen der untersten Ebene). Erst später schlossen sich auch Leiharbeiter_innen an.

Erste Kündigungen

Die Stimmung in der Belegschaft verschlechterte sich in dem Moment, als der Arbeitgeber zwei Wochen vor Weihnachten fast 100 Leiharbeiter_innen kündigte. Allein in der Versandabteilung wurde damals mehreren Dutzend Leuten gekündigt, weil ihre Produktivität angeblich zu niedrig war. Die meisten erfuhren per SMS davon, dass sie am nächsten Tag nicht mehr zur Arbeit zu kommen bräuchten. Diejenigen, die die SMS nicht gelesen hatten, standen am nächsten Tag vor dem Betriebstor und wurden aggressiv vom Werkschutz empfangen. Einigen wurden sogar die Betriebsausweise vom Hals gerissen. Sie wurden ohne organisierten Transport nach Hause geschickt, nachdem einige mit dem Betriebsbus über 80 km angereist waren. Der Betrieb selbst befindet sich außerhalb der Stadt, über 10 km vom nächsten Bahnhof.

Die Entlassenen wurden bis zum Ende der Kündigungsfrist freigestellt. Auf diese Weise wurde der Betrieb die am wenigsten produktiven Arbeiter_innen los, obwohl viele die Aussagekraft der vom Computersystem generierten Daten, auf die sich die Auswahl stützte, bezweifelten. Die Auswahl wurde als ungerecht gesehen – und sei es nur, weil dabei nicht berücksichtigt wurde, dass viele Stillstände nicht durch die Arbeiter_innen verursacht worden waren.

Unverzüglich wurden neue Leute eingestellt, aber nur für das Weihnachtsgeschäft. Ein Teil von ihnen erhielt nur Werkverträge für knapp zwei Wochen. Den verbliebenen Leiharbeiter_innen wurde dadurch klar, dass sie jederzeit entlassen werden konnten, und sie bekamen Zweifel, dass Amazon sie nach dem Weihnachtsgeschäft weiter beschäftigen würde. Sie fragten ihre Teamleiter, wie die Chancen auf Weiterbeschäftigung nach Weihnachten aussähe, bekamen aber nur widersprüchliche oder nichtssagende Auskünfte.

Die neu eingestellten Arbeiter_innen kamen bei dem hohen Arbeitsaufkommen kaum hinterher, was sich deutlich auf die Qualität ihrer Arbeit auswirkte. Zum Beispiel mussten in der Versandabteilung Pakete zurückgeholt werden, weil die Packer_innen massenweise nicht die richtigen Codes gescannt hatten. Die Maschinen konnten die Sendungen nicht erkennen und den richtigen Empfängern zuordnen. Die Operatoren der Bänder mussten diese Pakete auspacken und ihren Inhalt überprüfen und anschließend neu verpacken und verschicken. Dieser Fehler trat ständig und überall auf, und bei jedem Meeting wurde bis zur Ermüdung wiederholt, welche Schritte auszuführen seien, um die Fehlerwahrscheinlichkeit zu senken. In der Warenannahme kam es zu Fehlern beim Scannen der Produkte. Entweder wurden zu viele oder zu wenige Produkte in den Wagen geworfen, was die Arbeit der nachfolgenden Abteilung erschwerte. Die in letzter Minute eingestellten Arbeiter_innen hatten auch keinen Grund, schnell zu arbeiten, denn sie waren überzeugt, dass der Betrieb sie nach Weihnachten wieder loswerden würde. Und damit sollten sie Recht behalten.

Steigende Unzufriedenheit

Gleichzeitig stieg die Unzufriedenheit der vorher eingestellten Leiharbeiter_innen und konnte auch durch kostenlose Pausensnacks (süßes Gebäck, Würstchen, Obstshakes usw.) nicht mehr eingedämmt werden. Je näher der letzte Tag des Vertrags rückte, desto unzufriedener waren die Arbeiter_innen, da sie bis zum letzten Arbeitstag nicht wussten, ob sie einen neuen Vertrag bekommen würden. Das machte sich deutlich beim sinkenden Arbeitstempo bemerkbar. Immer lieber hielten sie mal ein Schwätzchen oder setzten sich ostentativ auf Metalltischen, umgekippten Boxen oder Wagen hin, ohne auf die Ermahnungen der Vorgesetzten zu hören. Viele von ihnen sagten, „sie würden sich mehr anstrengen, wenn sie wüssten, dass ihr Arbeitsvertrag verlängert wird“. Einige bewarben sich bei anderen Firmen. Viele machten sich Hoffnung auf einen Job im gerade nebenan eröffneten Warenlager von Intermarché, wo der Stundenlohn um 4 Zloty höher sein sollte. Bei Amazon beträgt der Stundenlohn für Festangestellte wie für Leiharbeiter_innen knapp 10 Zloty netto, d.h. 13 Zloty brutto. Die Arbeitslosigkeit in der Wojewodschaft Großpolen [mit der Hauptstadt Poznań] betrug im Dezember 7,8 Prozent, d.h. 3,8 Prozentpunkte weniger als im polnischen Durchschnitt.

In der kritischen Woche vor Weihnachten wurde die tägliche Arbeitszeit im Versand von 10,5 auf 11,5 Stunden verlängert. In letzter Minute wurde versucht, Wettbewerbe um die höchste Produktivität zu veranstalten. Die Sieger sollten 200 Zloty bekommen. Das wurde schon am nächsten Tag wieder aufgegeben, weil diese Wettbewerbe nicht auf allzu großes Interesse stießen. Die Arbeiter_innen waren müde, viele von ihnen arbeiteten zu dieser Zeit schon das zweite Mal in 6-Tage-Woche, und die vielen Fehler und Stillstände in vorgelagerten Etappen des Arbeitsprozesses verlangsamten die Arbeit.

Am letzten Tag vor dem Auslaufen der Verträge der ersten großen Gruppe von Leiharbeiter_innen – am 27. Dezember – wurden zwei Listen von Arbeiter_innen verlesen: Die Leute von der ersten Liste bekamen eine Vertragsverlängerung bis zum 7. Februar. Viele hatten aber erwartet, dass sie von Amazon übernommen werden würden, und so weigerten sich einige, den neuen Vertrag zu unterschreiben. Die Arbeiter_innen von der zweiten Liste mussten bis zum Schichtende in Ungewissheit abwarten, um dann zu erfahren, dass ihre Verträge wegen der Produktivität und Qualität ihrer Arbeit nicht verlängert würden.

Rekorde für nichts. Was tun?

Obwohl Amazon in Sady im Dezember mehrere Weltrekorde brach (z.B. in Millionen pro Woche versandter Pakete) oder die Firma das zumindest behauptete, erfuhren die Arbeiter_innen im Februar 2015, ihre Produktivität sei zu niedrig und deshalb hätten sie die versprochene 8-prozentige Prämie nicht verdient. Viele dieser Rekorde waren wegen der Leiharbeiter_innen möglich gewesen, die nicht mehr in der Firma waren.

Die Arbeiter_innen begreifen, dass Amazon nicht ohne weiteres damit aufhören wird, für die saisonalen Spitzen im Weihnachtsgeschäft Leute über Subunternehmer einzustellen. Massenhafte kurzfristige Einstellungen in neuralgischen Moment senken aber die Verhandlungsmacht der festen Belegscahaft. Wie einer der Arbeiter aus der Gewerkschafsgruppe sagt: „Wir sehen keinen anderen Weg, als die Saisonarbeiter dazu ermuntern, in die Gewerkschaft einzutreten, damit wir in Spitzenzeiten gemeinsame Forderungen aufstellen können. Die Spaltung in Leiharbeiter und direkt eingestellte Arbeiter bedeutet, dass die ersteren nicht gewerkschaftlich organisiert sind und gegen die letzteren ausgespielt werden können. So ist es leider meistens, und wir verlieren dabei alle. Deshalb tun wir alles, um diese Spaltung zu überwinden.“

Das ist gar nicht so einfach in Bezug auf den rechtlichen Rahmen, in dem sich eine Gewerkschaft bewegt (Gewerkschaftsgesetz). Das Gewerkschaftsgesetz sieht nämlich nicht vor, dass jemand längere Zeit über kurzfristige Verträge beschäftigt ist. So jemanden schützt es eigentlich gar nicht. In dieser Situation ist die Verweigerung der Arbeit zweifellos ein Instrument in den Händen der Leiharbeiter_innen, denn niemand kann einer Arbeiter_in verbieten, die Arbeit zu hinzuschmeißen. Die Fluktuation ist hoch und wird hoch bleiben, besonders wenn es andere Betriebe gibt, in denen besser bezahlt wird. Die Gewerkschafter_innen dürfen das nicht vergessen. Der oben zitierte Arbeiter sagt weiter: „Wir denken, dass die Gewerkschaft eine gute Ergänzung für diese Form von Widerstand sein kann. Wir kämpfen im Betrieb für unsere Interessen, aber letztenendes sind wir auch Vertragspartei, und wir können immer entweder bleiben und streiken oder im für den Arbeitgeber kritischsten Moment kündigen.“

Spaltungen und Herausforderungen

Seit Januar 2015 ist die Beschäftigtenzahl bei Amazon Poznań auf unter 2.000 gesunken. Etwa 100 sind der Gewerkschaft beigetreten. Sie wollen im Rahmen der Gewerkschaft Unregelmäßigkeiten aufklären und um bessere Bedingungen kämpfen. Sie weisen darauf hin, dass die Probleme wie unvollständig und unpünktlich ausbezahlte Löhne, zu komplizierte Lohnsysteme, zu niedrige Stundenlöhne, zu hohe Normen, unsichere Beschäftigung und komplizierte und unverständliche Prämiensysteme nach wie vor bestehen.

Um eine Chance zu haben, ihre Forderungen durchzusetzen, müssen die Arbeiter_innen Begrenzungen überwinden, die ihnen eine gemeinsame Organisierung erschweren. Dazu gehört z.B. die Spaltung in Versand und Warenannahme. Die Arbeiter_innen treffen sich in den Pausen nicht, genau genommen kennen sie sich überhaupt nicht. Die Arbeit in diesen beiden Abteilungen unterscheidet sich. Wenn in einer Abteilung wenig Arbeit ist, kann es in der anderen ganz anders aussehen.

Die Spaltung zwischen direkt Eingestellten und Leiharbeiter_innen wurde schon beschrieben. Weiter gibt es eine Spaltung zwischen Tag- und Nachtschichten. Die Arbeiter_innen aus der Tagschicht treffen die Arbeiter_innen aus der Nachtschicht nicht, da zwischen den Schichten eine halbe Stunde Pause liegt.

Schließlich gibt es einen Unterschied zwischen Leuten aus Poznań und Leuten, die mit dem Bus aus bis zu 100 km voneinander entfernten Ortschaften zur Arbeit kommen. Einige von ihnen verbringen insgesamt über 4 Stunden täglich auf dem Arbeitsweg. Morgens verbringen die Arbeiter_innen die Zeit im Bus meist schlafend, und abends sind sie zu müde, um miteinander zu reden. Unter diesen Bedingungen ist es schwierig, Treffen für alle außerhalb des Arbeitsplatzes zu organisieren. Wir hoffen, dass die Gewerkschaft dazu beiträgt, diese Spaltungen zu überwinden.

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=78589
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