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Putsch in Bolivien: Nicht wegen Morales Irrungen und Wirrungen, sondern gegen die Errungenschaften seiner Regierungszeit

COB Demonstration gegen Schliessung eines staatlichen textilbetriebs, La Paz am 20.6.2016Nach dem Meutern der Polizei hatte der Generalstab der Armee noch „eins draufgesetzt“ und den Rücktritt des Präsidenten verlangt „um die Stabilität und Frieden im Land zu gewährleisten“ – und dasselbe hatte auch der Gewerkschaftsbund COB getan, bis zu diesem Tag konsequenter Verbündeter der regierenden MAS. Evo Morales Angebot, Neuwahlen abzuhalten kam zu spät, um diesen Gang der Dinge noch aufzuhalten. Auch wer nicht in Protesten gegen (wie auch immer) linke Regierungen automatisch die Rechte am Werk sieht, kann den Charakter dieser Entwicklung leicht nachvollziehen, betrachtet man das Personal, das nun das Heft des Handelns in der Hand zu haben scheint. Wenn ein politischer Zombie wie Carlos Mesa (rechter Ex-Präsident) nun wieder zum Wortführer wird, dann ist dies ein Putsch von Rechts – begünstigt durch die Anwandlungen von Schwäche (wenn man keinen anderen Kandidaten hat und deswegen die Verfassung ändern muss und damit Widerstand hervorruft) und Konsequenzen einer Politik wachsender „Massenferne“, die unter anderem auch die sogenannten Mittelklassen erweitert hat, die nun gegen das System rebellierten, dem sie ihre Existenz verdanken. Dass die Aktionen zur Verteidigung der Regierung Morales vor allem an Orten wie El Alto organisiert wurden, ist ein deutlicher Hinweis darauf, dass es viele Menschen gibt, die die sozialen Errungenschaften des letzten Jahrzehnts verteidigen wollen – und der reale und angedrohte Terror gegen solche Aktivitäten wiederum ein Hinweis auf die vollzogene rechtsradikale Dominanz in der Protestbewegung ist. Zur Entwicklung in Bolivien fünf aktuelle Beiträge:

  • „Evo Morales tritt in Bolivien nach Ankündigung von Neuwahlen zurück“ am 10. November 2019 bei amerika21.de externer Link zur konkreten Entwicklung der Ereignisse unter anderem: „… Acht Stunden nach der Ankündigung von Neuwahlen ist Evo Morales als Staatspräsident von Bolivien zurückgetreten. Der Präsident erklärte seinen Rücktritt, nachdem immer mehr Gouverneure, Bürgermeister, Abgeordnete und Senatoren seiner Partei im ganzen Land ihre Posten niedergelegt hatten. Kurz zuvor hatte das Militär Morales zum Rücktritt aufgefordert. Der Oppositionspolitiker Luis Camacho forderte außerdem, dass nun eine Regierungsjunta gebildet werden müsse. Morales begründete seine Entscheidung, „damit [die Anführer der Opposition Carlos] Mesa und Camacho nicht weiter die Häuser unseres Volkes niederbrennen, damit sie nicht weiterhin den einfachen Menschen schaden. Ich trete zurück, damit unsere Brüder in politischen Posten nicht weiter verfolgt werden. Ich bedaure diesen Putsch sehr. Ich möchte euch sagen, Brüder und Schwestern, der Kampf endet hier nicht. Wir werden diesen Kampf für Gleichberechtigung im Frieden fortsetzen.“ (…) Am Freitag und Samstag war bereits aus mehreren Städten wie La Paz, Cochabamba, Oruro, Sucre und Santa Cruz gemeldet worden, dass sich Polizisten auf die Seite oppositioneller Proteste gestellt hätten. Außerdem attackierten und besetzten Protestierende unter dem Einsatz von Gewalt staatliche Medieneinrichtungen, wie mehrere internationale Medien unabhängig berichteten. Die noch amtierende Gesundheitsministerin, Gabriela Montaño, schrieb über den Kurznachrichtendienst Twitter, Oppositionsanhänger seien in Häuser von Mitgliedern des Regierungsbündnisses MAS eingedrungen, hätten Gewalt gegen Familienangehörige angewandt, Feuer gelegt und die Politiker zum Rücktritt aufgefordert…“
  • „Nach der Wahl in Bolivien“ von Thomas Guthmann am 10. November 2019 beim NPLA externer Link zur Gesamtsituation nach den Wahlen und der keineswegs nur rechten Kritik an Morales: „… „Ich habe dreimal Evo Morales gewählt“, erklärte mir eine Bekannte kurz nach der Wahl in einem mondänen Café im reichen Süden von La Paz und seufzte: „Dieses Mal ging es wirklich nicht mehr, aber Carlos Mesa konnte man eigentlich auch nicht wählen“. Das Statement bringt das ganze Dilemma derjenigen zum Ausdruck, die in der Präsidentschaftswahl gerne Kandidat*innen gesehen hätten, die sich mit Vorschlägen einbringen, wie sie das Land gestalten wollten. Stattdessen wurde seit Anfang des Jahres in Bolivien vor allem darüber gestritten, wer ein legitimer Kandidat für die Wahlen sei. Dabei lastete Evo Morales ganz klar der Makel an, dass er in einem Referendum 2016 kein Mandat für eine weitere Wiederwahl erhalten hatte. Eine knappe Mehrheit stimmte damals gegen eine Verfassungsänderung. Damit blieb die Amtszeit eines Präsidenten oder eine Präsidentin auf zwei direkte Wahlperioden beschränkt. Auf der anderen Seite warf die regierende MAS, die Bewegung zum Sozialismus, Carlos Mesa vor, ein Kandidat der Vergangenheit zu sein. Dieser war bereits unter Sánchez de Lozada Vizepräsident. Nachdem dieser 2003 wegen anhaltender Unruhen  fluchtartig das Land verlassen musste, war Mesa Präsident bis 2005. (…) Anfang November ist das Bild ein anderes. Das Land erlebt heftige Auseinandersetzungen und es ist alles andere als sicher, ob Morales auch die nächsten fünf Jahre an der Macht bleibt. Im Moment zählen Experten*innen der OAS die Stimmen aufgrund der Wahlbetrugsvorwürfe erneut aus. Das Ergebnis wird in den kommenden Tagen erwartet*. Die Opposition hat jedoch bereits angekündigt, dass sie das Ergebnis nur dann anerkennt, wenn die OAS einen Wahlbetrug feststellt und die Wahl annulliert. Zudem werden seit einigen Tagen die Stimmen immer lauter, die einen sofortigen Rücktritt von Evo Morales fordern. Das zeigt, dass in der Opposition immer mehr radikale Kräfte die Oberhand gewinnen. Inzwischen hat Fernando Camacho, Vorsitzender des Bürgerkomitees von Santa Cruz, den Präsidentschaftskandidaten Carlos Mesa als Oppositionsführer in der öffentlichen Erscheinung abgelöst. Der frühere Vorsitzende der Jugendvereinigung Santa Cruz (Unión Juvenil Cruceñista), einer paramilitärisch organisierten ultrarechten Gruppe, die zu Beginn der Regierung von Morales mit rassistischen Aktionen gegen Indígenas auf sich aufmerksam machte, redet bei den Versammlungen gerne mit der Bibel in der Hand. Er hat inzwischen offen zum Sturz der Regierung aufgerufen und gebärdet sich als bolivianischer Guiadó. Im Gegensatz zu Mesa kann Camacho jedoch noch weniger im Hochland punkten, damit hat sich die Spaltung auch regional verfestigt. Die MAS schart derweil ihre Anhänger*innen um sich. Das sind vor allem die sozialen Organisationen, die seit Jahren im Bündnis mit der Regierung stehen, wie die Frauenorganisation Bartolina Sisa, die nationale Koordination für den Wandel (CONALCAM) oder den Gewerkschaftsverband COB. Das Problem dabei: die Politik der vergangenen Jahre und die Strategie der Spaltung hat die Loyalitätsverhältnisse innerhalb der Gewerkschaft zur MAS ausgehölt. Ein Resultat ist, dass der Gewerkschaftsverband COB in seiner Position gespalten ist. Während die nationale Führung hinter Morales steht, haben sich einige regionale Verbände der Opposition angeschlossen…“
  • „Evo Morales verliert den Machtkampf in Bolivien“ am 10. November 2019 bei der Deutschen Welle externer Link betätigt sich als Sender der keineswegs neutralen OAS: „… Ich verzichte auf mein Präsidentenamt“, sagte Morales am Sonntag im Fernsehen. Sein Rücktrittsschreiben habe er dem Parlament geschickt. „Unser großer Wunsch ist es, dass der soziale Frieden wiederkehrt.“ Boliviens Vizepräsident Álvaro García Linera trat ebenso zurück wie auch mehrere Kabinettsminister sowie der Präsident der Abgeordnetenkammer, Víctor Borda, und die Chefin des Wahltribunals, María Choque Quispe. Kurz zuvor hatte der linke Staatschef noch Neuwahlen versprochen. Die Armee- und Polizeiführung versagte ihm jedoch die Unterstützung. Der Oberbefehlshaber der Streitkräfte, Williams Kaliman, und Polizeichef Vladimir Calderón Mariscal waren unabhängig voneinander vor die Kameras getreten und hatten Morales im Sinne des Friedens zum Rücktritt aufgefordert. Die Generalstaatsanwaltschaft kündigte Ermittlungen gegen Mitglieder des Wahltribunals wegen Unregelmäßigkeiten bei der Wahl vom Oktober an. Der mexikanische Außenminister Marcelo Ebrard sagte, sein Land werde Morales Asyl anbieten, wenn er es suche. Der erste indigene Präsident Boliviens war in den vergangenen drei Wochen stark unter Zugzwang geraten. Die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) hatte Neuwahlen in Bolivien empfohlen, weil sie bei der vorangegangenen Abstimmung, wie es hieß, ernste Unregelmäßigkeiten festgestellt hatte. Die OAS sprach von schwerwiegender Manipulierung der Computersysteme, weshalb die Wahl annulliert werden und es zu Neuwahlen kommen müsse...“
  • „COB: “Si es por el bien del país, que renuncie nuestro Presidente”“ am 10. November 2019 bei Erbol externer Link dokumentiert, ist die Stellungnahme des Gewerkschaftsbundes COB, in der Evo Morales faktisch zum Rücktritt aufgefordert wird, „wenn es zum guten des Landes ist“. Bis zu diesem Zeitpunkt war die Mehrheitsfraktion im COB eine der wesentlichen Strömungen, die die Regierung der MAS unterstützte. (Der Beitrag enthält auch ein Video mit dieser Erklärung, in der diese Stellungnahme damit begründet wird, man werde sich auf keine Weise an einem möglichen Blutvergießen beteiligen).
Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=157125
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